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den Verstand zu verlieren.

      VIER

      4.1

      Das nervige Piepsen seines verdammten Weckers riss Bastian aus dem Schlaf. Blind tastete er herum, griff daneben, griff noch mal daneben, fand schließlich die Taste und setzte dem Terror ein Ende.

      „Ich bin doch gerade erst ins Bett gegangen“, jammerte er. Er fühlte sich wie gerädert, nachdem er in der Nacht aufgewacht war, weil er einen sehr seltsamen Traum über fliegende Pommes gehabt hatte. Und als er schließlich erneut in der REM-Phase angelangt war, befand er sich in einer noch abstruseren Traumwelt.

      Bastian verharrte auf dem Gehweg vor einem Stromkasten, der auf einer kleinen Wiese nahe an einer Kreuzung stand, und starrte unentwegt auf das rechteckige Ding. Plötzlich geisterte seine Mutter um ihn herum und machte seltsame Bewegungen. Gerade als Bastian fragen wollte, auf welchen Drogen sie denn sei, begann sich die Wiese aufzuspalten. Doch statt wegzurennen, blieb Bastian seelenruhig auf der Stelle stehen und schaute gespannt in den Abgrund, der sich immer weiter öffnete und dem unverhofft eine Kuh entstieg. Wie ein Mensch lief sie Stufen hinauf, die gerade noch gar nicht da gewesen waren. Verwirrt sah er dem Vieh nach, das gelassen die Straßenseite wechselte und auf eine Weide trabte, wo weitere seiner Artgenossen verweilten. „Verrückt“, sagte Bastian und blickte wieder in den Abgrund. Er legte die Stirn in Falten und fragte sich, seit wann Wohnungen unterhalb der Erde existierten. Die Leute, die dort lebten, kannte er aus seiner Kindheit. Ehemalige Nachbarn, denen es anscheinend nicht gefiel, dass sie von ihm wie Tiere in Käfigen beobachtet wurden.

      „Bastian!“, wurde sein Name von irgendwoher gerufen. Er wandte sich um und schaute hinüber zur anderen Straßenseite. Auf der Weide, neben dem großen Baum, an dem funkelnde Äpfel hingen, standen zwei Bänke und die Nachbarn, die sich gerade noch unter der Erde befanden, machten es sich dort gemütlich. Einige von ihnen saßen auf der Bank, andere lagen im Grün und bewunderten ihre unbekleideten Beine. Bastian gesellte sich zu ihnen und setzte sich der älteren Dame gegenüber.

      „Wie geht es dir?“, erkundigte sie sich. Dunkle Schatten umrahmten ihre Augen.

      „Mir geht es ganz gut“, erwiderte Bastian, obwohl er ihr am liebsten gleich all sein Leid geklagt hätte.

      „Das freut mich. Mir geht es nicht so gut und meiner Tochter auch nicht.“

      „Tochter?“ Bisher hatte er gedacht, sie hätte nur Söhne zur Welt gebracht. Mit einem Mal wurde er durch die Anwesenheit der Tochter erschreckt. Sie saß auf dem Boden und streckte ihr Bein in die Luft. Was das sollte, verstand Bastian nicht. Jedoch fand er, dass die Poren an ihren Beinen ein wenig zu groß geraten waren.

      „Ich habe irgendetwas in meinem Bein“, grübelte sie und streckte es höher.

      Bastian kam nicht umhin, hinzuschauen. Er machte große Augen, als er etwas Gelbliches in einer der immensen Poren, in denen mit Leichtigkeit Centstücke gepasst hätten, entdeckte.

      „Es sieht aus wie Käse“, sinnierte sie und pulte tief in der Pore herum.

      Bastian fand diesen Anblick ekelerregend – und dann holte ihn der Wecker in die Realität zurück.

      Die Lust auf Käse war Bastian nun auf unbestimmte Zeit vergangen. Kurz sah er auf die Wände, die er einst mit einem hellen Gelbton überstrichen hatte und dachte dabei an Lucas. Was er jetzt wohl macht? Ob er schon wach ist?

      Plötzlich krachte es und Bastian hing mit dem Hintern in der Mitte des Bettes durch. „Das darf doch nicht …!“ Mühsam raffte er sich auf und hob die Matratze an. Die Bretter des Lattenrosts hatten sich, wie schon so oft, gelöst. „So schwer bin ich doch überhaupt nicht!“, murrte er, womit er ziemlich recht hatte. Mit seinen gerade mal sechzig Kilogramm gehörte der Schüler eher zu den Fliegengewichten dieser Welt, aber das Bett war alt, stammte noch aus seiner Kindheit.

