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Ich bin doch eigentlich ganz anders!. Harald Miesem
Читать онлайн.Название Ich bin doch eigentlich ganz anders!
Год выпуска 0
isbn 9783347068216
Автор произведения Harald Miesem
Жанр Биографии и Мемуары
Издательство Readbox publishing GmbH
Doch die Angst bleibt aktiv. Immer wieder erwache ich und frage mich, ob er erneut zu mir kommen wird. Der Rest der Nacht bleibt ruhig.
Am frühen Morgen verlässt der Stiefvater unsere Wohnung. Er ist Schlosser von Beruf. Während er auf der Hütte seiner Arbeit als Schlosser nachgeht, haben wir einige Stunden Ruhe. Endlich kann ich sicher einschlafen.
Als meine Geschwister lärmend durch die Wohnung rennen, erwache ich. Gemeinsam mit meiner ältesten Schwester – sie ist sieben Jahre alt – helfe ich den Kleinen beim Anziehen. Mama ist wieder einmal nicht zu Hause. Ich weiß nicht, warum.
Einige Zeit nach dem Vorfall torkelt der Stiefvater wieder einmal in die Wohnung, wirft den Hausschlüssel auf den Flurschrank und ruft mich zu sich: „Komm mit!“ Ich folge ihm ins Schlafzimmer, ahnend, was jetzt geschieht. Am liebsten würde ich weglaufen oder mich in ein Schneckenhaus verkriechen. Doch der Gedanke an meine Geschwister hilft mir, das auszuhalten, was jetzt folgt. Dieser große, starke und sehr schwere Stiefvater wirft mich auf das Ehebett und wirft sich auf mich. Ich habe Angst zu sterben, denn ich bekomme kaum noch Luft. Irgendwie schaffe ich es, mich frei zu strampeln. Doch unverzüglich liegt er wieder auf mir. Ich versuche mich zu wehren, kämpfe um mein Leben. Dann verliere ich das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir komme, ist der Stiefvater weg. Mein ganzer Körper schmerzt. In der Wohnung ist es seltsam ruhig. Ich brauche einige Minuten, um mich wieder zu sammeln, dann schaue ich nach den Geschwistern. Sie liegen in ihren Betten und schlafen. Ich krieche in mein Bett, finde jedoch keinen Schlaf.
Wir Kinder werden immer häufiger uns selbst überlassen. Der Stiefvater lässt sich nur ab und zu blicken. Mama taucht nicht mehr auf. Als der Stiefvater wieder einmal zu Hause ist, frage ich zaghaft, wo Mama ist. Zur Antwort erhalte ich eine Ohrfeige.
Der Schwur
„Bastard, komm zu mir!“, brüllt es aus dem Schlafzimmer. Ich zögere. Wutentbrannt stürmt der Stiefvater um die Ecke und verprügelt mich. Dieses Mal ist es besonders schlimm. Immer und immer wieder schlägt er zu. Er trifft mich am Mund. Zwei meiner oberen Schneidezähne brechen ab. Ich schreie entsetzlich. Gleichzeitig überkommt mich eine große Wut. Ich will mich irgendwie wehren, aber wie? Ganz unvermittelt kommt mir eine Idee: Ich werde jetzt keinen Ton mehr von mir geben, und wenn er mich totschlägt! Während er auf mir herumtrommelt, bleibe ich still. Kein Laut kommt mehr aus mir heraus. Verwundert unterbricht der Stiefvater seine Prügelattacke. „Du willst wohl den Helden spielen?“, knurrt er mich an. „Warte ab, das treibe ich dir aus!“ Erneut prasseln Schläge auf mich ein. Ich bin still. Während der Stiefvater fluchend und schimpfend auf mich einschlägt, spüre ich plötzlich gar nichts mehr. Es ist, als ob ich meinen Körper verlassen habe. Aus sicherer Distanz sehe ich dem Schauspiel zu. Der Körper steckt einen Schlag nach dem anderen ein. Schmerzen habe ich in diesem Zustand nicht mehr. Dann wird es auf einmal dunkel. Ab diesem Moment habe ich einen Filmriss.
Eines Tages füttere ich ein Baby. Wie es zu uns gekommen ist und was alles in der Zwischenzeit geschehen ist, weiß ich bis heute nicht. Meine Geschwister und ich sind alleine. Seltsamerweise weiß ich, wie ich das Baby füttern muss und wie man die Windeln wechselt. Die Eltern tauchen nicht auf. Sie haben uns scheinbar allein gelassen.
Fremde Menschen
Trübsinnig grübelnd sitze ich am Wohnzimmerfenster und starre nach draußen. Tausend Gedanken gehen mir durch den Kopf. Ich suche nach einer Lösung, was wir essen könnten. Ich habe bereits jeden Winkel in der Wohnung abgesucht. Es ist zum Verzweifeln! Das Baby ist kaum noch zu beruhigen. Es hat offensichtlich Hunger. Wir haben keine Milch mehr.
Auch jetzt liegt es jammernd im Bettchen. Ich kann ihm nicht helfen. Ich hole es aus seinem Bettchen und setze mich mit ihm vor das Wohnzimmerfenster. Meine Nähe beruhigt es. Ich lege es zurück und setze mich wieder an das Fenster. Während ich stumpfsinnig aus dem Fenster starre, höre ich ein lautes Knurren: Es ist mein Magen.
