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Das Volk hatte den Kampf mit dem Feuer aufgegeben. Die Willenskraft reichte nur mehr zu kopflosem Getümmel aus, das allmählich zu erstarren begann. Auch die Zehnerschaften, die Tschausch Nurhan zu Hilfe gesandt hatte, konnten nichts mehr retten. Sie sahen dem Feuer müßig zu, das die Hütten nicht von außen zu bespringen, sondern das aus ihrem Innern auszubrechen schien, als habe es dort nur auf diese Gelegenheit gewartet. Die prasselnden Laubdächer wurden emporgehoben, und im Luftzug wirbelten Fetzen und Lumpen in die Höhe. Dichtgeschart hockte bald alles auf der Erde des großen Platzes, die Frauen, die Kinder, die Alten. Diese Verhungerten rührten sich nicht mehr. Auf den erdigen Gesichtern zuckte der Brandschein, ohne daß die Augen ihn mehr zur Kenntnis nahmen. Ihre Haltung bekundete nur eine einzige Sehnsucht, keiner der Führer möge es sich ja einfallen lassen, von ihnen einen Schritt, eine Handbewegung, die geringste Spur neuer Aktivität zu fordern. Hier wollten sie hocken und keinen Widerstand mehr leisten bis zum Ende. Jener Zustand, welchen man das Wohlbehagen der Vernichtung nennen könnte, war erreicht.

      Doch noch einmal wurden die verdorrten Leiber und Seelen aus dem wohligen Einverständnis mit dem Tode gerissen. Hinter den geschlossenen Lidern hatte sich der Geist Bagradians gesammelt. Das geschah fast wider seinen Willen. Anfangs bemühte er sich sogar, der schmerzhaften Anstrengung zu entgehn, die ihn die Konzentration kostete. Dann war es so, als denke im schallenden Bergwerk seines Kopfes nicht er, Gabriel Bagradian, sondern, unabhängig von ihm selbst, der Auftrag, den er einst dort unten im Tal übernommen hatte, der Auftrag, die Verteidigung bis zur letzten Möglichkeit durchzuführen. Während das Bewußtsein des eigenen Ich fast zur Gänze erloschen war, kombinierte eine unbestechliche Kraft in ihm: Ist die letzte Möglichkeit wirklich verloren? Nein! Die Türken haben wahrscheinlich die Südbastion besetzt. Sie führen Maschinengewehre mit sich. Das Lager brennt zusammen. Was hat zu geschehn? Eine neue Verteidigungslinie, die ihnen den Weg abschneidet, so gut es geht! Vor allem aber; das Lagervolk muß von der Bergfläche fort, hinunter ans Meer. Dann zu den Haubitzen!

      Awakian näherte sich ihm. Er schrie ihn an:

      »Was suchen Sie noch hier? Schnell zu Nurhan! Er hat sich nicht fortzurühren. Alle Zehnerschaften, die ich für den Überfall aufgestellt habe, sofort zu mir! Auch die Hälfte der Ordonnanzen und Späher. Wir müssen sofort eine neue Linie bilden, mit Kopfdeckungen wenigstens.«

      Awakian zögerte, wollte noch Fragen stellen, doch Gabriel stieß ihn von sich und trat mitten unter das erstarrte Volk:

      »Warum verzweifelt ihr, Brüder und Schwestern? Kein Grund dazu! Wir haben noch immer siebenhundert Kämpfer und Gewehre und die beiden Geschütze. Ihr könnt ruhig sein! Es ist besser für die Verteidigung, wenn die Gemeinden sich in dieser Nacht unten an der Küste lagern. Die Männer der Reserve aber bleiben hier!«

      Nun hatten sich auch die Muchtars wieder gefaßt. Ter Haigasun erteilte ihnen den Befehl, ihre einzelnen Dörfer zu sammeln und geschlossen den Steilpfad hinabzuführen. Er selbst werde vorangehn, um die besten Lagerplätze ausfindig zu machen. Der Priester fieberte ohne Zweifel und mußte eine gewaltige Anstrengung machen, um ins Leben und in die Pflicht zurückzukehren. Sein Gesicht mit dem versengten Bart war ganz klein und dunkel, als er sich jetzt zu Gabriel wandte:

      »Wichtiger als alles andre ist die Strafe. Du mußt die Schuldigen töten, Bagradian!«

      Gabriel sah ihn stumm an. Ich werde Kilikian nicht finden, dachte er. Nach und nach hatten sich die zusammengesunkenen Menschen wieder erhoben. Es begann nun ein todestrunkenes Durcheinander. Die Muchtars, die Dorfpriester, zwei von den Lehrern stießen und schubsten ihre Gemeinden in Haufen zusammen. Alle ließen alles mit sich geschehn. Selbst die Kinder schrien nicht mehr. Bedros Hekim entfernte sich heimlich, um wenigstens jene Kranken der beiden Lazarette in Sicherheit zu bringen, die sich bewegen konnten. Das Unglück gab diesem hinfälligen Wrack von altem Menschen Riesenkräfte.

