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Wo warst du bloß die ganze Zeit? Wir hätten jetzt nicht mehr lange gewartet. Dann hätten wir die Polizei verständigt und dich suchen lassen.“ Patzig schmeiße ich ihnen ein „Mir doch egal!“ hin und gehe in mein Zimmer. Tief unter der Bettdecke vergraben weine ich die ganze Nacht hindurch um meine Tina.

      Wochenlang trauere ich um sie. Mal mache ich mir Sorgen, wie es ihr jetzt wohl geht, mal stelle ich mir vor, wie es ist, wenn sie zurückkehrt. Anfangs laufe ich noch in der Hoffnung, dass die Mutter sie doch schnell wieder loswerden will, zu Tinas Gruppe. Manchmal sitze ich in unserem Schuppen oder auf unserem Lieblingsplatz im Wald und weine. Ich gehe zur Schule, aber eigentlich bin ich gar nicht anwesend. Selbst in der Schule passiert es mir, dass ich weine. Der Schmerz über den Verlust tut einfach nur weh. Nachmittags drehe ich alleine mit den Rollschuhen weite Runden. Das Rollschuhfahren hilft mir, abzuschalten.

      Einige Wochen später soll am Abend ein Lagerfeuer hinter dem Heim abgebrannt werden. Wir Kinder werden aufgefordert, trockenes Holz aus dem Wald zu holen. Ach, wie schön war es doch immer, mit Tina in den Wald zu stürmen und Holz zu sammeln! Lagerfeuer ist so romantisch! Wie oft haben wir zusammen gesessen und es genossen, mit all den anderen Kindern gemeinsam Lieder zu singen. Das war immer eine ganz besondere Atmosphäre. Doch diesmal, ohne meine Tina, ist es schrecklich für mich. Ich fühle mich so verlassen! Traurig sitze ich am Lagerfeuer und denke nur an sie. Eine Mitarbeiterin nimmt ihre Gitarre zur Hand. Es werden Lieder angestimmt. Das holt mich aus meiner Lethargie. Voller Inbrunst singt die ganze Kinderschar die Lieder mit. Beim Klang der Lieder läuft mir ein Schauer nach dem anderen über den Rücken. Für einen kurzen Moment empfinde ich das Leben als schön.

      Die Oberin erlaubt mir einige Tage später, dass ich mir eine Hütte im Wald bauen darf. Ich werkele und zimmere drauflos. Die Arbeit macht mir Spaß und lenkt mich ab. Als ich mit meinem Werk fertig bin, betrachte ich das Ergebnis: Meine Hütte sieht etwas schief aus. Doch ich bin richtig stolz auf mich, den Handwerker Harald!

       Meine Versetzung ist gefährdet

      Zur Schule gehen macht mir keinen Spaß. Ich mühe mich in den meisten Fächern sehr ab. Die Noten bestätigen das Abmühen. Es ist die Zeit der blauen Briefe, und mir schwant, dass ich nicht versetzt werde. Die Aufforderung, zur Oberin zu gehen, lässt mich nichts Gutes ahnen.

      Sie sitzt an ihrem Schreibtisch. Vor ihr liegt ein Schreiben: „Harald, ich muss ein ernstes Wort mit dir reden. Deine Versetzung ist gefährdet. Du musst dir mehr Mühe geben!“ Beschämt stehe ich vor ihr. Mit gesenktem Blick erwidere ich: „Ich versuche es ja, aber die Noten werden nicht besser.“ Die Oberin sieht mich nachdenklich an: „Wir werden gemeinsam zum Rektor gehen.“ Sie ruft in der Schule an und macht einen Termin bei Herrn Hussmann.

      Am nächsten Tag nach Schulschluss wartet sie vor der Klassentür auf mich. Gemeinsam gehen wir zum Rektor, der uns freundlich empfängt. Hinter einem großen Schreibtisch sitzend sieht er uns an. Ich mag ihn sehr. Er macht sich nicht über mich, das Heimkind, lustig, wie andere Lehrer und Lehrerinnen es manchmal tun.

      Die Oberin und er unterhalten sich einige Zeit über mich und meine schulischen Probleme. Dann richtet er sich auf und sieht mich an: „Harald, du wirst mein Nachhilfeschüler. Ab Montag kommst du um vier Uhr zu mir. Ich werde dir helfen, damit sich deine Noten verbessern und du keine Ehrenrunde drehen musst.“

      Pünktlich stehe ich am Montag vor seinem Haus und schelle an. Ein freundlich blickender Herr Hussmann bittet mich, einzutreten. Zu meiner Überraschung sitzen drei weitere Kinder aus der Schule in dem Raum, in den er mich führt. Unser Nachhilfelehrer beantwortet jede Frage, die wir haben. Ich bin begeistert: So macht das Lernen Spaß! Eifrig erfülle ich jede Aufgabe, die er mir stellt. Am Ende der Stunde sieht er mich an: „Harald, ich verstehe gar nicht, wieso du in der Schule nicht mitkommst! Du bist ein sehr guter Schüler. Du hast es doch drauf! Wenn du so weitermachst, dann schaffst du die Klasse auf jeden Fall.“

