Скачать книгу

versuche ich, mich so klein wie möglich zu machen, so dass sie mich nicht so heftig treffen können.

      „Was seid ihr doch für Feiglinge!“, schreit ein Mädchen, das eilig auf die wilde Meute zurennt. Sie reißt Matthias zurück, der gerade zu einem erneuten Tritt ausholt. „So viele gegen einen! Das ist nicht gerade mutig!“, brüllt sie. Matthias, der deutlich größer ist als sie, baut sich provozierend vor ihr auf. Doch da erscheinen die Klassenkameraden des Mädchens. Sie sind deutlich in der Überzahl. Fluchtartig rennen meine Angreifer weg. Auch Matthias gibt kleinlaut auf und verzieht sich.

      Meine Retter ziehen mich auf die Füße. Ich bedanke mich bei ihnen und renne, so schnell ich kann, zum Heim zurück. Mit mir rennt meine Angst. Ist die Meute noch hinter mir? Werden sie mir womöglich woanders auflauern? Panisch rennend suche ich ständig die Gegend ab, um vorbereitet zu sein.

      Zum Glück erreiche ich unbehelligt das Heim. Schnurstracks gehe ich in mein Zimmer und klettere in meine Bettburg. Die Angst sitzt mir den ganzen Tag im Nacken. Ich lasse alle Mahlzeiten aus, bleibe grübelnd im Bett liegen, bis abends das Licht ausgeschaltet wird. Es scheint niemanden zu kümmern, dass ich nicht auftauche. In der Nacht träume ich schreckliche Szenen und werfe mich unruhig hin und her. Ein lauter Aufschlag weckt mich. Sofort spüre ich heftige Schmerzen im Mund.

      Was ist passiert? Wo bin ich? Nach und nach begreife ich, dass ich aus dem Hochbett gestürzt bin. Der Schmerz im Mund ist schrecklich. Vorsichtig fühle ich an meinen Zähnen. Keiner meiner Zimmerkollegen ist erwacht. Ich rappele mich auf und laufe erschrocken auf den Flur. Ich brauche Hilfe!

      Suchend laufe ich die Gänge entlang, bis Frau Burkhardt, die heute Nachtdienst im Heim hat, mich findet: „Ach du liebe Güte! Was hast du denn gemacht?“ Eilig wischt sie mir das Blut ab. Dann sieht sie nach meinen Zähnen: „Oh weh, das sieht nicht gut aus! Wir müssen sofort zum Zahnarzt.“ Es läuft wie ein Film an mir vorbei. Die Schmerzen sind extrem. Ich bekomme mit, wie man mich in ein Auto legt. Mit einem Tuch soll ich das Blut wegwischen, während man mich zur Zahnarztpraxis fährt.

      Dort angekommen erwartet mich ein unfreundlicher Arzt. Er befiehlt mir, den Mund zu öffnen, was mir irgendwie auch gelingt. Doch mein Mund muss noch weiter geöffnet werden. Das kann ich nicht: Es tut zu weh! Schon packen die Hände des Arztes zu und ziehen mir den Kiefer auseinander. Es tut so schrecklich weh! Ich höre, wie er sagt, dass die Schneidezähne gezogen werden müssen. Dann stutzt er. Nachdenklich sieht er mich an. Er wirkt plötzlich freundlicher: „Sag mal, Junge, was ist denn mit deinen Zähnen passiert? Hattest du mal einen Unfall?“ Ich kann mich an keinen Unfall erinnern. „Nein“, sage ich leise.

      „Aber mein Stiefvater hat mir mit einem Kochlöffel meine Schneidezähne abgeschlagen.“ Der Doktor und meine Begleiterin sind entsetzt. „Wie grausam kann doch ein Mensch sein!“ Schweigen erfüllt den Raum, während der Zahnarzt mit meinen Zähnen beschäftigt ist. Er wirkt traurig: „Ach, Junge, wäre man mit dir rechtzeitig zum Zahnarzt gegangen, hätten wir deine Zähne vermutlich jetzt nicht ziehen müssen. Doch sie sind so verdorben, dass ich keine andere Wahl habe.“

      Eine halbe Ewigkeit lang versucht er, meine Zähne zu ziehen. Immer wieder stöhnt er auf: „Puh…die sitzen aber ganz schön fest!“ Die Schmerzen merke ich kaum. Ich bin anderweitig beschäftigt: Was werden die Klassenkameraden sagen, wenn ich mit einer riesigen Zahnlücke ankomme?

      Als der Zahnarzt fertig ist, betrachte ich mich in einem Spiegel. Zu meinem Entsetzen ist die Lücke noch größer, als ich sie mir vorgestellt hatte. Mich schaudert es. Die Schmerzen, die plötzlich doch mit aller Wucht für mich wieder fühlbar werden, lenken mich von meinen Gedanken ab. Die Erzieherin wird noch mit Anweisungen ausgestattet. Dann geht es zurück zum Heim. Immer noch unter Schock stehend klettere ich widerspruchslos in mein Bett, aus dem ich vor einigen Stunden herausgefallen bin. Ich will jetzt niemanden sehen oder sprechen. Zusammengekrümmt vor Schmerzen ziehe ich die Bettdecke über meinen Kopf. Irgendwann übermannt mich der Schlaf.

