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Haigasun diesen langen Wechselgesang mit dem Diakon fehlerlos zu Ende führte, zeigten sich den Augen des andern Ter Haigasun ganz unerträgliche Dinge. Das welke Laub, das überall verstreut lag, war gar kein welkes Laub, sondern Schmutz, Mist, irgendein unbeschreiblicher Kot, von Feinden Gottes, von Verbrechern auf den Altar geworfen. Eine andre Erklärung war unmöglich, denn es konnte ja nicht Schmutz vom Himmel geregnet haben. Ter Haigasun stierte ins Brevier, um die grauenhafte Entweihung nicht sehen zu müssen. Aber sah sie das Volk nicht? Und hier geschah die erste Verwirrung im Text. Der Diakon hatte gesungen: »Allmächtiger Herr, unser Gott erhalte uns und erbarme Dich unser!«

      Jetzt sollte der Priester mit seinen Worten einfallen. Ter Haigasun aber schwieg. Der Diakon drehte sich mit großen Augen zum Sängerchor. Da sich aber Ter Haigasuns Stimme noch immer nicht erhob, trat er einen Schritt näher und flüsterte scharf:

      »Im Hause der Heiligkeit ...«

      Der Priester schien nichts zu hören. Der Diakon flüsterte jetzt schon halblaut und verzweifelt:

      »Im Hause der Heiligkeit und am Orte ...«

      Ter Haigasun erwachte:

      »Im Hause der Heiligkeit und am Orte des Lobgesanges, in dieser Wohnung der Engel und an dieser Sühnstätte der Menschen, werfen wir uns vor diesem Gott angenehmen und lichtvollen Zeichen in Ehrfurcht nieder und beten an ...«

      Ter Haigasun atmete schwer. Unter der Krone rann ihm der Schweiß in Stirn und Nacken. Er wagte es nicht, ihn abzutrocknen. Hinter seinem Rücken schwang sich jetzt die näselnde Stimme des Obersängers Asajan auf: »An dieser geweihten Opferstätte des Tempels sind wir versammelt zur Bittfeier ...«

      Die eitle eingebildete Stimme Asajans reizte den Priester wie noch nie. Wann werde ich den Menschen los, dachte er. Zugleich ließ der Druck in den Schläfen ein wenig nach. Vielleicht überstehe ich's doch, Christus, hilf mir! Ter Haigasun starrte mit angstvollen Augen auf das Altarkruzifix. Die Stimme eines der Wesen, aus denen er bestand, warnte ihn: Sieh ja nicht fort! Doch gerade dieser Warnung wegen mußte er fortsehn, vorwärts nämlich, zur hohen Wand aus Buchsbaumzweigicht, die den Altar abschloß. Dort aber stand jemand, leicht an den Pfosten des Rahmens gelehnt, mit gekreuzten Armen, eine Zigarette rauchend. Unerhörte Frechheit! Ter Haigasun verschluckte diesen Ausruf. Beim nächsten Hinblicken war dieser Jemand aber nicht mehr Sarkis Kilikian, den er verabscheute, den er hatte in Fesseln legen lassen. Dieser Jemand war zeitweilig überhaupt ein Niemand. Die Wand starrte leer. Dann kam der Russe wieder, verwandelte sich in alle möglichen Leute, einmal schien es sogar Krikor zu sein, zuletzt geschah es, daß ein Priester im Meßgewand dort stand. Ter Haigasun hielt es anfangs für lächerlich, daß dieser Priester er selbst sein sollte. Er war es ja auch nicht, denn er trug doch keine militärische Lammfellmütze, sondern die goldverzierte Krone:

      »Segen und Preis dem Vater, Sohne und Heiligen Geist ...«

      Weiter kam er nicht. Zwischen dem Menschen an der Wand und ihm schwebte seine eigene Stimme und bohrte sich in sein Gehör: »Was gaukelst du da am hellen Tag? Wozu dieser Bittgottesdienst?«

      Ter Haigasun suchte mit seinem Blick die aufsteigenden Weihrauchwolken. Die Gestalt und die Stimme aber ließen nicht ab von ihm:

      »Was für ein Teufel von Gott müßte das sein, der seinem frommen Armeniervolk dieses Jahr zubereitet hat ...«

      Ter Haigasun begann nach der Vorschrift den Vespergesang anzustimmen:

      »Heiliger Gott, heilig und unsterblich, erbarme Dich unser! Bewahre uns vor der Versuchung und all ihren Pfeilen!«

      Jetzt schien die Antwort gar nicht mehr von Kilikian, sondern ganz aus ihm selbst zu kommen:

      »Du glaubst nicht, du glaubst ja nicht an das Wunder. Du bist überzeugt, daß morgen viereinhalbtausend armenische Leichen den Damlajik bedecken werden.«

      Der Diakon reichte Ter Haigasun das Räucherfaß, damit er nach dem Brauche das Volk inzensiere. Ein unsinniges Durstgefühl durchzuckte Ter Haigasun. An der Wand lehnte niemand mehr. Doch die Stimme war nahe wie zuvor:

      »Du willst mich töten. Töte mich, wenn du den Mut hast.«

      Das Räucherfaß klirrte aus der Hand des Priesters zu Boden. In dieser Sekunde entstand ein ganz neuer Ter Haigasun. Mit einem barbarischen Aufschrei ergriff er einen der schweren Silberleuchter und schwang ihn hoch über seinem Kopf. Doch er stürzte sich nicht, um seinen Feind zu finden, auf die Erscheinung vor der Zweigichtwand, nein, sondern mitten unter die Gemeinde.

