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einmal glaubt man mir nicht! Wie ungerecht ist diese Welt! Ich werde keinem mehr vertrauen, egal, wie nett er ist! Am besten ist es sowieso, immer alleine zu bleiben. Von diesem Tag an bin ich ein Einzelgänger, der niemandem mehr vertraut und kaum ein Wort redet.

      Als ich nach der Schule zum Heim zurückkehre, werde ich sofort zur Heimleiterin zitiert: „Ich habe gehört, dass du ziemlich streitsüchtig bist!“, mault sie mich an. „Das lasse ich nicht durchgehen. Du hast zwei Wochen Hausarrest. Nur, um in die Schule zu gehen, wirst du das Heim verlassen. Jetzt geh auf dein Zimmer!“ Wortlos drehe ich mich um und gehe. Im Zimmer angekommen krieche ich in meine Bettburg. Grüblerische Gedanken schwirren durch meinen Kopf.

      Erwachsene sind schrecklich! Sie glauben einem nicht. Die stecken doch alle unter einer Decke! Ich werde abhauen. Hierbleiben bringt ja sowieso nichts. Die Welt ist so was von ungerecht!

      Statt am nächsten Morgen zur Schule zu gehen, verkrieche ich mich in meinem Versteck im Wald. Erst der Hunger treibt mich wieder ins Heim zurück. Ärger erwartend schleiche ich mich durch das Haus. Doch heute schimpft niemand mit mir.

      In den nächsten Wochen schwänze ich immer öfter den Unterricht. Bin ich mal in der Schule, kommt es ständig zu Konflikten. Immer werde ich als Schuldiger ausgemacht. Einige Male nehmen Matthias und seine Clique mich in die Mangel. Die Schuld wird immer mir in die Schuhe geschoben. Die Lehrer glauben ihnen mehr als mir.

      Auch im Heim wird es immer schwieriger für mich. Ich habe den Eindruck, dass außer Fräulein Martin mir sowieso niemand glaubt. Mein innerlicher Frustpegel steigt immer weiter an. Die Höhle im Wald wird zu einem oft besuchten Rückzugsort. Ermahnungen der Lehrer und Erzieher prallen inzwischen an mir ab: Was soll ich mir noch Mühe geben, wenn mir sowieso niemand glaubt? Lasst mich doch alle in Ruhe!

       Pastor Müller

      „Du bist also der Harald!“ Vor mir steht ein großer Mann, den ich bisher noch nicht im Heim gesehen habe. „Guten Tag, Harald. Ich bin Pastor Müller“, stellt er sich mir vor. „Ich würde gerne mal mit dir sprechen.“ Misstrauisch beäuge ich ihn.

      „Lass uns in die Kirche gehen. Dort können wir uns in Ruhe unterhalten.“ Pastor Müller dreht sich um und geht voraus. Verwundert sehe ich ihm hinterher. Er schleift mich nicht mit. Was soll ich tun? Abhauen oder ihm folgen? Er scheint anders zu sein als die Menschen, die ich bisher hier in Espelkamp getroffen habe. Ausgenommen davon ist nur Fräulein Martin. Ich entscheide mich, ihm zu folgen, weil er mir die Wahl gelassen und mich nicht gezwungen hat.

      Zögerlich betrete ich die Kirche. Eine Stille empfängt mich, die ich schon lange nicht mehr erlebt habe. Die Stille ist sehr angenehm. Langsam bewege ich mich auf Pastor Müller zu, der inzwischen auf einer der Kirchenbänke sitzt. Mit einem Blick deutet er mir an, dass ich mich auch setzen soll. Schweigend betrachtet er mich lange: „Hast du eine Idee, weshalb ich mit dir sprechen möchte?“ Trotzig platze ich heraus: „Sie wollen mir sicher auch ein schlechtes Gewissen machen, wie all die anderen!“ Er sieht mich sichtlich irritiert an: „Ich habe gehört, dass du in der Schule fast immer Streit anzettelst, wenn du überhaupt mal zur Schule gehst. Und im Heim werden sie auch nicht mit dir fertig.“

      Wieder lässt er sich lange Zeit. Mit verschränkten Armen sitze ich auf der Bank, innerlich zum Sprung bereit, um aus der Kirche zu flüchten. „Ich möchte dir helfen, Harald!“ Der ist doch genau so ein Betrüger und Lügner wie die anderen! „Dann wären sie aber der Einzige!“ Voller Zorn blicke ich ihn an.

      Pastor Müller fragt mich, wie denn meine Sicht der Dinge ist. Na, die kann er erfahren! Meine Worte überschlagen sich. Je mehr ich berichte, um so heftiger schüttelt er den Kopf: „Das ist ja kaum zu glauben, Harald!“ Pastor Müller verspricht mir, sich für mich einzusetzen. Meine Güte, wie oft habe ich diesen Spruch schon gehört! Und hat sich etwas geändert? Nein! Es ist immer schlimmer für mich geworden! Das Gespräch ist abrupt für mich beendet. Ich springe auf und verlasse die Kirche. Mit mir nicht mehr!

