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verbrachte Longtree die nächsten fünf Jahre.

      Der Bruder seiner Mutter war ein praktisch veranlagter Mann gewesen.

      Er wusste, dass die alten Traditionen am Aussterben waren und dass für die Indianer eine neue Zeit begann. Er selbst lebte mehr wie ein Weißer als ein Indianer. Er wusste, dass ein junger Mann einen Beruf brauchte, irgendeine Fähigkeit, mit der er seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Aber er glaubte auch, dass man seine Vergangenheit und die alten Traditionen kennen und darauf stolz sein sollte. Er fand einen Weg, dem jungen Joe Longtree beides zu vermitteln: Er erzog ihn auf die althergebrachte Weise der Indianer und er bildete ihn zum Scout aus.

      Im Laufe der nächsten fünf Jahre lernte Longtree unter Lone Hawks Anleitung, wie man Spuren las – das Verfolgen von Tieren und Menschen, und wie man unzählige Informationen aus solch unauffälligen Anhaltspunkten wie Fußspuren, Hufabdrücken und umgeknickten Grashalmen herauslesen konnte. Er lernte die hohe Kunst des Pfadfindens. Er lernte, wie man mit Sachkenntnis Wunden heilte. Er lernte, wie man sich von der Natur ernährte: Welche Pflanzen und Wurzeln man essen konnte, welche als Medizin benutzt wurden, wie man Tiere aufspürte und sich anschlich, wie man Wasser fand, und hunderte anderer Tricks. Ihm wurde beigebracht, mit einem Messer, einem Beil, Pfeil und Bogen und dem Speer zu jagen. Er erhielt ausführlichen Unterricht im Schießen und der Orientierung an Sonne und Sternen. Ihm wurde die Kunst der Heimlichkeit und des Verbergens beigebracht.

      Insgesamt wurde Longtree im Laufe von nur ein paar Jahren das Wissen übermittelt, dass sich die Crow über Jahrtausende hinweg angeeignet hatten. Danach ritt er davon und trat der Armee als indianischer Scout bei. Die nächsten sechs Jahre kämpfte er mit den Weißen gegen die Comanche und Cheyenne.

      Nach dieser Zeit, den Bauch voller Blut und Tod und Verbrechen, die sowohl Indianer als auch Weiße begangen hatten, ließ er sich nach San Francisco treiben. Dort machte er sich unter anderem als Boxer einen Namen: Kid Crow. Er hatte Erfolg, bis ihn ein irischer Hitzkopf namens Jimmy Elliot derartig zusammenschlug, dass er es bis zu seinem Tode nicht mehr vergessen würde. Rastlos und müde, sich immerzu zu schlagen und geschlagen zu werden, machte er sich auf den Weg ins Arizona Territory, wo er seine Fähigkeiten als Scout zur Kopfgeldjagd auf gesuchte Verbrecher anwandte. Nach sechs Jahren, in denen er sich damit brüsten konnte, dreißig Männer aufgespürt und sie den Gesetzeshütern tot oder lebendig gebracht zu haben, wurde er in New Mexico zum Deputy U.S. Marshal ernannt und später im Utah Territory zum Special Federal Marshal.

      Und nun, nach all dem Töten, all den Männern, die er aufgespürt, all den Verurteilten und Mördern, die er gefangen genommen hatte, war er auf der Suche nach etwas anderem: Einem Killer, der sich wie ein Mensch verhielt und die Gier eines Tieres besaß.

      Kapitel 21

      Es war schon spät, als Longtree die Leiche fand.

      Er war gerade dabei, sich einen Weg durch das Eichengestrüpp eine Böschung hinunter zu suchen, als er etwas bemerkte, dass wie ein mit Schnee bestäubter Arm aussah. Sofort brachte er seinen Wallach zum Stehen, stieg ab und kämpfte sich durch die Schneeverwehungen auf das zu, was er gesehen hatte. Der Wind peitschte ihn mit brutalen, rauen Böen, die durch die Hügel pfiffen. Sein langer Büffelmantel flatterte um ihn herum, als er sich vornüberbeugte und anfing, durch die Verwehungen zu graben, um den Rest der Leiche zutage zu fördern.

      Er holte seine Laterne heraus und zündete sie an.

      Die Leiche war das Licht nicht wert; besonders nicht in einer Nacht mit schwarzem, heulendem Wind und bitterkaltem Schneegestöber. Longtree schätzte, dass der Mann etwa Mitte Vierzig gewesen war, und viel mehr ließ sich zu ihm auch nicht sagen. Die Leiche war verstümmelt, Brustkorb und Bauch aufgerissen. Das Fleisch war voller Krallenpuren und so zerrissen, dass es mit den zerfledderten Kleidungsstücken verknotet war. Beide Beine waren unterhalb der Knie abgetrennt und die Haut abgezogen. Der Kopf war verdreht, sodass das Gesicht nach unten im Schnee lag. Beide Arme waren abgerissen worden. Einer fehlte, der andere lag zerkaut und voller Zahnspuren in der Nähe, einen Colt in der rot gefrorenen Hand.

