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      Das Frühstück am nächsten Morgen schmeckt ausnahmsweise sehr gut. Es ist bestimmt die Vorfreude, die meine Geschmacksnerven verändert. Danach renne ich zwischen Fenster und Tür zum Flur hin und her. Sehnsüchtig warte ich auf den Wagen, der mich nach Hause bringen wird. Ungeduldig sehe ich nach draußen, ob der Fahrer endlich kommt. Da, er schlendert gemütlich über den Krankenhausflur. Freudig schnappe ich meine Tasche und stürme ihm entgegen. „Da scheint es ja einer sehr eilig zu haben!“, erklingt seine tiefe, mit herzhaftem Lachen vermischte Stimme. Eilig verlassen wir das Krankenhaus und fahren nach Hause.

      Zurück im Heim werde ich von der Oberin in Empfang genommen. Sie begrüßt mich und freut sich sehr, dass ich nach den vielen Wochen im Krankenhaus wieder zurück bin. Dann darf ich in meine Gruppe gehen. Was bin ich froh, wieder zu Hause zu sein!

      Am nächsten Morgen setzt sich die Oberin zu mir an den Frühstückstisch. Das ist ungewöhnlich und erweckt umgehend meinen Argwohn. Das Frühstück endet, ohne dass sie etwas sagt oder tut. Wir Kinder dürfen den Speisesaal verlassen. Die Meute rennt los. Auch ich springe auf, doch da bremst die Oberin mich: „Harald, ich muss mit dir sprechen.“ Neugierig sehe ich ihr ins Gesicht. „Wenn ein Kind Gelbsucht hatte“, fährt sie fort, „muss es nach der Zeit im Krankenhaus noch eine Kur machen. Du wirst nächste Woche nach Bad Orb gebracht. Es ist für dich zum Guten. Du sollst dich noch einige Wochen von der schweren Erkrankung erholen.“ Erschrocken schaue ich sie an. Nur zu gut erinnere ich mich an die Langeweile im Krankenhaus. Soll ich das jetzt noch einmal mitmachen? Ein flaues Gefühl im Magen breitet sich in mir aus. Die folgenden Tage liege ich häufig in meiner Bettburg. Ich will nicht schon wieder weg von meinem Zuhause!

      Der Montag kommt schneller als erhofft. „Harald, es ist jetzt so weit!“, ertönt Schwester Julias Stimme. „Heute fährst du nach Bad Orb.“ Blitzschnell überlege ich, wo ich mich verstecken kann. Doch Schwester Julia lässt mich nicht aus den Augen. Sie folgt mir in mein Zimmer und hilft beim Einpacken meiner Sachen. Ich bin traurig. Warum darf ich nicht hierbleiben? Ich kann doch zu Hause gesund werden! Warum immer ich? Als wir vor das Haus treten, wartet bereits der Fahrer, der mich zur Kur bringen wird. Ich ergebe mich in mein Schicksal.

      Schweigsam hänge ich meinen Gedanken nach, während wir durch die Landschaft fahren. Was wird mich in der Kur erwarten? Was machen die da mit mir? Wann darf ich wieder nach Hause?

      Der Fahrer parkt das Auto vor einem großen Haus: Wir sind angekommen. Schweigend, mit zitternden Knien, steige ich aus und folge brav dem Fahrer. Eine freundliche Frau kommt auf mich zu: „Du bist bestimmt der Harald!“, lacht sie mich an und reicht mir die Hand. Schon wieder ein fremder Mensch, der mich scheinbar kennt! Dennoch bin ich etwas erleichtert, dass sie mich so freundlich empfängt. Die Frau nimmt mich an die Hand. Brav gehe ich mit ihr in das große Haus. „Wie soll ich mich denn hier bloß zurechtfinden?“, stöhne ich auf. Sie spricht mir Mut zu, aber ich fühle mich nicht ermutigt. Das Haus ist so riesig! Es hat viele Türen und mehrere Etagen. Ich bin verwirrt und kann mir gar nicht merken, wo wir überall langgehen.

      Wir steigen eine Etage höher. Vor einer Tür bleibt sie stehen und lässt meine Hand endlich los. „Dieses Zimmer wird für die nächsten Wochen dein Zuhause sein!“, erklärt sie mir aufmunternd. Dann zieht sie einen Schlüssel hervor, schließt auf und ermutigt mich, einzutreten. Neugierig sehe ich mir mein Zimmer an: Es ist recht gemütlich eingerichtet. Mal sehen, wie die Aussicht aus meinem Fenster ist. Ich gehe flott zum Fenster und bin überwältigt: Von meinem Zimmer aus kann ich in einen großen Park schauen. Riesige Bäume stehen darin, und eine herrliche Blumenpracht ist zu sehen. Ich habe das Gefühl, den Duft der Blumen bis hier oben im Zimmer riechen zu können.

      Frau Lehmann, so heißt die Dame, hilft mir beim Einrichten meiner neuen Bleibe. Anschließend führt sie mich durch das Haus. Dabei erklärt sie mir, wo was zu finden ist. Besonders die Bücherei erweckt meine Neugierde. Freude kommt auf. Ich glaube, ich werde hier eine gute Zeit zusammen mit Winnetou und Old Shatterhand erleben. Meine Begleiterin schmunzelt: „Du wirst sicherlich genügend Zeit zum Lesen haben!“, zwinkert sie mir zu. „Doch jetzt stelle ich dich erst einmal dem Doktor vor.“ Wir laufen wieder durch Gänge und bleiben vor einer Tür stehen. Frau Lehmann klopft an. Eine Stimme ruft: „Herein!“ Ich werde ins Arztzimmer geschoben. „Guten Morgen, Doktor Mira! Ich bringe Ihnen unseren jungen Patienten.“ Doktor Mira steht etwas ungelenk von seinem Stuhl auf. Der ist irgendwie witzig! Er schaukelt auf mich zu: „Herzlich willkommen in Bad Orb!“, begrüßt er mich und streckt mir seine große Hand entgegen.

