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er da schon? Die drei Gangarten Schritt, Trab und Galopp konnte er inzwischen unterscheiden, doch ihm fehlte ein Blick für Feinheiten, für Übergänge, für das Zusammenspiel von Pferd und Reiterin, kurz, für alles, was mir Reiten bedeutete. Warum also ausgerechnet heute?

      Ich führte Fango auf die heruntergelassene Rampe, er ging brav in den Hänger und machte sich über das prall gefüllte Heu-Netz her. Ich stemmte die Rampe hoch und verriegelte die Tür. Morgen würde Iris Nine ins Jura bringen; bevor ich mich zu den beiden Männern setzte, wollte ich schnell noch einmal bei ihr vorbeigehen und nachsehen, ob die Stute gut eingedeckt war.

      Am Putzplatz vor dem Stall stand eine neue Einstellerin mit ihrem Pferd. Sie war vor kurzem mit ihrem Friesen, einem massigen, schwarzen Kerl, auf den Leierhof gekommen. Die Frau schaute kurz auf, als ich vorbeiging und nickte mir zu. Sie hatte die Stöpsel eines Headsets in den Ohren und murmelte irgendetwas vor sich hin. Von den anderen Pferdebesitzern ließ sich heute Abend keiner blicken.

      Als Roberto noch Reitlehrer bei uns war, herrschte um diese Zeit immer Hochbetrieb. Die Pferdemädchen hatten ihre Hausaufgaben erledigt oder kamen von der Arbeit und Roberto gab eine Reitstunde nach der anderen. Doch nach seinem plötzlichen Weggang hatte sich alles geändert. Zwar waren die meisten Boxen wieder belegt, doch Tom musste sich anstrengen, um die Pferdebesitzerinnen, die immer anspruchsvoller wurden, was das Futter und die Einstreu anging, bei der Stange zu halten.

      Im Stall war es wärmer als draußen, die Pferde standen mit gesenkten Köpfen in ihren Boxen und kauten geräuschvoll an ihrem Heu. Ein kurzer Blick in meine Richtung, ein aufgerichtetes Ohr, ein Schnauben, das war alles.

      Nines Boxentür stand offen. Wie gut, dass ich noch einmal nachgesehen hatte; es war meinem Pferd zuzutrauen, dass sie die Tür ganz aufschieben und einen Ausflug auf die Stallgasse machen würde. Tom ließ sich beim Füttern immer viel Zeit, er hatte noch nie vergessen, die Gittertür zuzuschieben, doch wer sonst hätte die Tür öffnen können?

      Ich blieb wie angewurzelt stehen, was ich sah, rührte mich zu Tränen.

      Gerson stand neben Nine, er hatte einen Arm über ihren Widerrist gelegt und seine Wange an ihren Hals geschmiegt. Die beiden schienen so vertraut miteinander, als ob sie jeden Tag stundenlang miteinander spazieren gingen. Nine, die meine Nähe spürte, spitzte die Ohren und streckte mir den Kopf entgegen, und Gerson sagte, sichtlich verlegen: „Sie fährt doch weg morgen, ich wollte mich von ihr verabschieden.“

      Ich ging auf ihn zu und dann umarmten wir uns. Nine schnaubte leise, als wolle sie sicherstellen, dass alles in Ordnung mit uns wäre, dann legte sie ihren Kopf für einen Augenblick auf Gersons Schulter. Sie schaute mich an, schnaubte noch einmal und knabberte an ihrem Stroh.

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      „Wenn alles gut geht, sind wir in fünf Stunden da.“ Iris stieg in ihren dunkelgrünen Range Rover. „Ich ruf dich an, sobald ich Nine ihren neuen Stall gezeigt habe.“

      „Wir bleiben in Kontakt! Informiere mich über alles, was Nine betrifft, auch Belangloses.“

      „Versprochen!“

      Ich ging um den Hänger herum und kontrollierte die Tür. Wenn es so etwas wie ein gutes Vorzeichen gab, dann war es der Umstand, dass Nine ohne den geringsten Widerstand in den Anhänger gegangen war. Mit Grausen erinnerte ich mich, wie sie sich gegen das Verladen gesträubt hatte, als ich sie wegen einer schweren Kolik in die Tierklinik hatte bringen müssen. Ein Schritt auf die Rampe; Stopp. Reiterstandbild. Zwei Schritte zurück, dann wieder einen Schritt vor und gleich zwei zurück. Und das Ganze noch einmal und dann noch einmal. Ich fuhr zusammen. Iris hupte. Sie wollte los, je früher sie ankämen, desto besser. Das Wetter würde halten, und es war Sonntag, da blockierten die LKWs nicht die ganze rechte Fahrspur auf der Autobahn.

