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suchte den Führer. Doch dieser war nicht vorhanden. Denn sowohl Ter Haigasun als auch Gabriel Bagradian starrten noch immer wie im Halbschlaf vor sich hin. Bedros Hekim zählte nicht. Kein Muchtar und kein Lehrer zeigte sich; die waren alle mit der Rettung ihres Eigentums beschäftigt. In der verzweifelten Frist kam aber wenigstens Hilfe vom Nordsattel. Als Beweis für die unheimliche Geschwindigkeit des Ereignisses, das zwischen dem Anfall Ter Haigasuns und diesem Augenblick lag, kann es gelten, daß Awakian mit den sechs Zehnerschaften erst jetzt eintraf, nachdem alles vorbei war. Tschausch Nurhan hatte ihn sofort zu Hilfe gesandt, als die Deserteurschüsse aufknatterten. Awakian stürzte auf Gabriel zu:

      »Sind Sie verwundet, Effendi? ... Jesus Christus, wie sehen Sie aus? ... So reden Sie doch ...«

      Gabriel Bagradian aber redete nicht. Mit ein paar raschen Schritten verließ er, am lodernden Altar vorbei, den Platz, die Stadtmulde, geriet ins Laufen und blieb endlich auf einer kleinen Anhöhe stehn. Awakian folgte ihm wortlos. Mit angestrengten Zügen schob Gabriel den Kopf weit vor, scharf lauschend, damit sein Gehör das Rauschen des Brandes durchdringe. Lange knatternde Striche im Süden. Wie von Maschinengewehren. Und jetzt wieder. Aber vielleicht war's eine Täuschung, denn die Schmerzen in seinem Kopf tobten.

      Sechstes Kapitel

       Die Schrift im Nebel

       Inhaltsverzeichnis

      Dem jungen Offizier war das Kunststück gelungen. Er hatte eine Feldtelefonleitung gelegt, natürlich nicht bis in die Villa Bagradian, so viel Draht war wahrscheinlich bei der ganzen Vierten Armee nicht vorhanden, sondern nur vom Dorf Habaste bis etwa vierhundert Fuß unterhalb der Südbastion. Bei den Schwierigkeiten des felsigen Geländes und der mangelhaften Ausbildung der Truppe eine ansehnliche Leistung. General Ali Risa Bey hatte sich am Nachmittag, für die Beobachteraugen des Damlajik als Zivilist verkleidet, höchstpersönlich nach Habaste begeben. Die Sonne war gerade untergegangen, als der plumpe Telefondraht auf dem Tischchen vor ihm zu summen begann. Es dauerte sehr lange, und man mußte noch vielerlei technische Probleme lösen, ehe sich auf der anderen Seite die Stimme des Jüsbaschi klärte. Dann aber war's eine helle Stimme, die trotz der unzulänglichen Stromleitung stolze Genugtuung nicht verkennen ließ:

      »Herr General, ich melde gehorsamst, der Berg ist in unserem Besitz.«

      Ali Risa Bey, mit dem klaren Gesicht des Nichtrauchers und Nichttrinkers, lehnte sich, die Muschel am Ohr, auf seinem Klappstuhl leicht zurück:

      »Wieso der Berg, Jüsbaschi? Sie meinen das Südende des Berges.«

      »Jawohl, Effendi, das Südende des Berges.«

      »Ich danke! Haben wir Verluste gehabt?«

      »Gar keine Verluste, nicht einen einzigen Mann!«

      »Und wieviel Gefangene haben Sie gemacht, Jüsbaschi?«

      Nun schien wieder eine technische Störung eingetreten zu sein. Der General sah den Telefonoffizier durchdringend an. Bald aber meldete sich die Stimme des Jüsbaschi von neuem, wenn auch zögernd:

      »Ich habe keine Gefangenen gemacht. Die gegnerischen Stellungen waren leer. Wir haben ja damit gerechnet. Fast leer. Nur zehn Mann etwa, das heißt, darunter vier Jungen vielleicht ...«

      »Und was ist mit diesen Leuten geschehn?«

      »Die Unsrigen haben sie niedergemacht ...«

      »Nach Gegenwehr?«

      »... Ohne Gegenwehr ...«

      »Das mindert Ihren Erfolg erheblich, Jüsbaschi. Die Gefangenen hätten uns viel Mühe erspart.«

      Selbst in der klobigen Muschel des Feldtelefons war der Zorn des Jüsbaschi zu spüren: »Ich habe den Befehl nicht gegeben.«

      Die leidenschaftslose Kühle des Generals veränderte sich nicht:

      »Und wo sind die Deserteure hin?«

      »Man hat nur ihr Lumpenzeug gefunden, sonst nichts.«

      »So? Andre Meldungen noch, Jüsbaschi?«

      »Die Armenier haben ihr Lager in Brand gesteckt. Es ist ein sehr großer Feuerschein ...«

      »Und wie beurteilen Sie das, Jüsbaschi? Welche Gründe sehen Sie dahinter?«

      Die Stimme des Majors, rachsüchtig, bissig:

      »Mir steht ein Urteil nicht zu. Herr General werden richtiger urteilen. Vielleicht verlassen die Kerle den Berg ... in der Nacht ...«

      Ali Risa Bey blickte mit seinen blaßgrauen Augen zwei Sekunden lang schweigend in die Ferne, ehe er seine Ansicht bekanntgab:

      »Möglich ... Aber ebensogut kann eine Finte dahinterstecken ... Der Anführer hat unsere Offiziere ja schon mehrmals zum besten gehabt ... Es kann ein Ausfall geplant sein ...«

      Und jetzt wandte er sich an die Herren seiner Umgebung:

      »Man soll in dieser Nacht den Postendienst im Tal aufs äußerste verstärken.«

      Die Stimme des Jüsbaschi forderte nicht ohne Ungeduld:

      »Ich bitte gehorsamst um weitere Befehle, Herr General.«

      »Wie weit sind Ihre Kompanien vorgegangen?«

      »Die dritte Kompanie und zwei Maschinengewehrabteilungen halten die nächste Kuppe besetzt, etwa fünfhundert Schritt von meinem Hauptstandort.«

      »Wir haben hier unten Maschinengewehrfeuer gehört. Was hat das zu bedeuten?«

      »Nur eine kleine Demonstration ...«

      »Diese Demonstration war höchst überflüssig und schädlich ... Die Truppen sollen bleiben, wo sie sind, und sich gut sichern.«

      Die Stimme am andern Ende klang jetzt ganz heimtückisch:

      »Die Truppen bleiben, wo sie sind. Ich werde um eine schriftliche Ausfertigung dieses Befehles bitten, Effendi! ... Und morgen?«

      »Eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang beginnt sich die Artillerie im Norden einzuschießen. Richten Sie Ihre Uhr genau nach der meinen, Jüsbaschi! ... So! ... Ich werde knapp nach Sonnenaufgang bei Ihnen oben sein und die Sache vom Süden aus führen. Basta!«

      Der Jüsbaschi oben auf dem Berg warf, zähnebleckend, die Hörmuschel hin:

      »Zum Kehraus kommt er, dieser Ziegenmilchpascha. Und dann wird er der Sieger des Musa Dagh sein!«

      Gabriel Bagradian kehrte schweigend auf den Altarplatz zurück. Während des kurzen Weges hielt er krampfhaft Awakians Hand umklammert. Der Brand hatte sich immer weiter in die Gassen gebohrt. Die Sonne war noch nicht lange untergegangen. Doch trotz der Flammen ringsum – die Zweigichtwand des Altars brannte unerschöpflich – wurde es um Gabriel immer dunkler. Schwarze Jammergestalten, schwarze Jammerstimmen wogten in sinnlosen Tänzen über den Platz. Die Waage seines Lebens schwankte. Hatte er nicht das volle Recht, noch einmal hinzufallen, nun aber für immer, ins Nichtsmehrwissen? Stephan war tot. Warum denn wieder von neuem beginnen? Und dennoch, von Sekunde zu Sekunde füllte sich sein Kopf, das schmerzhafte Gefäß, mit immer klareren und energischeren Gedanken.

      Auch Ter Haigasun hatte sich wieder erholt und aufgerichtet. Das erste was er tat, war, die zerrissene Alba, die Stola und alle anderen Gewandungsstücke des heiligen Dienstes sorgfältig zusammenzulegen. Seine Blöße verhüllte er mit einer Decke, die ihm jemand geliehen hatte. Aus Ter Haigasuns Bart war eine Strähne herausgesengt, und eine rote Brandwunde lief ihm über die Backe. Ganz und gar verwandelt war sein Gesicht. Die gelbliche Kameenfarbe der eingefallenen Wangen war dunkler Fieber- oder Zornesglut gewichen. Als er Bagradian erblickte, rang er stumm nach Worten. – Auch die Muchtars hatten sich indessen ihrer Pflicht erinnert und kamen herbeigelaufen. Ob sie freilich ihre wohlgefüllten Geldbörsen aus Rauch und Flammen gerettet oder nicht gerettet hatten, das muß dahingestellt bleiben. Sie alle, mit Thomas Kebussjan an der Spitze, leugneten die Rettung jedenfalls. In diese Stunde, die das

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