Am nächsten Morgen versorge ich wieder die Geschwister. Sie weinen und klagen immer wieder. Wir alle haben Hunger. Mir bricht es das Herz. Wie gerne würde ich ihnen etwas zu essen geben! Gedankenverloren setze ich mich wieder an das Fenster und sehe nach draußen.
Laute Geräusche holen mich aus der Lethargie heraus. Auf einmal gibt es einen fürchterlichen Knall. Ich zucke erschrocken zusammen. Krachend fliegt die Wohnungstür auf, und fremde Menschen stürmen herein. Erschrocken vor Panik versuche ich, meine Geschwister zu schützen. Aber ich bin zu klein und habe keine Chance gegen diese Menschen. Sie packen mich und meine Geschwister und verfrachten uns in einen Kleinbus. Unsicher und verängstigt frage ich, was sie mit uns vorhaben. „Ihr kommt in ein Kinderheim!“, ist die schroffe Antwort eines Mannes. Als wir losfahren, stelle ich entsetzt fest, dass das Baby nicht da ist! „Wo ist das Baby?“, schluchze ich auf. Der Bus setzt sich in Bewegung. Einer der Männer schnauzt mich an: „Das musst du nicht wissen!“ Entsetzt und verschreckt sitzen wir auf der Rückbank eines fremden Busses und fahren ins Ungewisse. Der Mann zückt einen Block aus der Tasche und schreibt laut nachdenkend in den Block: „Heute haben wir“, er hält kurz inne, „den 20. Juli 1962.“ Dann steckt er den Block wieder in die Tasche.
Im Verlauf der Fahrt erfahren wir, dass die Menschen, die uns aus der Wohnung geholt haben, vom Jugendamt sind. Ich verstehe das nicht. Was ist ein Jugendamt? Man erklärt uns, dass sie darüber benachrichtigt worden seien, dass wir Kinder alleine in der Wohnung sind und das Baby ständig schreit. „Wir bringen euch nach Bottrop“, erklärt der Begleiter unwirsch. Plötzlich laufen mir die Tränen, und ich weine bitterlich. „Hör endlich auf, du Balg!“, schnauzt mich einer der Männer an. „Sei froh, dass wir euch aus dem Schlamassel herausgeholt haben! Im Kinderheim wird es euch sicher besser gehen.“ Tapfer versuche ich, meine Tränen zurückzuhalten und still zu sein.
Im Kinderheim
Nach einer Weile hält der Bus vor einem großen Haus. Eine Frau in Schwesterntracht nimmt uns in Empfang. Ich fühle mich unwohl: Was werden die mit uns machen? Sie betrachtet uns lange, dann spricht sie kurz mit den Leuten, die uns hergebracht haben. Die steigen schließlich in den Bus zurück und fahren wieder weg. Die Schwester wendet sich zu uns: „Kinder, ihr seht so aus, als könntet ihr etwas zu essen vertragen. Kommt mit!“ Schon schiebt sie uns in Richtung des Hauses.
Wir gehen in einen großen Raum, in dem viele Tische und Stühle stehen. „Nehmt schon mal Platz! Ich schaue mal in der Küche nach, was ich für euch besorgen kann.“ Die Frau wirkt sehr nett, aber ich traue dem Braten nicht. Nach kurzer Zeit kommt sie mit einem Tablett voller Butterbrote wieder. Lächelnd fordert sie uns auf, zuzugreifen und uns satt zu essen. Da schmilzt das Eis in mir. Gierig stürze ich mich auf die Brote. Meine Geschwister tun es ebenso. Ausgehungert, wie wir sind, ist der Teller in Windeseile geleert. Die Schwester beobachtet uns beim Verschlingen der Brote: „Ihr armen Kinder! Ihr habt scheinbar lange nichts mehr gegessen! Was habt ihr bloß mitgemacht?“
Endlich wieder etwas zu essen löst ein wahres Glücksgefühl in mir aus. Mein Bauch fühlt sich warm und wohlig an. Ich glaube, hier bin ich sicher und hier werde ich nie wieder Hunger leiden. Die Schwester ist sehr nett und wartet freundlich lächelnd, bis wir den Teller geleert haben.
Als Nächstes bringt sie uns zu einer Kleiderkammer. Nun kommt Leben in uns: Wir stürzen uns auf die Kleidung, sind kaum dabei zu bremsen. Die Wäsche an unserem Körper ist seit vielen Tagen nicht gewaschen worden. Endlich saubere Sachen! Überglücklich sucht sich jeder etwas Neues aus. Mit der Kleiderbeute auf dem Arm bringt uns die Schwester in den Speisesaal zurück: „So, Kinder, nun zeige ich euch, wo ihr künftig leben werdet.“
Sie geht mit uns nach draußen. Wir laufen über einen Weg zu einem anderen Haus. Dort werden wir von einer Frau empfangen, die scheinbar schon auf uns gewartet hat. Uns wird erklärt, dass wir in verschiedenen Häusern untergebracht werden. Meine Schwestern werden der Frau übergeben.
Am nächsten Haus wird mein Bruder einer Frau übergeben. „Ich will aber bei meinem Bruder