      Am Morgen, meine Zimmergenossen sind schon zur Schule gegangen, öffnet sich die Zimmertür. Fräulein Martin sieht nach mir: „Na, wie geht es dir, Harald?“ Brummig gebe ich zur Antwort, dass es mir beschissen geht und ich meine Ruhe haben will. Fräulein Martin dreht sich um. An der Tür schaut sie nochmals zu mir: „Ich kann dich verstehen!“, säuselt sie und lässt mich alleine. In die Bettdecke eingehüllt hänge ich meinen zahlreichen Gedanken nach. Was muss ich denn noch alles ertragen? Ich mag nicht mehr!

      Lautes Rufen weckt mich. Ich muss wohl eingeschlafen sein. Die Jungs aus meinem Zimmer stehen vor mir. „Harald, zeig mal deine Zahnlücke!“, werde ich aufgefordert. „Ihr könnt mich alle mal… ! Lasst mich einfach in Ruhe!“, brumme ich. Demonstrativ drehe ich mich Richtung Wand. Einige Minuten hänseln sie mich weiter, dann gehen sie wieder. Mein Bett ist meine sichere Burg. Den ganzen Tag komme ich nicht hervor.

       In Bedrängnis

      Drei Tage darf ich im Heim bleiben. Doch dann beginnt für mich wieder der Alltag. Bei dem Gedanken an die Schule vergeht mir wieder einmal der Appetit. Innerlich gerate ich schon bei dem Gedanken an die Begegnung mit der Meute in Panik. Mir ist völlig klar, dass sie wieder über mich herfallen werden. Doch ich bin gezwungen, zur Schule zu gehen. Ich habe ja keine andere Wahl. Zögernd setze ich mich in Bewegung, verstecke mich wieder, bis die Glocke läutet, und schleiche als Letzter mit zusammengepressten Lippen in meine Klasse. „Harald! Da bist du ja wieder!“, werde ich freundlich von Herrn Maier begrüßt. „Du hast ja einiges hinter dir, habe ich gehört. Setz dich einfach und komm erst mal an!“ Erleichtert lasse ich mich auf meinen Stuhl fallen. Für diesen Moment bin ich gerettet.

      Als die Glocke zur Pause ruft, stürmen alle nach draußen, nur ich nicht. Ich bleibe auf meinem Platz sitzen. Herr Maier schaut mich besorgt an und kommt zu mir: „Na, Harald, warum gehst du nicht mit den anderen nach draußen?“ Leise kommt aus mir heraus: „Die verhauen mich doch sowieso nur.“ Er zieht einen Stuhl heran und setzt sich zu mir. Schweigend sieht er mich an.

      Es tut mir gut, dass er mich nicht einfach nach draußen schickt. Ich fasse Vertrauen: „Ich soll gestohlen haben, behaupten Matthias und die anderen. Dabei habe ich noch nie etwas gestohlen. Aber sie glauben mir nicht. Für sie bin ich das Heimkind, das sowieso stiehlt.“ Das erste Mal, seitdem ich in Espelkamp angekommen bin, schießen mir Tränen in die Augen. Das ist mir peinlich. Verstohlen wische ich sie ab. Herr Maier versichert mir, dass er sich der Sache annehmen wird, und ermutigt mich, doch noch in die Pause zu gehen. Gemeinsam gehen wir nach unten.

      Während ich den Pausenhof betrete, geht Herr Maier zum Aufsicht führenden Lehrer und informiert ihn. Ängstlich stelle ich mich in eine Ecke des Hofes. In dieser Pause passiert nichts.

      Auch in den nächsten Pausen bleibt alles ruhig. Sobald ich bedrängt werde, mischt sich ein Lehrer ein. Doch der Weg von der Schule zum Heim wird zum Spießrutenlauf. Die Jungs haben mich abgefangen, hänseln und bedrängen mich. Es geht alles blitzschnell: Auf einen inneren Gedankenimpuls hin werfe ich meinen Tornister ab, den sie bereits gepackt haben.

      Lauf, Harald, du bist schnell! Ohne weiter nachzudenken, renne ich los. Bis die Meute begriffen hat, dass sie nur den Tornister in den Händen hält, habe ich schon eine große Distanz zu ihnen gewonnen. Von wütenden Drohungen begleitet renne ich um mein Leben und mache mich aus dem Staub.

      Japsend rase ich zum Heim, wo ich der Heimleiterin in die Arme renne. Diese bemerkt sofort, dass mein Tornister nicht auf meinen Schultern ist. Völlig außer Atem erkläre ich, was passiert ist. Verwundert über meine Geschichte sieht sie mich an: „Morgen gehen wir gemeinsam zur Schule und klären das.“ Schon ist sie weg.

      Doch am nächsten Morgen erscheint sie nicht, sondern Fräulein Rohrmann wird abkommandiert zu klären, was an meiner Geschichte dran ist.

      Wir gehen schnurstracks zum Rektor, der sich meine Geschichte anhört. Die Jungs werden ins Büro zitiert. Matthias marschiert vorne weg. Er strahlt über das ganze Gesicht und tut so, als ob er die Unschuld vom Lande sei. Der Rektor sieht alle an: „Warum lasst ihr Harald nicht in Ruhe?“, fragt er mit strenger Stimme. Matthias bläht sich auf: „Aber wir machen doch gar nichts! Harald ist derjenige, der immer wieder Streit sucht.“ Die anderen Jungs bestätigen seine

Скачать книгу