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Im Dezember wirst du 14 Jahre alt. Es wird Zeit, sich über eine Lehre Gedanken zu machen.“ Verwirrt schaue ich sie an. Die Oberin schlägt mir vor, darüber nachzudenken, was ich gerne lernen möchte. Ich weiß doch gar nicht, was ich werden will! Während meiner Lehre, so verspricht sie mir, kann ich weiter im Heim leben. Das erleichtert mich sehr. Ich hatte schon Angst, dass sie mich jetzt wegschicken würde. Die Schwestern hier sind sehr nett, und ich habe gute Beziehungen zu ihnen. Hier fühle ich mich sicher und auch verstanden. Wenn ich weggehen müsste, wäre das schrecklich für mich. Die Art und Weise, wie die Erwachsenen hier miteinander umgehen, tut mir gut. So will ich auch werden! Und eine solche Ausstrahlung will ich auch mal haben. Hier habe ich die schrecklichen Zeiten in meiner Familie vergessen können. Wenn ich demnächst eine Lehre beginne, wird das sicherlich ein schönes Abenteuer für mich. Nur, was soll ich denn lernen?

       Das kann doch nicht wahr sein!

      Einige Wochen später werde ich wieder in das Büro der Oberin gerufen. Schon an ihrem Gesichtsausdruck sehe ich, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sie ringt nach Worten und ist den Tränen nahe: „Harald, ich muss dir eine schlimme Nachricht überbringen. Das Jugendamt hat mir mitgeteilt, dass du in zwei

      Tagen in ein anderes Heim verlegt wirst.“ Ich starre sie sprachlos an. Tausende Gedanken toben mir durch den Kopf. Wortlos verlasse ich das Büro. Das ist nicht wahr! Geschockt laufe ich zu meinen Rollschuhen, schnappe sie mir und renne los. Die Schwestern hatten wohl schon geahnt, dass ich so reagieren würde. Mit vereinten Kräften versuchen sie, mich aufzuhalten. Doch ich bin innerlich ein Riese mit Bärenkräften! Ich stoße sie alle zur Seite. Tränenüberströmt renne ich aus dem Haus, ziehe mir hastig meine Rollschuhe an und sause davon. Egal, wohin! Nur weit, weit weg! Etliche Stunden, ohne müde zu werden, fahre ich durch die Gegend. Ich will nur noch ganz weit weg von diesem ganzen Unrecht!

      Am Abend werde ich von zwei Polizeibeamten aufgehalten. Sie wissen, dass ich ein Entflohener aus dem Heim bin. Die Beamten wollen mich wieder zurückbringen. Doch der Riese mit den Bärenkräften in mir ist stärker als sie. Sie können mich nicht festhalten. So schnell ich kann, laufe ich mit meinen Rollschuhen wieder los. Die Polizisten verfolgen mich mit ihrem Auto. Immer wieder kann ich ihnen entwischen, da ich Strecken wähle, auf denen sie mir mit ihrem Auto nicht folgen können. Inzwischen sind noch mehr Polizisten hinter mir her. Einige Male versuchen Beamte, zu Fuß hinter mir herzulaufen, um mich ergreifen zu können. Ich entwische ihnen immer wieder. Als geübter Rollschuhfahrer bin ich sehr wendig und schnell.

      Doch meine Heimflucht hat ein jähes Ende. Die Polizisten bilden einen Kreis und ziehen ihn immer enger. Ich kann nicht mehr entwischen. Als sie mich ergreifen, tobe ich wie ein Wilder und versuche immer wieder, mich mit all meinen Bärenkräften loszureißen. „Was ist denn mit diesem Jungen los? So einen wilden Burschen habe ich ja noch nie erlebt!“, ruft ein Polizist. Ich werde zurück ins Kinderheim gebracht, unter besondere Bewachung gestellt und am nächsten Tag in ein Heim nach Espelkamp gebracht.

      In mir ist etwas zerbrochen!

      Kapitel 4

       Hin- und hergeschoben

      Immer noch unter Schock betrachte ich die Häuser des neuen Heims. Hier ist alles viel größer als in Bottrop. Einladend sieht das nicht aus! Mich schüttelt es. In diesen hässlichen Gemäuern soll ich nun leben?

      Meine Gedanken werden jäh unterbrochen. Mein Taxifahrer ergreift mich an meinem Arm und zieht mich in Richtung eines der Gebäude. Die Eingangstür öffnet sich knarrend. Weiter geht es durch einen Flur hindurch, bis wir das Büro der Heimleiterin erreichen. Nach kurzem Klopfen ertönt eine Stimme: „Herein!“ Wir betreten einen kleinen Raum. Hinter ihrem Schreibtisch sitzend mustert mich eine Frau: „Ach, du bist der Neue aus Bottrop. Wie heißt du noch?“ Verlegen, den Fußboden anstarrend, flüstere ich leise: „Harald.“

      Nun folgen viele Fragen, die sie mir in einem sehr herrischen Ton stellt, was meine Schüchternheit ansteigen lässt. Tapfer beantworte ich jede Frage, in der Hoffnung, es bald hinter mir zu haben. Zum Schluss befiehlt sie einer jungen Frau, die inzwischen das Büro betreten hat, mich zu meiner neuen Wohngruppe zu bringen.