      Unsicher reiche ich ihm meine kleine Hand. „Du bist Harald, stimmt's?“ Ich nicke schüchtern. Seine schaukelnden Bewegungen sind lustig. Er tapst zur Liege, die an der Wand des Raumes steht. „Komm her zu mir! Ich werde dich untersuchen. Dann schaue ich nach, welche Medikamente du erst einmal weiter nehmen solltest. Du warst ja sehr krank. Jetzt sollst du dich hier bei uns erholen und neue Kräfte sammeln.“ Ich sehe mir den Doktor etwas genauer an: Er macht einen ganz vertrauenswürdigen Eindruck. Geduldig lasse ich mich untersuchen. Mit einem Zettel in der Hand, auf dem er die Medikamente notiert hat, darf ich den Raum wieder in Begleitung von Frau Lehmann verlassen. „Achten Sie bitte darauf, dass Harald regelmäßig die Medizin bekommt und auch einnimmt!“, erschallt die Stimme des Doktors hinter uns her. Ich drehe mich zu ihm um. Ein schmunzelnder Doktor sieht mich an. Er scheint zu ahnen, dass ich nicht der bravste Medikamentenschlucker bin.

      Frau Lehmann bringt mich wieder zu meinem Zimmer. Bis zum Essen habe ich frei. Den Weg zur Bücherei habe ich mir einigermaßen eingeprägt. Ich werde mir ein Buch holen. Schon so lange habe ich davon geträumt, endlich Karl May-Bücher lesen zu können. Jetzt ist eine große Sammlung an Büchern für mich verfügbar. Krank sein hat manchmal auch Vorteile. Mit Old Shatterhand, Winnetou und Kara Ben Nemsi tauche ich in die Welt von Karl May ein. Zum Abendbrot muss ich persönlich abgeholt werden, da ich in fernen Landen unterwegs bin. Doch Essen ist immer wichtig: Man weiß ja nie, wann es nichts mehr gibt. Dafür lasse ich das Buch los. Noch in Gedanken springe ich auf und renne fast die Pflegerin über den Haufen. Sie nimmt es mit Humor: „Du bist ja ein ungestümer Geselle!“, lacht sie, nimmt mich an die Hand und bringt mich zum Speisesaal. Neugierig halte ich nach anderen Kindern Ausschau. Pustekuchen! Ich bin scheinbar das einzige Kind hier!

      Mit mulmigem Gefühl in der Magengegend würge ich eine Kleinigkeit in mich hinein. Was soll ich bloß die ganze Zeit hier machen, stöhne ich innerlich. Gut, dass es genügend Bücher gibt!

      Im Laufe der nächsten zwei Wochen verschlinge ich ein Buch nach dem anderen. Erst alle Karl May-Bücher, dann andere Romane und verschiedene Sachbücher. Ich lese Tag und Nacht. Nachts heimlich mit meiner Taschenlampe, die ich zum Glück mitgenommen habe. Leider sind die Batterien schnell leer, und ich habe keinen Nachschub. Wenn ich nicht lese, dann spiele ich Gesellschaftsspiele. Es ist zwar langweilig, alleine gegen sich selbst zu spielen, aber immer noch interessanter, als noch gelangweilter nichts zu tun.

      Nach einer Woche darf ich das erste Mal an die frische Luft in den Park. Ich soll mich noch schonen, meint der Doktor. Doch wer mich kennt, weiß, dass ich solche Anweisungen geflissentlich überhöre. In Begleitung und an der Hand festgehalten darf ich den Park besichtigen. Jeglicher Trieb loszurennen wird unterbunden. Im Park riecht es herrlich! Die Blumen duften, und die frische Luft tut gut. Es ist fast wie neues Leben für mich! Jeden Tag darf ich nun für einige Minuten in den Park. Den restlichen Tag verbringe ich in meinem Zimmer und beschäftige mich mit mir selbst.

      Die Erlösung kommt, als Doktor Mira mir eines Tages eröffnet, dass ich wieder ins Heim zurückgebracht werde. Die Zeit in Bad Orb ist um. Ich habe es überlebt! Langeweile, ade! Bücher, ade! Doch ihr werdet mir in guter Erinnerung bleiben. Zurück im Heim nimmt mich die Oberin in Empfang: „Harald, wie schön, dass du wieder bei uns bist! Ich habe gute Nachrichten für dich: Gestern war ich in deiner Schule. Der Rektor, deine Klassenlehrerin und ich haben beschlossen, dass du in diesem Jahr versetzt wirst, obwohl du so lange nicht am Unterricht teilnehmen konntest. Doch du musst mir versprechen, dass du dir im neuen Schuljahr besondere Mühe in der Schule gibst!“ Treuherzig sehe ich die Oberin an und schwöre ihr, mir alle Mühe zu geben. Zufrieden lachend dreht sie sich um und verschwindet in Richtung Küche.

       Eine Perspektive

      Im neuen Schuljahr

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