      Einige Tage später werde ich angewiesen, zur Kirche zu gehen. Pastor Müller würde auf mich warten, erklärt mir die Erzieherin. Brav betrete ich den Gottesdienstraum. Auf mich wartend sitzt er in der zweiten Bankreihe. Ich schlurfe zu ihm und lasse mich auf eine Kirchenbank fallen, innerlich zum Absprung bereit.

      Pastor Müller betrachtet mich freundlich: „Wie ist es dir ergangen, seit wir uns getroffen haben?“ Ich ziehe gelangweilt meine Schultern hoch. „So, wie immer!“, antworte ich kurz angebunden. „Ich habe gehört, dass du in dieser Woche die Schule nicht ein Mal von innen gesehen hast. Wenn du nicht zur Schule gehst, wirst du keinen Schulabschluss machen können, und ohne Abschlusszeugnis wird es auch nichts mit einer Lehre werden. Willst du das?“

      Will er mich jetzt unter Druck setzen? „Würden Sie gerne in die Schule gehen, wenn Sie immer nur verprügelt werden und man Lügen über Sie erzählt?“ Ich richte mich grimmig, zum Angriff bereit, auf und sehe ihn herausfordernd an. Er geht gar nicht weiter darauf ein.

      Stille kehrt ein. „Sag einmal, Harald: Glaubst du an Gott?“, unterbricht Pastor Müller die Stille. Das war keine gute Frage. Spontan platzt es aus mir heraus: „Nein, ich glaube nicht an einen Gott. Selbst, wenn es einen Gott geben sollte, sind wir Menschen ihm scheißegal. Der schaut doch nur zu, wie mir Unrecht geschieht. Aber er hilft nicht, dass das Unrecht aufhört!“ Vor meinem inneren Auge laufen Filmszenen ab, was ich alles durchgemacht habe: „Ich kann mit Ihrem Gott nichts anfangen.“

      Einen kurzen Moment denke ich an die Schwestern im Kinderheim von Bottrop. Sie haben mir immer wieder von Gott erzählt, dem sie sich ganz hingegeben hatten und dienten. Bei ihnen war es auch ganz anders als hier. Sie waren liebevoll und hatten Verständnis. Bei ihnen wäre so etwas wie hier niemals geschehen. Damals habe ich auch noch an einen liebevollen und helfenden Gott geglaubt, aber jetzt nicht mehr.

      Pastor Müller sieht mich mit festem Blick an: „Doch, Harald, Gott gibt es und er sieht alles, was du tust!“ Will der Pfaffe mir jetzt Angst machen? Bin ich für Gott jetzt auch noch der Sündenbock? Resigniert schweige ich. Was soll ich auch dazu sagen?

      In den folgenden Wochen lädt Pastor Müller mich immer wieder zum Gespräch ein. Jedes Mal dreht es sich darum, dass mein Verhalten nicht in

      Ordnung ist und ich für meine Taten vor Gott Rechenschaft ablegen muss. Ich antworte nur noch kurz angebunden, meistens nur mit „Ja“ und „Nein“ oder mit Schweigen. Dieser Blödmann hat keine Ahnung, was ich alles erlebt habe! Es kümmert ihn auch nicht wirklich. Hoffentlich lässt er mich bald in Ruhe!

      Die weiteren Treffen verlaufen einseitig. Inzwischen antworte ich gar nicht mehr. Der Pastor versucht mal mit Freundlichkeit zu mir durchzudringen, dann wieder mit Strenge. Alles prallt an mir ab. Nach einiger Zeit lädt er mich nicht mehr zu sich in die Kirche ein.

      Im Heim lassen sie mich auch in Ruhe. Die Heimleiterin verhängt noch einige Male Hausarrest. Doch das ist nur halb so schlimm: Man kann ja auch aus dem Fenster flüchten. Ich komme gut alleine zurecht. Immer ernsthafter überlege ich, ob es nicht Zeit wird, abzuhauen und mich alleine durchs Leben zu schlagen.

      Sie haben mir doch alles genommen! Was soll ich mir noch Mühe geben? Alleine zu leben wäre doch allemal besser, als immer wieder Ungerechtigkeiten erleben zu müssen. Ich fühle mich innerlich zerrissen. Am liebsten würde ich einfach nur schreien. Warum ist das Leben nur so ungerecht?

      Sehnsüchtig denke ich an an meine Freunde in Bottrop, an die lieben Schwestern dort und an Tina, mir der ich einen tollen Sommer verbringen durfte, zurück. Tränen laufen mir die Wange herunter. Tina war der einzige Mensch, der mich wirklich verstanden hat. Mit ihr konnte ich lachen und weinen. Sie schaffte es immer, den Schmerz für mich leichter zu machen. Jetzt könnte ich sie so gut gebrauchen! Aber ich muss ganz alleine mit meinem Schmerz fertig werden.

      Manchmal nimmt Fräulein Martin mich mit in ihr Zimmer. Sie versucht, mir zu helfen, mit mir im Gespräch zu bleiben und mich zu trösten. Sie ist der einzige Mensch, dem ich noch etwas Vertrauen entgegenbringe, denn mit ihr habe ich nur gute Erfahrungen gesammelt. Sie ist der einzige Lichtblick in einer kalten und ungerechten Welt.

      Конец

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