      Gabriel Bagradian überließ die Auflösung des Lagers Ter Haigasun. Keine Sekunde durfte mehr versäumt werden, denn wer weiß, wie weit sich die Türken trotz der Nacht vorwagten. Die Haubitzen waren in Gefahr. Auch das Lumpenpack der Deserteure bildete ein großes Fragezeichen. Vorwärts! Jetzt galt es nicht, die Lage genau zu durchdenken, sondern einfach zu handeln, blind und entschlossen. Gabriel packte alles zusammen, was sich an Bewaffneten und Halbbewaffneten, an Jungen und Alten um ihn versammelt hatte. Selbst die kleineren Buben mußten mit. Windstille war eingetreten. Der scharfe Holzqualm drückte auf die Menschen nieder. Der Gestank von verbrannten Stoffen mischte sich drein. Man konnte kaum atmen, die Augen tränten. Gabriel gab den Aufbruchbefehl. Er und Schatakhian, der sich mittlerweile eingefunden hatte, schritten der breit entwickelten Schützenlinie voran. Hinter ihnen trabten die müden Männer, hundertfünfzig an Zahl, darunter ein Drittel Sechzigjährige. Und diese elende verhungerte Gesellschaft sollte vier kriegsmäßige Kompanien mit Maschinengewehren, unter dem Kommando von einem Major, vier Hauptleuten, acht Oberleutnants, sechzehn Leutnants siegreich zurückwerfen? Es war gut, daß Bagradian die Stärke des Feindes nicht kannte. Doch wäre sie ihm auch bekannt gewesen, er hätte nicht anders handeln können. Sein Kopf wurde immer größer und empfindlicher. Die Beine hingegen hatten jedes Gefühl verloren. Es war ihm, als ging er neben sich selbst.

      Auf dem Wege zur Haubitzkuppe kam die Schar an dem großen Friedhof vorbei. Das Gräbervolk hatte seine Sachen nach alter Gewohnheit bei den Toten verstaut. Nun waren Nunik, Wartuk, Manuschak und die andern alle in eifriger Bewegung, um die prallen Säcke mit den muffigen Altertümern aufzuhucken. Sato half ihnen dabei. Die Übersiedlung schien dieses Volk weiter nicht aus der Fassung zu bringen. Die beiden letzten Gräber gehörten Krikor und dem Bagradiansohn. Krikors Grab war nach seinem Willen durch keinerlei Zeichen kenntlich gemacht. In Stephans Hügel stak ein rohes Holzkreuz. Der Vater ging daran steif vorüber, ohne es mit einem Blick zu streifen. Die Nacht war nun vollkommen. Das Brandlicht aber wölbte sich wie eine rote Kuppel über den Damlajik. Man hätte meinen können, eine große Stadt brenne und nicht ein paar hundert laubgeflochtene Hütten und einige Baumgruppen.

      Mittwegs aber, dort wo die grasige Kuppe der Haubitzstellung schon anzusteigen begann, geschah etwas ganz Unerwartetes. Gabriel und Schatakhian blieben stehn. Die schlapp hinter ihnen trottende Schar warf sich zur Erde. Eine Linie von Bewaffneten lief die Höhe herab. Man sah nur Silhouetten, die mit den Gewehren gegen die Kommenden erregte Zeichen machten. Die Türken? Die meisten suchten in der Finsternis irgendeine Deckung. Die Schattenbilder aber, die sich vom Brandhimmel zuckend abhoben, kamen zaghaft näher. Dreißig Männer waren es ungefähr. Gabriel bemerkte, daß sie einen Gefesselten vor sich her stießen. Er ging ihnen entgegen. Die Leute hatten Laternen bei sich. In fünf Schritt Entfernung erkannte er in dem Gefesselten Sarkis Kilikian. Ein Teil der Deserteure. Sie warfen sich vor Bagradian platt nieder, die Erde mit der Stirn berührend. Urgebärde der Sühne und Zerknirschung. Was gab es da noch zu reden und zu rechtfertigen? Der Ausweg war ihnen abgeschnitten. Die Stricke, mit denen Kilikian gebunden war, bildeten den Beweis, daß sie das Ungeheuerliche bereuten, einen Sündenbock darbrachten und jegliche Strafe entgegennehmen wollten. Einige häuften mit beinahe kindischer Hast den Raub zu Gabriels Füßen. Unter den gestohlenen Sachen befanden sich auch die Munitionsverschläge sowie alles aus den Zelten Entwendete. Gabriel aber sah nur Kilikian. Der Gefesselte war von seinen Leuten auf die Knie gerissen worden. Sein Kopf lag im Nacken. Im dünnen Feuerzwielicht waren seine Züge gut erkennbar. Aus den ruhigen Augen Kilikians sprach ebensowenig der Wunsch, weiterzuleben, wie der Wunsch, zu sterben. Sie betrachteten ihren Richter ohne jede Erregung. Bagradian neigte sich tiefer zu diesem grauenhaft schweigsamen Gesicht hinab. Auch in diesem Augenblick noch konnte er den Hauch achtungsvoller Zuneigung nicht unterdrücken, der ihn angesichts des Russen jedesmal befiel. War Kilikian, dieser gespenstische Zuschauer, der wahrhaft Schuldige? Gleichviel! Gabriel Bagradian entsicherte den Armeerevolver in seiner Tasche. Dann hob er ihn schnell gegen die Stirn des Russen. Der erste Schuß versagte. Kilikian hatte die Augen nicht geschlossen. Seine Nasenflügel und der Mund zuckten. Es war wie ein unterdrücktes Lächeln. Bagradian aber dünkte es, als habe er den versagenden Schuß gegen sich selbst gerichtet. Als er das zweitemal abdrückte, war er so schwach, daß er sein Gesicht abwenden mußte. So fiel Sarkis Kilikian, nach einem unfaßbaren Leben zwischen Gefängniswänden – nachdem er als Knabe dem türkischen Massaker und als Mann der türkischen Hinrichtungssalve entronnen war –, zuletzt durch die Kugel eines Volksgenossen.

      Gabriel Bagradian winkte

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