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Wir können die Gruppen nicht einfach verändern. Ihr könnt euch ja jeden Tag besuchen!“, ermutigt sie mich. Schweren Herzens ergebe ich mich in die neue Situation.

      Als Letzter werde ich zu meiner neuen Gruppe gebracht. Fröhlich begrüßt mich ein Fräulein Martin: „Ich freue mich, dass du zu uns kommst! Dieses Kinderheim ist etwas Besonderes. Es wird dir bestimmt gefallen!“ Ich senke meinen Kopf. „Schlechter als zu Hause kann es nicht sein!“, murmele ich vor mich hin. „Was hast du gesagt?“ Ich schaue noch tiefer zu Boden. „Ach, nichts!“, erröte ich.

      Fräulein Martin führt mich zu meinem neuen Zimmer. Brav trotte ich hinterher. Sie zeigt mir den Schrank und fordert mich auf, die Wäsche, die immer noch über meinem Arm hängt, einzuräumen. Dann mustert sie mich: „Ich denke, wir gehen dich erst einmal baden. Nimm dir frische Wäsche mit, die du danach anziehen möchtest.“ Brav trotte ich hinter ihr her zum Badezimmer. Fräulein Martin lässt Wasser in die Wanne laufen. „Ab mit dir in die Wanne!“, lacht sie. Hoffentlich geht sie gleich wieder! Im Zeitlupentempo beginne ich mich auszuziehen. Fräulein Martin macht keinerlei Anstalten, das Bad zu verlassen. Ich schäme mich, mich vor einer fremden Frau auszuziehen. Aber darauf nimmt sie keine Rücksicht. Auf einmal ruft sie erschrocken aus: „Was ist denn mit dir passiert? Du bist ja voller blauer Flecken!“ Noch mehr beschämt klettere ich splitternackt über den Wannenrand und setze mich ins Wasser.

      Ohne eine Antwort abzuwarten schnappt sich Fräulein Martin einen Waschlappen, seift ihn ein und wäscht mich von oben bis unten. Frisch gewaschen und mit der neuen sauberen Kleidung am Körper verlasse ich kurze Zeit später das Bad. Ich fühle mich wie neugeboren.

      Fräulein Martin schaut auf ihre Uhr: „Bis zum Essen hast du genug Zeit, dich im Heim umzusehen. Du kannst gerne auf Erkundungstour gehen.“ Mit dieser Botschaft lässt sie mich stehen und geht ihrer Arbeit nach.

      Unsicher laufe ich los. Alles wirkt so sauber. Die Schwestern und Erzieherinnen, denen ich begegne, sind sehr freundlich. Immer wieder sprechen sie mich an: „Hallo, du musst der Harald sein!“ Verwundert frage ich mich, woher sie denn meinen Namen kennen.

      „Harald, komm, es ist Zeit zum Mittagessen!“, werde ich gerufen. Erwartungsvoll laufe ich mit vielen anderen Kindern zum Speisesaal. Vor dem Essen müssen wir alle still sein. Die Erzieherin betet mit uns. Sie dankt Gott für das Essen und die Gemeinschaft. Während sie betet, erinnere ich mich daran, dass wir zu Hause auch manchmal gebetet haben. Für mich war das ganz komisch, denn was muss das für ein schlimmer Gott sein, der dabei zuschaut, wie kleine Kinder geschlagen werden, hungern und fast sterben? Und er hat nicht eingegriffen, als die Kleinste von uns weggebracht wurde. Was ist mit ihr passiert? Was haben sie mit ihr gemacht? Und was ist das für ein Gott, der nicht hilft?

      Widerwillig lausche ich der Erzieherin, die diesem Gott dankt. Aber vielleicht gibt es ja auch noch andere Götter. Tief in meinen Gedanken versunken bemerke ich nicht, dass ich von der Erzieherin angesprochen werde. Erst das laute Lachen der anderen Kinder holt mich aus meinen Gedanken. Ich muss irgendetwas verpasst haben. „Na, Harald, in welchem Traum warst du denn gerade?“ Beschämt schaue ich nach unten und kann nicht antworten. Das Essen bringt mich schließlich auf andere Gedanken.

      Am Nachmittag schaue ich mich weiter um. Es gefällt mir hier sehr gut. Besonders die Weide hinter dem Haus, auf der friedlich grasende Pferde stehen, begeistert mich. Fasziniert sehe ich den Tieren zu. „Kann man auf den Pferden auch reiten?“, frage ich andere Kinder, die gerade vorbeikommen. Begeistert erzählen sie mir, dass die Pferde vor die Kutsche gespannt werden und alle Kinder in der Kutsche manchmal auch durch die Felder fahren dürfen. Oh, wie schön, das wird bestimmt wunderschön sein! Ich freue mich schon auf die erste Fahrt mit der Kutsche. Das muss doch ein Abenteuer sein!

      Am Abend liege ich in meinem Bett. Es gefällt mir hier. Ich brauche keine Angst zu haben, dass der Stiefvater wiederkommt. Hier bin ich wirklich sicher. Ich freue mich schon auf den nächsten Tag und die Abenteuer, die ich hier erleben werde. Ich möchte einschlafen, doch mir schießen viel zu viele Gedanken durch den Kopf. Ich sehe mich und meine Geschwister wieder alleine zu Hause. Wir waren so einsam und hilflos. Und so schrecklich hungrig. Ich erlebe nochmals die Situation, wie die Menschen uns in den Bus setzen. Nun bin ich hier. Es ging alles so schnell. Irgendwann schlafe ich endlich ein.