      Ohne die Hungervision und den Anfall Ter Haigasuns wäre es wahrscheinlich zu gar keinem »Putsch« gekommen. Auch die Deserteure der Südbastion waren zum größten Teil Armeniersöhne, voll Scheu und Ehrfurcht vor dem Altar. Der Langhaarige aber hatte seine Truppen, überfallsbereit, in der Nähe der Regierungsbaracke versammelt. Als der Aufruhr am Kopf des Altarplatzes losbrach, hielt er das Zeichen für gegeben. Zehn von seinen Leuten begannen, um das nötige Chaos zu erzeugen, Schreckschüsse in die Luft zu knattern. Die andern stießen die Tür ein und hatten binnen wenigen Sekunden schon die Munitionsverschläge entdeckt und vor die Baracke geschleppt. Was aber an den Altarstufen geschah, das geschah so traumschnell, daß weder die Muchtars noch auch Gabriel zum Bewußtsein des Vorgangs kamen. Dabei war das Traumhafte wesentlicher als die Schnelligkeit, denn vielleicht dauerte das Ganze mehr als zwei Minuten. Es waren freilich zwei Minuten, die auf einem unbekannten Nebengeleise der Zeit einhersausten. Als Ter Haigasun mit dem hochgeschwungenen Leuchter sich unter die Andächtigen geworfen hatte, war alles auseinandergefahren. Gabriel Bagradian sah, daß der Priester auf eine Gruppe von Deserteuren zustrebte. Auch er hatte nicht begriffen, wer dieses Pack zum Gottesdienst und zur Versammlung geladen hatte. Ter Haigasun schien einen bestimmten Mann zu suchen. Doch schon im nächsten Augenblick war er in einem Haufen dieser Bewaffneten eingeklemmt. Sie entwanden ihm den Leuchter, sie stießen ihn brüllend hin und her, endlich rissen sie ihn zu Boden. Jetzt knatterten die Schüsse im Rücken der Menge auf. Ein wahnsinniger Angstschrei drosch alles auseinander. Die Muchtars mit ihren Weibern versuchten jammernd zu fliehen. Bagradian aber drängte mit vorgehaltenem Revolver in den Knäuel, um Ter Haigasun zu befreien. Einer der Deserteure, der ihm folgte, ließ mit voller Wucht den Gewehrkolben auf ihn niedersausen. Gabriel stürzte zusammen. Hätte der Hieb den Tropenhelm von seinem Kopf geschleudert, so wäre es sein Ende gewesen. Der Kolbenschlag trieb aber den widerstandsfähigen Korkhelm tief in sein Gesicht, wobei zugleich die tödliche Wucht abgefangen wurde. Bagradian fiel in Betäubung, ohne wirklich verletzt zu sein. Andre hatten inzwischen Ter Haigasun an einen der tief in die Erde gerammten Eckpfosten des Altargerüstes mit starken Hanfstricken gebunden. Der Priester wehrte sich lautlos, aber mit erstaunlicher Kraft. Hätte er das Dolchmesser gehabt, das er in seiner gewöhnlichen Kutte bei sich trug, einer von den Verbrechern wenigstens hätte mit dem Leben bezahlen müssen. Die Muchtars standen in der Feme, keuchend und schlotternd. Alte Leute waren sie alle mit hungerverschrumpften Muskeln. Sie konnten Ter Haigasun nicht beispringen. Ihnen fehlte ja selbst die Kraft, sich in Sicherheit zu bringen. Die Weiber und Töchter versuchten es, sie mit unmenschlichen Schreien zurückzuzerren. Die Menge verstand noch immer nichts. Durch das Gewehrgeknatter halb wahnsinnig geworden, drängte sie vorwärts gegen den Altar. Da aber zugleich die vorderen Reihen zurückfluteten, entstand ein heilloser Strudel von Leibern, Angst- und Wehgekreisch. Schon stießen ein paar der schlimmsten Burschen, die seit Monaten kein Weib berührt hatten, von außen her wie Fischadler in den Tumult und packten mit ihren schmutzigen Fängen eine Frau hier, ein Mädchen dort. An Ort und Stelle versuchten sie den aufgellenden Opfern die Feiertagskleider und den Schmuck vom Leibe zu zerren. Ein andrer Trupp, der größere Nüchternheit bewies, stürmte in die Hüttengassen, um die ärmste Armut zu plündern. All dies war von solch unermeßlicher Greulichkeit, daß die menschliche Seele, um aufatmen zu können, diese Schurkerei lieber für Tollwut ansehn möchte, für die Todeszuckung eines Volkskörpers, dem der Rassenfeind jeden Nerv einzeln durchschnitten hatte. So war's denn noch tröstlich, daß nicht alle von den Spießgesellen sich aktiv beteiligten und eine erhebliche Anzahl nur Zuschauer-, Mitläufer- und Statistendienste leistete.

      Mittlerweile machten sich die ersten Zeichen der Gegenwehr bemerkbar. Einige vom Lagervolk, die noch halbwegs bei Kräften waren, bekamen diesen und jenen Deserteur, der zwischen ihnen festgekeilt stand, zwischen die Fäuste.

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