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sich um und verschwindet. Und schon ist mein Reichtum wieder weg! Ich bin innerlich geladen und würde am liebsten aufspringen und das Geld wieder an mich reißen. Das ist so ungerecht!

      Einige Tage später ruft mich die Oberin zu sich: „Wie hat dir der Gottesdienst am Sonntag gefallen?“ Würde ich ehrlich antworten, dann würde ich ihr sagen, dass es schrecklich war und ich am liebsten abgehauen wäre. Brummig sage ich nur: „Es ging so.“ Meine Antwort scheint sie gar nicht zu interessieren: „Wir haben mit den Leuten gesprochen. Sie wollen dich jetzt jeden Sonntag abholen“, lächelt sie. Ich stöhne leise. „Ach ja, noch etwas:“, fährt sie fort. „Du hast Geld von den Gottesdienstbesuchern bekommen. Zukünftig gibst du die Münzen sofort bei uns ab!“ Dann entlässt sie mich.

      Leider kommt der nächste Sonntag viel zu schnell. Ich soll mich wieder entsprechend anziehen. In der Hoffnung, dass ich nicht rechtzeitig fertig bin und die Leute einfach ohne mich fahren, trödle ich herum. Mein Plan geht leider nicht auf. Widerwillig steige ich erneut in Ehepaar Grimmas Auto ein, ertrage den Gottesdienst und schüttele Hände. Diesmal landen drei Mark in meiner Hand. Wie kann ich bloß mein Geld in Sicherheit bringen? Leider finde ich keine Lösung für mein Problem. Das ist unfair! Es ist mein Geld! Im Heim angekommen gebe ich es zähneknirschend ab.

       Tina

      Seit meinen ersten Tagen im Heim treffe ich mich mit einem Mädchen. Sie heißt Tina, ist zwei Monate jünger als ich und lebt schon viel länger hier im Heim. Ich verbringe viel Zeit mit ihr. Sie liebt das Heim. Es ist ihr Zuhause, sagt sie immer wieder. Tina kommt aus Essen. Auch sie wurde in ihrer Familie geschlagen und missbraucht. Wir sitzen oft gemeinsam an meinem Lieblingsplatz im Wald, reden und weinen miteinander. Mir tut die Freundschaft zu ihr sehr gut. Sie scheint zudem einen sechsten Sinn zu haben. Irgendwie taucht sie immer auf, wenn es mir nicht so gut geht. Dann fordert sie mich auf, gemeinsam mit ihr Rollschuh zu fahren oder zu den Pferden zu gehen. Tina liebt Pferde und verbringt viel Zeit mit ihnen.

      Auch diesmal taucht sie im rechten Moment wieder auf. Ich laufe ziellos auf dem Heimgelände herum. Es ärgert mich, dass ich das Geld nicht behalten darf. Es ist ungerecht, mir mein Geld, das freundliche Menschen mir geschenkt haben, abzunehmen. Es gehört mir: Ich habe es doch bekommen! Grübelnd, in Gedanken versunken, bemerke ich gar nicht, dass Tina auf mich zugelaufen kommt. Sie bleibt vor mir stehen.

      Als ich meinen Namen höre, tauche ich aus meiner Gedankenwelt auf: „Tina, du bist es!“ Sie sieht mir in die Augen: „Hey, Harald, was ist los mit dir?“ Nun purzeln alle aufgestauten Worte aus mir heraus, während wir gemeinsam Richtung Stall schlendern. Wir gehen in den Schuppen und machen es uns auf den herumliegenden Strohballen gemütlich. Tina weiß gar nicht, was sie mir antworten soll. Schweigend sitzen wir nebeneinander und hängen unseren Gedanken nach.

      Auf einmal nimmt Tina meine Hand. Sie zieht mich an sich. Eng umschlungen sitzen wir im Stroh. Das ist ein echt tolles Gefühl! Bis zum Abendbrot bleiben wir eng aneinander gekuschelt. Wie schön es doch mit Tina ist! Es tröstet mich, dass sie da ist. Am Abend müssen wir uns trennen, da ich ja in einem anderen Haus als Tina lebe. Doch ab diesem Moment treffen wir uns, so oft es geht, im Schuppen. Es ist kein gemütlicher Ort. Doch hier stört uns niemand, und wir können unsere Zweisamkeit genießen.

       Mobbing

      Als ich heute zum Schuppen komme, ist Tina bereits dort. Ihr Gesicht ist nass von Tränen. Sie sieht mich verzweifelt an. Schnell setze ich mich neben sie, lege meinen Arm um sie und versuche, sie zu trösten. Tina schluchzt durch die Tränen hindurch, dass sie wieder einmal von einigen Klassenkameradinnen gehänselt worden ist, weil sie im Heim lebt. Wir alle hier im Heim haben in der Schule den Stempel Heimkind. Auch ich werde in der Schule immer wieder deswegen aufgezogen. Es tut weh, so abgestempelt zu werden.