      Nachdem Bastian es geschafft hatte, die Bretter wieder einzusetzen, ließ er sich für einen Moment auf dem Schreibtischstuhl nieder. Er seufzte und betrachte sodann das Bild von Lucas, das er noch nicht vollendet hatte. Dennoch erkannte man, dass es Lucas darstellen sollte. Es fehlten nur noch ein paar Feinheiten. Ach, Lucas, träumte er vor sich hin. Die Vorfreude, Lucas wiederzusehen, war größer als der Wunsch, sich wieder ins Bett zu legen. Bastian streckte sich, gähnte und ging sich am Po kratzend ins Bad. Die Tür musste er nicht zuschließen, da seine Mutter noch zur Arbeit war. Mit drei Jobs war sie reichlich ausgelastet und kam immer zu unterschiedlichen Zeiten nach Hause. Mal spät in der Nacht, mal am Morgen, mal nachmittags. Oft wechselte sie die Schichten, bevorzugte jedoch die Arbeit in der Nacht.

      Bastian öffnete die Haustür und atmete die feuchtkalte Morgenluft tief ein. Nur um bei Lucas Eindruck zu schinden, hatte er sich seine schönsten Klamotten angezogen. Eine fast hautenge Jeans mit leichtem Schlag, die er sonst nur daheim trug, ein eng geschnittenes lilafarbenes Shirt mit Rundhalsausschnitt und seine schwarzen Sneaker. Selbst die Unterhose hatte ansehnlich sein müssen und die weißen Socken durften auf keinen Fall verwaschen sein. Um seinen Hals funkelte eine silberne Kette mit türkisenem Stein. Gut gelaunt ging Bastian am zweiten Hochhaus entlang. Angst, dass ihm Kai oder jemand anderes begegnen könnte, hatte er nicht – zumindest nicht zu dieser frühen Stunde. Kai und alle anderen schliefen um diese Zeit noch, wusste er. Nur tagsüber scheute er sich, diesen Weg zu gehen. Bastian hielt es ferner für sinnvoll, die nähere Umgebung der Schule zunächst zu meiden. Auf keinen Fall wollte er früher als notwendig seinen Klassenkameraden über den Weg laufen, da sie ohnehin nur Hohn und Spott für ihn übrig hatten. Aus diesem Grund fuhr er auch nicht mehr mit dem Schulbus. Lieber quälte er sich eine Stunde eher aus dem Bett und lief den langen Weg zur Schule, anstatt sich mit Idioten abgeben zu müssen. Nun hoffte er allerdings, Lucas vor Schulbeginn sehen zu können.

      4.2

      Lucas hatte an diesem Morgen lediglich ein Ziel: Er wollte Bastian mit seinem Outfit beeindrucken. Eine halbe Ewigkeit kramte er in seinen Rucksäcken herum, bis er das Passende gefunden hatte. Er zog sich eine weiße Pants sowie gleichfarbige Socken an, eine graue, verwaschene Jeans, dazu einen Nietengürtel, ein schwarzes Muskelshirt und ein transparentes Hemd in Schwarz, das er nicht zuknöpfte. Die Hose zog er ein Stückchen hinunter, das Shirt auf der einen Seite ein wenig hoch, damit man etwas von seiner Unterwäsche sehen konnte. Lucas schlüpfte in seine weißen Sneaker und betrachtete sich einen Moment in dem Spiegel, der hinter der Schranktür hing. Frech grinste er sein Spiegelbild an, denn es gefiel ihm ungemein. Das plötzliche Klingeln seines Handys ließ ihn aufzucken. Schnell griff er danach und nahm ab. „Ja?“

      „Wo bleibst du?“, fragte Elke am anderen Ende der Leitung.

      „Wie, wo bleibe ich?“

      „Wir haben 07:35 Uhr!“

      Ohne zu antworten, legte er auf und eilte ins Bad.

      Elke sah Lucas mit insgesamt sechs Taschen auf sich zukommen, zwei großen Sporttaschen und vier Rucksäcken. „Du kommst zu spät!“

      Lucas hasste mürrische Personen in der Früh – er hasste sie immer. „Dir auch einen wunderschönen Morgen“, grüßte er mit einem heuchlerischen Lächeln.

      Elke öffnete den Kofferraum. „Hast du jetzt alles oder musst du noch mal nach oben?“

      Seufzend stellte Lucas die Taschen ab. „Ich habe alles.“ Er blickte auf die vielen Rucksäcke und deutete darauf. „Hierin befindet sich mein ganzes kaputtes Leben, das abermals umgelagert wird.“

      „Jetzt sei nicht so theatralisch.“ Elke half ihm dabei, die Sachen in den Kofferraum zu stellen.

      „Bin ich nicht. Ich wollte nur nochmal drauf aufmerksam machen.“

      „Jetzt stell dich nicht so an. So schlimm war sie ja jetzt auch nicht.“

      „Mir graut es mehr vor dem Klugscheißer mit dicker Hornhautbrille.“

      „Vielleicht ist er ja nett“, meinte sie und schlug die Kofferraumtür zu.

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