      Doch mich plagen schlimme Träume. Immer wieder werde ich von dunklen Gestalten gejagt und kann ihnen einfach nicht entkommen. Morgens beim Erwachen stelle ich entsetzt fest, dass mein Bett nass ist. Voller Scham überlege ich, was ich jetzt machen soll. Schnell ziehe ich die nasse Bettwäsche ab und laufe zum Bad, um sie dort auszuwaschen. Leider ertappt mich eine Erzieherin dabei. „So geht das aber nicht!“, mault sie mich an. „Hier wird nicht ins Bett gemacht! Heute lasse ich das noch mal durchgehen. Doch wenn das nochmal vorkommt, bekommst du den Kleiderbügel zu spüren!“ Zwei Tage später ist es wieder passiert. Ich werde angebrüllt und beziehe die angekündigte Strafe. Die Erzieherin begreift überhaupt nicht, dass es mir doch selbst peinlich ist. Ich bin doch ein großer Junge, dem das noch nie passiert ist! Zum Glück bessert es sich nach einigen Wochen.

      Nach und nach gewöhne ich mich an den Alltag im Kinderheim. Die Schwestern sind sehr liebevoll und unternehmen viel mit uns Kindern. Es ist das erste Mal nach vielen Jahren, dass ich mich wohlfühle und neugierig die kleine Welt im Kinderheim erkunde.

       Der Ausflug

      Heute steht Schwester Julia freudestrahlend vor uns Kindern. Alle, die Lust haben, eine Wanderung zu unternehmen, sollen ihre Hand heben. Kein Finger bleibt unten. Wir alle wollen mit. Jeder bekommt ein Lunchpaket, und dann geht es los. Wir wandern Richtung Dorsten. Ein langer Bandwurm von Kindern zieht sich durch den Wald. Alle müssen in der Reihe laufen, was auf Dauer keinen Spaß macht. Die ersten abenteuerlustigen Kinder, und auch ich, versuchen, sich in den Wald zu schlagen. Schnell werden wir alle wieder eingereiht und nochmals ermahnt, hintereinander herzugehen.

      Wie so oft hänge ich meinen Gedanken nach. Trödelnd und unaufmerksam folge ich der Schar. Erst der Schmerz an meinen Füßen holt mich aus der Grübelei heraus. Zum Glück machen wir jetzt eine Pause. Ich kann meine Füße entlasten. Oh je, was tun die weh! Auf den herumliegenden Baumstämmen reihen sich die kleinen und großen Wanderer, holen die Lunchpakete hervor, und jeder beißt heißhungrig ins Brot. Der Rückweg unserer Wanderung ist begleitet von einem vielstimmigen Gestöhne. Ich bin nicht der Einzige, der unter schmerzenden Füßen leidet!

      Zurück im Heim falle ich glücklich und zufrieden ins Bett und schlafe sofort ein. Der schlimme Traum reißt mich diesmal nicht aus dem Schlaf, sondern die vertraute Stimme von Fräulein Martin: „Abendbrot, Kinder!“, erschallt es vom Flur her. Mit beiden Beinen gleichzeitig springen wohl alle Kinder aus ihren Betten und rennen johlend in den Speisesaal. Ich liebe das Leben in meinem neuen Zuhause!

       Wo sind meine Schwestern?

      Einige Zeit nach unserer Ankunft im Kinderheim werde ich zur Oberin, der Leiterin des Heimes, gebracht. Sie teilt mir mit, dass meine beiden Schwestern in ein anderes Kinderheim gebracht wurden. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das Leben ist so ungerecht! Warum raubt man mir meine Geschwister? Ich fühle mich plötzlich so allein gelassen. Mir ist das alles zu viel, was da auf mich einströmt. Ich verlasse das Zimmer der Oberin und renne in den nahen Wald. Betrübt und traurig setze ich mich an meinen Lieblingsplatz, den ich mir vor einigen Wochen ausgesucht habe. Hier, wo mich niemand sieht, lasse ich meinen Tränen freien Lauf. Was ist das doch für eine ungerechte Welt, in der ich lebe! Es ist das erste Mal, dass ich mir ernsthafte Gedanken mache, meinem Leben ein Ende zu setzen, um endlich Ruhe zu haben.

      Über meinem Grübeln muss ich wohl eingeschlafen sein, denn es wird schon dunkel, als ich erwache. Schnell mache ich mich auf den Weg zurück ins Heim, um noch rechtzeitig zum Abendbrot zurück zu sein. Mit bangem Herzen und der Erwartung, dass ich wieder mal richtig Ärger bekommen werde, schleiche ich zu meiner Gruppe zurück. Ich soll mich nicht getäuscht haben: „Für dich gibt es heute kein Abendbrot!“, schimpft die Erzieherin. Zu meiner Erleichterung werde ich hier nicht zusammengeschlagen. Die Strafe ist, in der Ecke zu stehen und zusehen zu müssen, wie alle anderen Kinder sich den Bauch vollschlagen. Aber das ist für mich immer noch besser auszuhalten als geschlagen zu werden. „Das wird dir eine Lehre sein!“,

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