      Lustlos schlendere ich hinter der Frau her. Sie ist eine Praktikantin, erklärt sie mir fröhlich. Hilde Martin heißt sie. „Wenn du Fragen hast oder etwas brauchst, kannst du mich gerne ansprechen!“, bietet sie mir an. Höflich bedanke ich mich bei ihr. Doch in mir schreit alles: „Weg hier! Egal, wohin! Nur weg hier!“

      In der Gruppe angekommen stellt sie mich den anderen Kindern vor. Fräulein Martin scheint sehr beliebt zu sein, denn sie wird herzlich und sehr freudig von den Kindern begrüßt. Ich stehe beobachtend am Rand des Geschehens. Fräulein Martin wird von den Kindern bestürmt, und alle reden gleichzeitig auf sie ein. Freundlich und geduldig geht sie auf jedes Kind ein. Langsam lässt meine Angst vor dem neuen Heim nach. Vielleicht ist es ja doch nicht so schlecht, wie ich dachte. Fräulein Martins Art erinnert mich an die Schwestern aus dem Kinderheim.

      Nach einigen Minuten löst sie sich von den Kindern: „Harald, nun zeige ich dir dein Zimmer.“ Wir betreten einen langen Flur, an dem viele Zimmertüren liegen. An einer bleiben wir stehen. Als sie die Tür öffnet und mich in den Raum schiebt, trifft mich der Schlag: Zwei Stockbetten in einem extrem kleinen Raum! Hier schlafen vier Jungen in einem Zimmer! Schockiert sehe ich zu Fräulein Martin, die fröhlich auf das Bett an der Tür zeigt. „Das obere ist noch frei. Das kannst du beziehen.“ Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich sie an: „Das darf doch nicht wahr sein!“ Innerlich fröstelt es mich. In Bottrop hatte ich mein eigenes Zimmer. Jetzt muss ich in einem Vierbettzimmer leben und dann auch noch im oberen Bett schlafen. Innerlich schreit es wieder laut: „Das halte ich nicht lange aus, bei der ersten Gelegenheit werde ich abhauen!“

      Fräulein Martin scheint meine Entrüstung nicht zu bemerken. Sie bittet mich, meine Wäsche in den für mich vorgesehenen Schrank zu legen. Dann überlässt sie mich meinem Schicksal und geht fröhlich von dannen.

      Unruhig erledige ich brav die Aufgabe. Wie kann ich hier raus? Das halte ich nicht aus! Ich muss weg hier! Sobald ich fertig bin, verlasse ich das Zimmer. Nur schnell weg hier! Eilig laufe ich aus dem Haus und erkunde das Umfeld des Heims, um einen Unterschlupf für mich zu suchen. Innerlich tobt eine Diskussion: Soll ich sofort abhauen oder auf eine bessere Gelegenheit warten?

      Die innere Seite „Warten“ siegt schließlich. Widerwillig kehre ich zum Haus zurück, öffne die Eingangstür und schleiche mich auf mein Zimmer. Hoffentlich spricht mich niemand an! Lasst mich bloß alle in Ruhe! Innerlich geladen erklimme ich mein neues Bett. Der Schock in mir sitzt tief. Warum? Warum haben die mich hierhin geschickt? Was habe ich bloß falsch gemacht, dass sie mich hierhin abgeschoben haben? Grübelnd krieche ich immer tiefer unter meine Bettdecke.

      Eine schrille Glocke reißt mich aus meiner Grübelei, oder war es Schlaf? Egal, es ist Abendbrotzeit. Soll ich liegen bleiben? Aber man weiß ja nie, wann es wieder nichts zu essen gibt. Mies gelaunt klettere ich aus dem Bett und suche den Speisesaal.

      Dort angekommen stellt mich eine Erzieherin den anderen Kindern vor. Dann weist sie mir einen Platz zu, an dem einige Jungs sitzen. Diese machen sich gierig über das Essen her, während ich appetitlos vor meinem vollen Teller sitze. Ich bringe keinen Bissen rein.

      Nach dem Abendbrot dürfen wir uns frei bewegen. Die meisten Kinder laufen nach draußen. Ich schlurfe ins Zimmer zurück, um in dem Buch weiterzulesen, welches ich aus Bottrop mitgebracht habe. Während der ersten Zeilen ist es auch schon wieder vorbei mit meiner Ruhe. Meine Zimmergenossen stürzen laut lärmend herein. Wir machen uns kurz miteinander bekannt: Hans schläft unter mir, erfahre ich. Er kommt aus Krefeld. Ihm gegenüber schläft Johannes, der aus Mülheim hierhin gekommen ist. Mir gegenüber im oberen Bett schläft Markus aus Bielefeld.

      Wir unterhalten uns eine Zeit lang. Dann ertönt das Kommando, dass wir uns bettfertig zu machen haben. Die Jungs zeigen mir den Waschraum. Die sind ja ganz nett, meint eine innere Stimme in mir. Na ja, warten wir mal ab, wie es sich entwickeln wird! Im Bett zurück schnappe ich mir erneut mein Buch. Doch meine drei Zimmergenossen sind ganz anders drauf als ich.

      Eine halbe Stunde lang erzählen sie sich Witze und schütteln sich vor Lachen.

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