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Deserteure drängten sich über Schuschiks Körper hinweg in das Zelt der Hanum. Juliette hatte, aus bleiernem Schlafe halb erwacht, den Wortwechsel, das Getümmel, die Schreie vernommen. Das Fieber, Gott sei Dank, das Fieber ist wieder da, so glaubte sie verschlagen. Doch auch als die Gestalten und der Gestank schon das Zelt erfüllten, wich ihre schlaffe Hingegebenheit noch immer keiner Angst. Entweder ist es das Fieber, dann bin ich froh. Wenn es aber die Türken sind, dann ist es am besten jetzt, zwischen Schlaf und Schlaf. Niemand dachte daran, der Hanum etwas anzutun. Sie schenkten der Kranken überhaupt keine Beachtung. Ihnen war's nur um die kulinarischen Schätze zu tun, von denen neidische Sagen umgingen. Sie schleppten den großen Schrankkoffer und das übrige Gepäck vor das Zelt. Dort war auch schon alles andre zusammengetragen worden, was sich im Scheichzelt an Kisten und Koffern gefunden hatte. Nur Sato und der Langhaarige hielten sich länger bei Juliette auf, dieser, weil er auf eigene Faust etwas Brauchbares zu finden hoffte, jene aus Neugier und Bosheit. Da ihr nichts Grausameres einfiel, riß sie plötzlich die Bettdecke von Juliette fort. Der Mann sollte die Blöße der Fremden sehn! Der aber hatte sich inzwischen einen großen Schildpattkamm zum Andenken ausgewählt, wohl mit Rücksicht auf sein langes, verklebtes Haar. In den Anblick dieser Beute versunken, trollte er sich aus dem Zelt, ohne die Frau anzutasten. Draußen hatte die Bande schon den Inhalt der zahlreichen Gepäckstücke um und um gewühlt. Wieder lagen Juliettens Kleider und Wäschestücke ringsumher wie damals bei der Entehrung durch die Saptiehs in Yoghonoluk. Einzelweise waren die Lack-, Atlas-, Goldkäferschuhe und dünnen Stiefelchen dazwischengestreut. Doch nicht nur Kleider und die Gläser ringsum, alles, was man mit Mühe auf den Musa Dagh geschleppt hatte. Die Ausbeute der Räuber aber war lächerlich: zwei Sardinenbüchsen, eine Dose mit Kondensmilch, drei Schokoladentafeln, eine Blechschachtel mit Biskuitbröseln. Das konnte ja nicht alles sein. Zum dritten Zelt, rasch. Sato gestikulierte. Da aber näselte die kleine Glocke vom Altarplatz herüber, zum Bittgottesdienst rufend. Das mit der Hauptgruppe verabredete Zeichen lud zum zweiten Teil des Tagewerks ein. Man mußte sich beeilen, um zurechtzukommen. Jeder raffte irgend etwas zusammen, um nicht leer auszugehen, Löffel und Messer, eine Schüssel, eine Karaffe, ja selbst ein Paar Frauenschuhe.

      Iskuhi und Howsannah hatten die Blutung der Wunde mit Tüchern erstickt. Der Pastor war zu sich gekommen. Unendlich erstaunt sah er aus. Er konnte nicht begreifen, welch ein verwirrter Mann in ihm getötet worden war. Nun durfte er in der Volksgemeinschaft verharren. Nun zwang ihn sein Trotz nicht mehr, die große Sünde der Absonderung von neuem zu begehn. Vergossenes Blut! Und dieses vergossene Blut war die Gnade, die ihn vor der nichtbestandenen Prüfung bewahrte. Er sah Howsannah. Mit Grasbüscheln rieb sie sich die Hände rein, damit das Wickelkissen des Kindes nicht blutig werde. Aram Tomasian wunderte sich, daß unter seinen Kopf eine Menge von Decken und Kissen geschoben war, so daß er beinahe aufrecht saß. Iskuhi preßte noch immer mit ihrer rechten Hand die Kompresse gegen seine Wunde, wodurch sie zugleich verhinderte, daß er auf den Rücken zu liegen kam. Ihr abgezehrtes Gesicht war von der unsäglichen Anstrengung ganz verzerrt. Aram wandte den Kopf ab und sagte: »Iskuhi«, und fünf- und sechsmal nichts als seufzend: »Iskuhi.« Der Name klang wie ein zärtliches: »Verzeih mir!«

      Der Sakristan läutete wie ein Toller die kleine Glocke, die neben dem Altar an einem Mast tanzte. Dieses heischende Geläute war gar nicht notwendig, denn die Gemeinde der Alten, der Frauen und Kinder war schon längst auf dem Altarplatz versammelt. Unter der fanatischen Rechten des Küsters aber jammerte das Glöckchen weit hinaus, als sollten nicht nur die türkischen Kompanien, sondern Land und Meer wissen, daß hier die Sterbestunde eines christlichen Volkes eingeläutet werde. In der linken Hand schwang der Küster nicht minder wild das Räucherfaß. Auf dem Damlajik, wo es keine irdische Nahrung mehr gab, war der Weihrauch in solcher Menge vorhanden, daß man damit noch monatelang hätte auskommen können. Zur angesetzten Stunde der Bittfeier, die übrigens schon überschritten war, ließ der Südostwind nicht im geringsten nach. Wie Gottlose, die eine Religionsstörung verüben wollen, fegten die Windwürfe über den Platz, schluckten den Glockenlaut, verbissen sich knurrend ins Dachgeflecht der Laubhütten und rüttelten am Altar, dessen Bekleidung für diesen Fall besonders befestigt war. Die starke, vier Meter hohe Blätterwand hinter der heiligen Stätte wurde zum preisgegebenen Windfang. Sie bebte unter den Sturmhieben, das welke Laub wirbelte auf, und die ganze große Wand schwankte oft so bedenklich, als werde sie nicht standhalten. Vor dem Altartisch, auf der obersten Stufe, waren zwei Stangen rechts und links mit einer Querschnur angebracht, auf der der Vorhang in Ringen lief, der während der Opferung den Priester nach armenischem Brauch den Blicken der Gemeinde entziehen mußte. Der schwere Stoff dieses Vorhangs wehte immer wieder gegen den geweihten Tisch. Man band ihn fest, damit er die heiligen Geräte nicht vom Altar werfe. Einige Fromme hatten ihr wachsames Auge auf diese Geräte gerichtet, besonders auf die hohen silbernen Leuchter, in denen von Glasschirmen geschützte Windlichter brannten. Zwischen den einzelnen Windstößen waren lange Pausen einer beklemmenden Stille eingeschaltet. In dieser Stille knallte dann und wann ein Schuß vom Nordsattel herüber.