      Longtree versuchte, die Überreste umzudrehen, doch sie waren am Boden festgefroren. Mit seinen behandschuhten Fingern grub und stieß er im Schnee herum. Es war kaum Blut zu sehen, das meiste war zu glitzernden Kristallen gefroren. Aber nicht genug für ein Schlachtfest dieses Ausmaßes.

      Er folgerte daraus, dass der Mann an einem anderen Ort getötet und hierher geschleppt worden war, wo er ausgewaidet und verstümmelt wurde.

      Er sah sich nach den Überresten der Beine um, doch sie waren nicht zu entdecken.

      Im flackernden Licht betrachtete er erneut die Leiche.

      Es war aufgrund des schlimmen Zustands schwer, zu sagen, auf welche Art der Mann ums Leben gekommen war. Seine Kehle war herausgerissen. Außer einer verdrehten Leiter von Halswirbeln und zerstückelten Knorpeln war davon kaum etwas übrig. Er war an vielen Stellen aufgerissen worden und konnte an jeder der Dutzenden Wunden verblutet sein. Longtree nahm an, dass der Angriff plötzlich und bösartig stattgefunden haben musste. Aber nicht allzu plötzlich, denn der Mann hatte seine Waffe ziehen können – auch wenn sie ihm herzlich wenig genützt hatte.

      Der erste Angriff musste unerbittlich gewesen sein, brutaler, als man sich vorstellen konnte. Der Mann war schon längst tot, als er hier hingeworfen und gefressen wurde.

      Longtree untersuchte die Wunden, so genau es ihm im flackernden Laternenlicht möglich war.

      Wegen der Zahn- und Krallenspuren gab es für ihn keinerlei Zweifel: Dies konnte nur ein Tier getan haben. Ein riesiges und kräftiges Biest mit Eisenhaken als Klauen und Kiefern wie eine rasiermesserscharfe Bärenfalle. Kein Mensch war so stark. Kein Wahnsinniger, egal, von welchem Fieber sein Hirn befallen sein mochte, konnte die Kraft besitzen, einen Mann buchstäblich zu zerreißen. Und das Handwerkszeug, das notwendig wäre, um derartige Verletzungen zu hinterlassen, müsste so kompliziert sein, dass es man es sich nicht vorstellen konnte.

      Der Killer von Wolf Creek war ein Tier.

      Spezies: unbekannt.

      Longtree biss die Zähne zusammen, atmete tief die eisige Luft ein und hob den abgetrennten Arm auf. Das war nicht viel anders, als eine gefrorene Lammkeule zu handhaben. Er umklammerte den Körperteil mit den Knien und begann mit der grausigen Aufgabe, die Finger vom Revolver zu lösen. Er musste wissen, ob der Mann damit geschossen hatte. Die Leichenstarre und die tiefen Temperaturen hatten die Hand in eine Eisskulptur verwandelt. Die Finger knirschten, als er sie vom Colt weg bog. Zwei brachen komplett ab und fielen in den Schnee.

      Es war eine grauenhafte Arbeit.

      Aber es war nicht das erste Mal, dass er Derartiges machen musste. Ein Mann in seinem Beruf brachte viel Zeit damit zu, die Toten dazu zu bewegen, ihre Geheimnisse preiszugeben.

      Mit dem Revolver war geschossen worden. Nur drei Patronen steckten noch im Magazin.

      Er legte den Arm und die Waffe neben die Leiche, stieg auf sein Pferd und ritt in eine kleine Schlucht, die durch eine Reihe Kiefern geschützt wurde. Er machte den Rappen an einem Baum fest und hackte mit dem Beil etwas Feuerholz. Der Wind war in der Schlucht nur noch als sanfte Brise zu spüren, und er brachte das Feuer mühelos zum Brennen. Hier würde er über Nacht bleiben. Am Morgen würde er die Leiche nach Wolf Creek schleifen und mit der Arbeit beginnen, wegen der er gekommen war.

      Er sattelte den Rappen ab, zerrte die Satteldecke vom Pferd und drapierte sie über ein paar Steine, damit sie trocknen konnte. Das Pferd hatte sie feuchtgeschwitzt. Er rollte sich vor dem prasselnden Feuer zusammen und kaute etwas Trockenfleisch aus seiner Verpflegungstasche.

      Dann nickte er ein.

      Kapitel 22

      Lange schlief er nicht.

      Irgendwann nach Mitternacht hörte er Pferde den Pfad hinaufkommen, der den Hang über ihm entlanglief und nach Wolf Creek führte. Mindestens ein halbes Dutzend hörte er bis in die Nähe seines Lagers kommen. Die Reiter stiegen ab. Sie mussten den Rauch von seinem

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