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      Der Lehrer aber wies sie zurecht:

      »Es muß eine Reihenfolge sein.«

      Mitternacht war schon vorüber, als man daranging, die Reihenfolge festzusetzen. Arzruni schlug das Los vor. Oskanian aber meinte, den Anfang müßten jedenfalls die Frauen machen, weil es sich so gehöre, die Älteste zuerst, dann die Jüngere und dann die Jüngste. Diese Entscheidung begründete er nicht näher, aber da keines der Weiber widersprach, so blieb es dabei. Zum Schluß erklärte er sich bereit, zwischen sich und seinem Apostel das Los sprechen zu lassen. Das Schicksal entschied gegen ihn oder, wenn man will, für ihn, denn es gab ihm den Vorzug vor dem Seidenweber. Die Zeit der großen Windstille herrschte. Das aufgerüttelte Meer jedoch brummte noch immer tief unten. Die Finsternis war zum Beißen. Der Lehrer tastete sich, unendlich vorsichtig kriechend, mit der Laterne ungefähr bis zum Rand des Felsens vor. Dort stellte er mit angstvoller Hand die Laterne hin. Das Licht kennzeichnete, sonderbar ruhig, die Grenze zwischen Hier und Dort. Oskanian zog sich schnell zurück. Dann machte er, als ein Wegweiser und Zeremonienmeister des Abgrunds, eine höflich einladende Handbewegung gegen die Laterne hin.

      Die Matrone kniete ein paar Minuten lang und bekreuzigte sich immer wieder. Dann ging sie mit eiligem Trippelschritt vorwärts und verschwand ohne Schrei. Die junge Mutter folgte ihr sogleich. Sie nahm einen Anlauf. Ein kurzer scharfer Schrei ... Die Schwermütige war schon weit zaghafter. Sie bat den Lehrer, ihr im letzten Augenblick einen Stoß zu geben. Oskanian aber verweigerte diesen Dienst mit großer Heftigkeit. Die Schwermütige rutschte auf allen vieren zum Rand. Dort schien sie sich ihren Entschluß wieder zu überlegen. Sie griff nach der Laterne, warf sie dabei um. Die Laterne rollte ins Nichts. Anstatt sich ruhig zu verhalten oder zurückzukriechen, streckte das Mädchen aber die Hände nach der Laterne aus, beugte sich vor und verlor das Gleichgewicht. Ein gräßlicher endloser Schrei, denn die Unglückliche klammerte sich noch volle zwei Minuten an irgendeinen Felsvorsprung an, ehe sie hinabsauste ... Oskanian und Arzruni standen schweigend in der Finsternis. Eine lange, lange Zeit verging. Noch immer zerschnitt der Todesschrei der Schwermütigen das Hirn des Lehrers. Endlich mahnte der Apostel den Propheten:

      »Nun, Lehrer, die Reihe ist an dir ...«

      Hrand Oskanian schien die Lage reiflich zu überlegen. Dann meinte er, ohne eine besonders selbstbewußte Stimme zu haben:

      »Die Laterne ist fort. In der Finsternis mag ich's nicht tun. Warten wir, bis die Dämmerung kommt. Lange kann's ja nicht mehr dauern ...«

      Der Weber wendete mit Recht ein:

      »In der Finsternis ist es ja viel leichter, Lehrer!«

      »Für dich vielleicht, nicht für mich«, wies ihn der Prophet wütend zurück, »ich brauche Licht!«

      Margoß Arzruni gab sich mit dieser erhaben anmutenden Begründung offenbar zufrieden. Er hielt sich aber ganz nahe an Oskanian. Wenn der Lehrer, der sich neben ihm niedergelassen hatte, die leiseste Bewegung machte, packte er ihn sofort beim Rockzipfel. (Es war das schmutzige und zerrissene Wrack jenes schwalbenschwänzigen Prachtrocks, den sich Oskanian einst hatte anfertigen lassen, um Gonzague bei Juliette auszustechen.) Der Griff, mit dem Arzruni seinen Propheten festhielt, zeigte Angst, Ergebenheit und Mißtrauen. Hrand Oskanian war somit ein Gefangener seiner Lehre. Einmal sprang er jählings auf. Sofort aber schoß der Seidenweber neben ihm hoch. Es gab für ihn keine Aussicht, dem Jünger zu entkommen. Als nach einer Ewigkeit der Felsrand aus dem ersten nebligen Morgengrauen tauchte, erhob sich Arzruni und legte seinen Kittel ab:

      »So, Lehrer! Die Finsternis ist fort ...«

      Oskanian rekelte ausführlich seine Glieder, gähnte, als habe er einen erquickenden Schlaf hinter sich, und stand gemächlich auf. Vorerst schneuzte er noch mehrmals trompetend seine Nase, bevor er, von seinem Apostelwächter gefolgt, die notwendigen Schritte machte. Ein gutes Stück vor dem scharfen Rand jedoch drehte er sich um:

      »Es ist besser, du beginnst, Weber!«

      Der verschrumpelte Arzruni im schmutzigen Hemd näherte aufmerksam seinen Kopf dem Gesicht Oskanians:

      »Warum ich, Lehrer!? Wir haben gelost. Das Los hat dich erwählt. Die drei Frauen sind uns vorausgegangen ...«