      Ter Haigasun hatte in seiner Pfarrhütte, die dicht neben der Regierungsbaracke lag, längst schon die Meßgewänder angelegt. Die Sänger und die Diakone, die ihm assistieren sollten, warteten bereits eine gute Weile vor dem Eingang. Eine tiefe Beklommenheit aber hielt ihn zurück, hinaus und an den Altar zu treten. Was war das? Sein Herz, das niemals aus dem Gleichgewicht kam, schlug laut ans Priesterkleid. Fürchtete er das Unbekannte, das nahe bevorstand? Zweifelte er, ob er richtig gehandelt hatte, im Augenblick der höchsten Not das Volk selbst aufzurufen? Hatte er damit nicht in listiger Schwäche die Entscheidung von seiner Person abgewälzt und den Unmündigen eine Aufgabe zugemutet, der sie nicht gewachsen waren? Nun, die Kämpfer standen alle hinter Gabriel Bagradian, und Ter Haigasun glaubte nicht, daß der Pastor für seinen Antrag auch nur einen kleinen Bruchteil von Anhängern finden werde. Und doch! Bestand nicht Gefahr, daß sofort nach der feierlichen Gnadenerflehung Verwirrung, Zank, Zerfall durch Tomasians Antrag in die hungernde Menge geworfen werde? Vielleicht fühlte Ter Haigasun nur den niederschmetternden Ernst der Sendung, zu der er gewürdigt und verdammt war. Trotz des heißen Windes fror er. Sein Kopf schien zu wachsen, immer größer und dünnwandiger zu werden wie ein Ballon, den man aufbläst. Auch er hatte seit zwei Tagen fast nichts mehr genossen. Er saß auf der Matte, die sein Schlaflager war. Auf den Knien hielt er das große Kirchenbuch aufgeschlagen. Den ganzen Nachmittag lang hatte er Eintragungen gemacht und die Summe dieser vierzig Tage gezogen. Jetzt war das Buch des Lebens und des Todes, soweit es in seiner Macht stand, in Ordnung gebracht und die Rechnung abgeschlossen. Er hatte seine Pflicht getan und konnte das Kirchenbuch übergeben. Wem übergeben? Ter Haigasun schüttelte den Kopf. Und doch, es lag eine große Befriedigung darin, daß die Seelen der Lebendigen und der Abgeschiedenen namentlich verzeichnet standen und daß die göttlich-menschliche Ordnung von ihm bis zu dieser Stunde aufrechterhalten wurde. Dadurch, daß jede verewigte Seele mit Geburts- und Todestag, mit Namen und Herkunft der Eltern hier sauber eingeschrieben war, konnte sich Gott ihrer leichter erbarmen, und sie brauchte nicht wie ein unbenannter Hund um die Pforten der Hölle zu schweifen. Ter Haigasun glaubte fest an das Heil der Benennung und Einschreibung, in der sich das Heil der Taufe fortsetzt. Seine vergilbten Hände durchblätterten noch einmal die letzten Seiten des Buches. Siebzehn Kinder des Musa Dagh hatte er getauft. Dem standen vierhundertzweiunddreißig Seelen gegenüber, die er zur Jenseitsreise eingesegnet hatte. Eine gewaltige Zahl. Dennoch, war's nicht ein Wunder, daß trotz der türkischen Kompanien und trotz des Hungers noch immer mehr als viereinhalbtausend am Leben geblieben waren? Und darunter immer noch mehr als siebenhundert wohlgeübte und todesmutige Krieger in allen Stellungen, die vielleicht noch einmal den Ansturm der türkischen Übermacht zurückschlagen würden! Gottes Gnade hatte Gabriel Bagradian nach Yoghonoluk geführt. Ter Haigasun fielen die Lider bleiern über die Augen. Die viereinhalbtausend lebten nicht mehr. Er sah sich allein unter den Toten in seinen starren Kirchengewändern stehn. Nie hatte er daran gezweifelt, daß er der letzte sein werde, so grausam das auch war. Sein Herz schlug nun wieder ruhig. Dafür aber erfüllte ihn eine unbeschreibliche Todeserwartung, wie er sie auch in der schlimmsten Minute der Kämpfe bisher nie empfunden hatte. Ohne zu wissen warum, malte er mit seinem dicken Rotstift unter den letzten Toten des Kirchenbuches ein großes Kreuz.

      Einer der beiden Hilfspriester steckte immer wieder den Kopf mahnend zur Pfarrhütte herein. Die angesetzte Zeit war längst verstrichen, und es bestand Gefahr, daß die anschließende Volksversammlung bis in die Nacht dauern werde. Ter

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