      Wieder im Kinderheim zurück laufe ich beschwingt und fröhlich der Oberin über den Weg. „Na, Harald“, spricht sie mich an, „wie war dein Nachhilfeunterricht?“ Strahlend berichte ich ihr, dass Herr Hussmann sehr zufrieden mit mir war. „Es hat mir richtig Spaß gemacht! Herr Hussmann hat gesagt, dass ich ein guter Schüler bin. Er ist sich sicher, dass ich die Klasse schaffen werde.“ Die Oberin lächelt mich zufrieden an: „Das würde mich sehr für dich freuen!“ Schon ist sie wieder unterwegs. Doch plötzlich dreht sie sich nochmals zu mir um: „Wo habe ich bloß meinen Kopf? Ich muss dir ja noch etwas sagen: Morgen wirst du die Gruppe wechseln!“ Diese Nachricht freut mich sehr, denn in meiner Gruppe ist eine Erzieherin, die ich nicht mag. Von ihr wegzukommen ist eine gute Perspektive. Heute ist wohl mein Glückstag!

      Am nächsten Morgen ziehe ich um. Schwester Anne hilft mir beim Packen. Eilig raffe ich alles zusammen, was ich meinen Besitz nenne. Schwester Anne sieht schmunzelnd zu: „Du hast es scheinbar ziemlich eilig.“ Oh ja!

      In der neuen Gruppe werde ich mit großem Hallo begrüßt. „Wir heißen dich bei uns herzlich willkommen!“, lacht Fräulein Hermann, die diese Wohngruppe leitet, mich an. Was bin ich doch für ein Glückspilz! Ich mag sie. Fräulein Hermann gehört zu den netten, freundlichen und geduldigen Erzieherinnen im Kinderheim.

      Kapitel 3

       Warum immer ich?

      Meine Noten in der Schule werden immer besser. Zum ersten Mal bekomme ich eine Zwei für eine Arbeit. Mein Klassenlehrer wundert sich über meine Leistungssteigerung. Heute ist der Unterricht besonders entspannt für mich. Mit der guten Note im Rücken fällt es viel leichter, in der Schule zu sitzen. Die Note scheint mir auch Flügel zu verleihen: Fast fliege ich nach der Schule zum Heim zurück. Mir geht es gut!

      Ich fege um die Ecke des Heims und stoße mit Schwester Anne zusammen. „Welches freudige Erlebnis hattest du denn? Du siehst aus, als würdest du auf einer Wolke schweben.“ Strahlend prahle ich: „Ich habe eine Zwei geschrieben!“ Jubelnd umarmt Schwester Anne mich: „Herzlichen Glückwunsch, Harald! Das ist wirklich ein gutes Ergebnis.“ Begeistert, lachend und beschwingt geht sie Richtung Küche weiter, und ich stolziere zu meinem Zimmer.

      In die Schule gehen ist ja so wunderbar! Gut gelaunt betrete ich am nächsten Morgen den Klassenraum. Heute werden wir eine weitere Klassenarbeit zurückbekommen. Ich bin so gespannt, welche Note ich habe! Gemeinsam mit den anderen Kindern warte ich auf Herrn Mattes. Die Tür öffnet sich, und eine Frau betritt den Raum. Sie stellt sich ans Pult, sieht uns alle an und begrüßt uns: „Guten Morgen, Kinder. Ich bin Fräulein Lukas“, stellt sie sich vor. „Euer Lehrer, Herr Mattes, ist sehr krank geworden. Ich werde ihn so lange vertreten, bis er euch wieder unterrichten kann.“ Sie greift in ihre Tasche und holt unsere Hefte hervor: „Ihr scheint ja keine guten Schüler zu sein. Ich habe eure Arbeiten kontrolliert. Sie sind alle so schlecht, dass ich jedem eine Sechs geben musste!“, brummelt sie. Jeder bekommt sein Heft. Entsetzt schaue ich mir meine Arbeit an und beschließe, mich gegen die Sechs zu wehren. Mutig melde ich mich. „Ja, was willst du?“, fordert Fräulein Lukas mich auf. „Herr Mattes hatte uns die Aufgaben nicht so gestellt, wie sie im Buch stehen. Wir alle haben uns bemüht, zu verstehen, was Herr Mattes von uns will“, antworte ich kühn. Sie stellt sich vor mich und schaut mich ernst an: „Das ist mir egal! Die Arbeiten sind geschrieben und die Noten verteilt. Ich werde nichts daran ändern.“ Erwachsene sind so ungerecht! Enttäuscht verkrieche ich mich innerlich.

      In den darauf folgenden Wochen zieht Fräulein Lukas immer wieder über mich her. Sie lästert darüber, dass Heimkinder scheinbar nicht viel können. Sie mag mich nicht. Meine Leistungen und die Beteiligung im Unterricht gehen rapide bergab.

       Die Uhrzeit

      Eines Morgens fordert Fräulein Lukas mich auf, ihr die Uhrzeit zu sagen. Ob sie weiß, dass ich die Uhr nicht lesen kann und immer andere Leute nach der Uhrzeit gefragt habe? Entsetzt schaue ich auf das Ziffernblatt. Ich habe keine Ahnung, was dort zu lesen ist! Angst vor der Peinlichkeit kriecht in mir hoch. Ich weiß genau, dass gleich alle über mich lachen werden. Schnell überlege ich, wie lange wir bereits im Unterricht sitzen. Die Schule hat um acht Uhr begonnen. Es müsste jetzt elf Uhr sein. „Na, Harald, wie spät ist es?“, fragt sie mich herausfordernd. Stotternd antworte ich:

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