      „Also dann, macht's gut, ihr zwei!“

      „Bis bald! Ich freu mich auf dich – warte nicht zu lange, bis du uns besuchst – und bring Gerson mit!“

      Das Seitenfenster schloss sich geräuschlos, Iris gab vorsichtig Gas und hupte noch einmal zum Abschied. Ich stand am Hoftor und winkte, bis das Gespann hinter dem Hügel am Wegkreuz verschwand.

      Ich wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel. Noch vor einer Woche hätte ich nicht geglaubt, dass ich mich bei Nines Abreise so traurig fühlen würde.

      Gerade da kam Tom aus dem Stall. „Hallo Vera, schon so früh unterwegs?“, rief er mir zu. Ich zuckte matt mit den Achseln, weil ich keine Lust auf ein Gespräch hatte. Als er mein langes Gesicht sah, sagte er: „Sie kommt doch wieder und noch dazu mit einem Fohlen.“

      Ich seufzte: „Du hast ja recht!“

      „Gut, dass ich dich sehe“, sagte Tom. „Luis Maertens hat angerufen, er will heute schon deine Box haben.“

      Hätte natürlich auch Zeit bis morgen gehabt, dachte ich, doch warum eigentlich nicht? Die Box war leer und ich tat ihm gern den Gefallen. „Von mir aus“, sagte ich. Ich helfe dir beim Ausmisten, wenn du willst.“

      „Nicht nötig, das kann ich schneller als du!“

      Innerhalb kurzer Zeit hatte er die ganze Box gesäubert. Dann brachte er frisches Stroh und wunderbar duftendes Heu. Bevor er eine Schippe Hafer in den Trog gab, schrubbte ich noch schnell die Krippe und wischte die Tränke aus.

      „Er wird jede Minute hier sein“, sagte er, „Es ist schon zehn durch.“

      „Und hier bin ich!“ Luis gab Tom die Hand und mir ein Küsschen auf die Wange. Er warf einen Blick in die Box: „Da wird er sich wohlfühlen, der Dicke!“ Tom hatte weder an Stroh noch an Heu gespart, die Krippe blitzte vor Sauberkeit und das Wasser in der Tränke war glasklar.

      „Du erlaubst doch, Vera?“ Doch er wartete meine Antwort gar nicht ab, zog einen Schraubenzieher aus der Hosentasche und schraubte Nines Namensschild ab, das er auf den Boden fallen ließ. Dort blieb es liegen. Ich tat so, als ob ich seine Unachtsamkeit nicht bemerkt hatte und las das neue Schild:

      Fango XX 4.6.1997

      von Wiesenklee XX aus der Laguna XX.

      „Hat er nur Blüter in seiner Verwandtschaft?“, fragte ich.

      Luis grinste. „Genau das bedeutet das XX, alles Vollblutpferde“, sagte er in einem belehrenden Ton. „Ich habe nicht alle draufschreiben lassen. Die Stuten sind meistens Trakehner.“

      Ich hob Nines Schild auf, das immer noch auf dem Boden lag. „Nine ist eine Nerwa Tochter“, sagte ich leise.

      „Was sagst du?“, fragte er, doch ich spürte, dass er mit seinen Gedanken anderswo war. „Willst du ihn heute noch reiten, ich habe Zeit, wir sollten noch einmal die Seitengänge ansprechen.“

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      Am nächsten Tag kam eine E-Mail von Iris, gespickt mit Smileys. „Wir sind gut angekommen und Nine hat sich problemlos eingewöhnt. Das Futter schmeckt ihr. Unser Klima ist rauer als bei euch, wir lassen uns Zeit.“

      Wenn Iris zu viel zu tun hatte, schickte sie mir eine SMS:

      „Nine fühlt sich wohl. Ihre Box hat einen kleinen Auslauf. Bald kommt der Schmied, er wird ihr die Eisen abnehmen.“

      In diesem Jahr ließ der Schnee im Jura auf sich warten. „Meine Pferde stehen noch auf der Weide“, berichtete Iris. „Ich will Nine in die Stutenherde stellen. Sie kommt ohne Hufeisen gut zurecht, wenn du willst, kannst du sie auch später barfuß gehen lassen.“

      Mit jeder neuen E-Mail vermisste ich meine Stute mehr. Allmählich realisierte ich, dass ich mich auf eine längere Zeit ohne Nine einstellen

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