      Etwas hilflos versuche ich, Tina mit einigen Witzen zum Lachen zu bringen, was mir nach einer Weile auch gelingt. Eng umschlungen sitzen wir auf einem Strohballen. „Weißt du was, Harald?“ Tina schaut mir tief in die Augen: „Ich würde gerne deine Haut spüren.“ Verwundert sehe ich sie an. „Du willst was?“, entfährt es mir. „Im Ernst, ich würde gerne deine Haut und deinen Körper spüren!“ Nun mache ich mir aber Gedanken! Es braucht eine Weile, bis ich wieder Worte finde:

      „Weißt du, ich würde mir das auch wünschen. Aber was ist, wenn sie uns hier entdecken?“ Tina wischt meine Bedenken weg: „Wir sind jetzt so oft hier gewesen, und nie ist jemand gekommen!“ Schon beginnt sie sich zu entkleiden. Als sie so nackt vor mir steht, fallen meine Bedenken von mir ab. Schnell ziehe ich mich aus. Einen Moment lang betrachten wir uns gegenseitig. Dann umschlingen wir einander. Diese warme Haut zu spüren ist herrlich! Zärtlich reiben wir unsere Körper aneinander und genießen diesen Moment. Tina sieht mich strahlend an.

      Eng umschlungen, die nackte Haut spürend, versinke ich in meinen Gedanken an früher. Tinas Stimme holt mich wieder heraus. Sie fordert mich auf, sie zu streicheln. Unsicher und neugierig gehe ich auf Entdeckungsreise. Leider haben wir keine Zeit für eine längere Reise. Der Gong ertönt, und wir müssen zum Abendbrot. Schnell ziehen wir uns wieder an und schaffen es gerade noch rechtzeitig zum Abendbrottisch.

      Zwei Tage später treffen wir uns wieder. Gemeinsam machen wir einen Ausflug auf unseren Rollschuhen. Unterwegs ergreife ich Tinas Hand. Ich will mich eigentlich nie wieder von ihr trennen! Hand in Hand fahrend kommen wir auf dem Hof vor dem Kinderheim an. In voller Fahrt düsen wir an Schwester Ursula vorbei. Ein lautes Lachen folgt uns. „Ihr seht aus wie ein frisch verliebtes Paar!“, ruft sie hinter uns her. Tina und ich schauen uns an und kichern: „Wenn die wüsste!“ Wir drehen noch einige Runden auf dem Hof. Dann halten wir an. Ich nähere mich Tinas Ohr. „Ich würde dich gerne noch mal nackt spüren!“, hauche ich ihr ins Ohr. Ihr Blick ist Antwort genug: Hand in Hand verschwinden wir Richtung Schuppen. Hoffentlich ahnt Schwester Ursula nichts!

      In Windeseile sind wir ausgezogen. Sehnsüchtig berühren sich unsere nackten Körper. Oh, diese Wärme und Zartheit! „Harald, ich möchte auf dir liegen. Ich möchte dich noch mehr spüren.“ Ich umschlinge meine Tina. Als ich ihren Körper auf mir spüre, bekomme ich Panik. Unwirsch schüttele ich sie von mir ab. Tina sieht mich entsetzt an: Alles an mir zittert! „Was ist los, Harald?“

      Nur stammelnd kann ich ihr antworten: „Ich hatte das Gefühl zu ersticken, als du auf mir lagst!“ Tina schweigt. Wir ziehen uns wieder an. Gemeinsam setzen wir uns auf einen Strohballen. „Was ist bloß los? Woher kommt das?“ Eine Antwort finden wir an diesem Tag nicht.

      Einige Tage später gehe ich nach der Schule zu unserem Schuppen. Tina und ich haben uns hier wieder verabredet. Doch sie kommt nicht. Besorgt laufe ich nach einiger Zeit des Wartens zu ihrer Gruppe. Tina ist doch sonst immer zuverlässig gekommen. Hoffentlich ist ihr nichts passiert!

      Vielleicht liegt sie ja krank im Bett. Angst um Tina macht sich in mir breit. In der Gruppe kann mir niemand erklären, wo sie steckt. Krank ist sie jedenfalls nicht. Ich suche das ganze Heim ab, kann sie aber nicht finden. Verzweifelt überlege ich, was ich tun kann. Mit den Rollschuhen unter den Füßen suche ich in der Umgebung nach ihr. Doch meine Tina bleibt verschwunden.

      Ich kehre heim und laufe nochmals zu Tinas Gruppe. Schwester Ursula begrüßt mich freundlich. Ich frage sie: „Wo ist Tina? Ich habe sie überall gesucht.“ Mitleidig sieht Schwester Ursula mich an: „Weißt du es denn nicht?“ Entgeistert sehe ich sie an: „Was soll ich wissen?“ Schwester Ursula legt ihre Hand auf meine Schulter: „Ach, mein Junge, es tut mir so leid für dich! Deine Tina ist heute von ihrer Mutter nach Hause geholt worden.“

      Wie von Blitz und Donner gleichzeitig getroffen, schlägt diese Nachricht bei mir ein. Ich will schreien, weinen, wegrennen, mich losreißen und stehe doch wie angewurzelt vor Schwester Ursula. „Es kam auch für uns völlig überraschend!“ Die Schwester schüttelt den Kopf: „Sonst bekommen wir immer rechtzeitig Bescheid. Aber dieses Mal ging alles sehr schnell.“ Langsam finde ich aus der Erstarrung zurück. Ich drehe mich abrupt um und beginne zu rennen: Raus aus dem Heim, rüber in den Wald, an unserem Lieblingsplatz vorbei. Ich renne und renne.

      Wie lange ich renne, weiß ich nicht. Doch es wird schon dunkel, als ich begreife, dass es besser ist, wenn ich wieder zum Heim zurückkehre. Ich

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