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      Kapitel 1

      Warum es für die Arbeit an der Sexhotline von Vorteil ist, wenn man schon einmal mit einem Blinden im Kino war

      »Weil ich sowieso gerne telefoniere! Mit einigen Freundinnen sogar stundenlang. Und dann kann ich doch damit auch gleich Geld verdienen, dachte ich.«

      Die bezopfte Studentin namens Linda strahlte mich an, während ich mit aller Kraft meine Augäpfel kontrollierte, damit sie nicht wild in den Höhlen rollten.

      Ein paar Sekunden zuvor hatte ich den vier hoffnungsvollen Aspirantinnen die Frage gestellt, warum sie sich für einen Job in unserem Callcenter beworben hatten. Na ja, in Dennis Kargers Callcenter, um genau zu sein. Seiner Sexhotline, um ganz genau zu sein.

      Ich wage hier mal die dreiste Behauptung, dass diese Antwort bei neunzig Prozent aller Bewerbungsgespräche für Callcenterjobs gegeben wird. Ich telefoniere sowieso gerne bedeutet allerdings in hundert Prozent der Fälle, zu Hause gemütlich in einem Sessel oder auf dem Sofa zu lümmeln, vielleicht eine Tüte Chips auf dem Schoß und ein Glas Wein in der Hand – und dann durchzukakeln, was gerade so anliegt.

      In einem Callcenter zu telefonieren ist ein ganz anderer Schnack: Man sitzt auf einem Schreibtischstuhl, trägt ein Headset und bekommt einen Anruf nach dem anderen.

      Noch mal: einen Anruf nach dem anderen.

      Acht Stunden lang.

      Von Leuten, die etwas von einem wollen.

      Von Leuten, die man sich nicht selbst als Gesprächspartner aussucht. Das ist harte Arbeit – und dabei ist es erst einmal schnuppe, ob es um Termine des Heizungsablesers, eine Hotline für Kühlschränke oder eben um Dennis Kargers Unternehmen geht, das zufälligerweise sexuelle Dienstleistungen anbietet.

      Ich telefoniere sowieso gerne reichte da als Qualifikation bei Weitem nicht aus – aber es war immerhin ein Anfang.

      Diese Antwort ließ ich erst einmal unkommentiert im Raum stehen, zumal die anderen drei Mädels eifrig nickten. Aha, die telefonierten also auch gerne. Super.

      »Und dass es sich um eine Sexhotline handelt, ist für euch okay?«, fragte ich weiter. »Es ist wirklich etwas anderes, als für einen dieser Homeshopping-Sender Bestellungen für hübsche Porzellanfigürchen anzunehmen …«

      Wangen färbten sich rosig, schelmische Blicke gingen hin und her, vierstimmiges Kichern erklang.

      Lasst mich raten, Mädels, dachte ich, ihr habt gerne Sex, stimmt’s? Und zwar mit coolen Jungs, bevorzugt denen mit den momentan so angesagten Hipsterbärten, die ihr nachts in einer coolen Location kennenlernt.

      Ich seufzte innerlich.

      »Ihr müsst euch darüber klar sein, dass ihr euch an der Hotline euren Partner nicht aussuchen könnt«, sagte ich. »Und auch nicht, was ihr mit ihm macht. Der Kunde entscheidet, was passiert. Wenn er möchte, dass ihr ihn als tollen Macker anhimmelt und ihm vor lauter Bewunderung die Hose runterreißt, dann ist das so, auch wenn ihr es blöd findet. Das darf er keinesfalls merken.«

      Hihihihihihi.

      »Vielleicht habt ihr schon irgendwann einmal einen Orgasmus vorgetäuscht, ohne dass euer Partner es gemerkt hat«, fuhr ich fort, »das macht ihr dann acht Stunden lang täglich. Oder vier, wenn ihr halbtags arbeiten wollt. Je nachdem.«

      Das Hihihihihi wurde leiser und erstarb schließlich ganz.

      »Sag mal, willst du uns den Job vermiesen?«, fragte Linda.

      Ich schüttelte den Kopf. »Ist nicht meine Absicht. Aber ihr müsst wissen, worauf ihr euch einlasst. Ihr verdient hier deutlich mehr als in«, mit den Fingern zeichnete ich Anführungsstriche in die Luft, »normalen Callcentern, deshalb wollt ihr ja auch hier anheuern und nicht woanders. Aber das Geld ist hart verdient. Mit der Zeit werdet ihr Routine bekommen, ganz sicher. Allerdings hatte ich auch immer wieder Kolleginnen, die den Job auf Dauer nicht geschafft haben.«

      »Woran lag das?«, fragte eine kecke Blondine, die sich als Babsi vorgestellt hatte.