      Oskanians umwuchertes Gesicht war weiß:

      »Warum du!? Weil ich der letzte sein will! Weil ich nicht will, daß du hinterher davonläufst und dich lustig machst!«

      Es hatte zunächst den Anschein, als überlege der Seidenweber tiefsinnig Oskanians Äußerung. Dann aber stürzte sich der Apostel unvermutet auf seinen Propheten. Dieser hatte den Angriff vorausgewittert. Er fühlte sehr bald, daß er trotz seiner Kleinheit stärker als der ausgemergelte Arzruni war. Und doch drohte ihm der fanatische Weber, der sich in seinem Glauben betrogen sah, gefährlich zu werden. Oskanian ließ sich ein Stück gegen die Felsschneide vorwärtszerren. Ohne Zweifel wollte ihn der Rasende mit in die Tiefe reißen. Da warf sich der Lehrer plötzlich auf die Erde, krampfte die eine Hand in einen niedern Strauch fest, mit der andern packte er das rechte Bein des Webers und brachte ihn zu Fall. An den drahtharten Strauch geklammert, stieß er seine Füße mit wilden Tritten in Gesicht und Leib des Gestürzten. Wie es geschah, wußte er selbst nicht, in der nächsten Sekunde schon stießen seine Füße ins Leere. Der Körper Arzrunis, des Seidenwebers, schlug über den Felsrand in den Nebel hinaus. – Oskanian saß starr. Nun schob er sich, immer noch sitzend, zurück, weiter, weiter. Er fühlte sich gerettet. Jedoch nur einen kleinen Augenblick. Dann wußte er, daß ihm auch dieser Sieg nicht mehr half. In die Gemeinschaft der Gerechten und Anständigen konnte er nie wieder zurückkehren, ebensowenig wie er fliehen konnte. Der kleine Lehrer sprang auf und ging mit stechenden Schritten hin und her. Während des Kampfes hatte ihm der Seidenweber den halben Schwalbenschwanz vom Rock gerissen. Seine spitze Brust bog sich vor wie immer in den mühsamen Stunden, da er seine arme Person zur Geltung bringen mußte. Manchmal aber klappte er zusammen und hüpfte im Nebel wie ein Vogel mit einer verwundeten Schwinge. Er versuchte sich mittels eines dichterischen Wortes, das sich plötzlich einstellte, selbst zu trösten und zu erschüttern. Zwanzigmal wiederholte er:

      »Im Sonnenschein, nicht in der Dämmerung.«

      Während dieser Gänge stolperte Oskanian über eine Stange. Es war die Fahne mit dem Hilferuf »Christen in Not«, die der Wind längst umgestürzt und vertragen hatte. Die Schüsselterrasse war sowohl als Späherposten wie als Begräbnisstätte schon seit Tagen verlassen. Hrand Oskanian nahm die ziemlich schwere Flaggenstange von der Erde auf, schulterte sie, ohne zu wissen, was er tat, und stapfte immer gehetzter umher, ein sonderbarer Fähnrich. Wie gerne hätte er die Sonne jetzt hinter das Amanusgebirge gebannt. Doch schon war sie da, rot und zornig. Noch ein hilflos zuckender Gedanke: Fort von diesem verfluchten Felsen! Ein Versteck suchen! Lieber langsam verhungern! Oskanian aber konnte nicht mehr zurück. Er mußte sein Wort vom Sonnenschein wahrmachen. Die Frauen und der Weber warteten. Die Fahne vor sich hertragend, zögerte er auf den Rand zu. Der Nebel zerriß unter ihm. Breite Balken, Schwaden, Bänke zogen in verschlungenen Tänzen umeinander, hie und da ein Stück des Meeres freigebend, das glatt und stumpf wie dunkelgraues Tuch lag. Auf einer Stelle dieses Tuches schimmerte etwas. Hrand Oskanian schloß die Augen. Nun war er wirklich verrückt geworden, was er stets gefürchtet hatte. Immer wieder öffnete und schloß er die Augen. Der Nebel verschwand mittlerweile, das schimmernde Ding aber nicht, das auf dem weiten Tuche festsaß wie angeheftet. Es schimmerte eigentlich gar nicht so recht, sondern war ein großes, blaugraues Schiff mit vier Schloten, das, von der Höhe aus gesehn, ziemlich klein und nicht ernsthaft wirkte. Einige Nebelfetzen umschwebten es noch. Der Lehrer hatte sehr scharfe Augen. Leicht konnte er in den angriffslustigen Strahlen der jungen Sonne die großen schwarzen Buchstaben am Bug erkennen: »Guichen.«

      Oskanian stieß ein paar jammernde Laute aus. »Guichen.« Das Wunder war geschehn. Doch nicht für ihn. Alle durften gerettet werden. Nur er nicht. Auf einmal begann er die sich breit entfaltende Fahne zu schwenken: »Christen in Not.« Immer schneller, wie ein Wahnsinniger schwenkte der Lehrer den gewichtigen Schaft, unermüdlich, minutenlang. Auf der Kommandobrücke des Panzerkreuzers wurde mit einer französischen Signalflagge geantwortet. Oskanian sah es nicht. Er wußte von sich selbst nichts mehr. Unablässig schwenkte er das weiße Laken in großen Halbkreisen.

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