      Ich zuckte mit den Schultern. »Ganz unterschiedlich. Der Partner kam damit nicht klar. Oder das Mädel hat es mit der Distanz zum Job nicht hingekriegt.«

      »Distanz?« Linda flüsterte fast. »Wie ist das gemeint?«

      »Ganz einfach«, erwiderte ich. »Wir verkaufen etwas. Wie Jeans oder Wurst oder Tulpen. Nur mit etwas mehr Interaktion mit dem Kunden. Wir bewerten nicht, was der Kunde möchte, wie absurd uns seine Fantasie auch immer erscheinen mag. Unsere persönliche Meinung dazu ist vollkommen irrelevant. Er möchte ein hartgesottener Cop sein und ihr sollt eine Ladendiebin mimen? Er ist der Manager und ihr die Sekretärin? Oder er ist der Filmstar und ihr der Fan, der zu allem bereit ist? Bitte sehr.«

      »Das kommt vor?«, fragte Babsi grinsend.

      Ich nickte. »Das und noch viel mehr. Lastwagenfahrer und Anhalterinnen, zufällige Begegnungen im Aufzug, vielleicht sollt ihr putzen …«

      »Putzen?«, kreischten die Mädels im Chor.

      Ich erzählte vom erstaunlichen Erfolg der putzenden Hausfrau Uschi, die im kurzen Nylonkittel mit nichts drunter ihre anrufenden Fans beglückte, wenn sie unter dem Sofa nach Staubmäusen suchte und dabei den Hintern hochreckte.

      Meine Zuhörerinnen wollten sich schier nicht mehr einkriegen. Uschi, die putzende Hausfrau, also wirklich …

      »Ihr seht also«, fügte ich hinzu, »der Fantasie der Männer sind keine Grenzen gesetzt. Und ihr spielt die jeweilige Rolle. Ihr müsst den Film kreieren, der vor ihren Augen abläuft. Mit euren Worten. Das ist unsere Kunst.«

      Sie wollten ein Beispiel, also bemühte ich Uschi noch einmal.

      »Also, ihr seid jetzt die Uschi und sollt putzen. Im minikurzen Kittelchen. Entweder, ihr seid darunter von Beginn an nackt, oder ihr tragt ein Höschen, das ihr euch aber rasch auszieht, weil das Putzen euch ins Schwitzen bringt. Wenn ihr die Fenster wienert, müsst ihr euch recken – und der Kittel rutscht hoch. Und – oje, der Nachbar von gegenüber sieht euch zu, und ihr seid ganz verschämt. Ihr bekleckert euch mit Wasser, und der Kittel klebt an euch, sodass man alles sieht, auch das noch! Was soll der Nachbar von euch denken? Und so weiter und so weiter. Vergesst nicht: Das alles müsst ihr dem Kunden erzählen. Wart ihr schon mal mit einem Blinden im Kino und musstet alles beschreiben, was auf der Leinwand passierte?«

      Sie mussten heimlich Synchron-Kopfschütteln trainiert haben, anders konnte ich mir die nun demonstrierte Performance nicht erklären.

      Ich verkniff mir ein Grinsen und fügte hinzu: »So müsst ihr euch das vorstellen. Ihr beschreibt, was passiert, und konzentriert euch dabei aufs Wesentliche. Ob der Himmel blau oder bewölkt ist, interessiert kein Schwein. Sehr wohl von Interesse für den Anrufer kann allerdings sein, ob ihr im richtigen Moment einen Schweißtropfen zwischen eure Brüste rinnen lasst. Ihr müsst den Film in seinem Kopf entstehen lassen, durch eure Worte. Versteht ihr?«

      Ich sah sie nacheinander an, und sie nickten. Nicht ganz so synchron, wie sie gerade noch die Köpfe geschüttelt hatten, aber sie waren auf einem guten Weg.

      »So, und jetzt gibt es zwei Möglichkeiten«, fuhr ich fort. »Der Anrufer wird zum Voyeur von gegenüber, und es macht euch natürlich total heiß, dass ihr beobachtet werdet. So heiß, dass ihr euch unbedingt Erleichterung verschaffen müsst. Am Fenster, versteht sich. Möglichkeit zwei: Der Anrufer ist bei euch im Raum und will, dass der Voyeur dabei zusieht, was ihr miteinander treibt.«

      »Oder er will gar keinen Voyeur, weil er mich für sich allein haben will«, schlug Linda vor.

      »Du hast das Prinzip verstanden, Linda.« Ich grinste anerkennend, und sie freute sich.

      Wenn ich eine Prognose abgeben müsste: Linda und Babsi würden es zumindest versuchen. Aber die beiden anderen, die während der ganzen Zeit nur zugehört hatten – mit wachsendem Unbehagen, aber das nur nebenbei –, die hatten sich den Job wesentlich romantischer vorgestellt. Oder

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