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Aufgabe vor sich sah, stürzte verzweifelt hinaus. Der General aber rief jetzt ziemlich scharf:

      »Jüsbaschi ... Ich bitte sehr ...«

      Der Verwundete riß sich zusammen. Die beiden Männer traten in den einsamen Vorraum. Ali Risa warf einen kalten flüchtigen Blick auf den verbundenen Arm des Majors:

      »Jüsbaschi! Ich gebe Ihnen heute Gelegenheit, Ihre schwere Schlappe gutzumachen ... Das wird aber nur dann der Fall sein, wenn Sie keine Verluste erleiden werden. Sie sind mir für jeden Verwundeten Rechenschaft schuldig. Ich bitte, sich danach zu richten ... Ist also die Situation mit den Deserteuren vollkommen aufgeklärt?«

      Der Jüsbaschi machte eine nachdrückliche Bewegung mit dem verletzten Arm, als weise er darauf hin, daß er mehr als seine Pflicht erfüllt habe:

      »Ich selbst, Herr General, bin gestern dicht vor den Seitenstellungen über Habaste gewesen. Sie waren ganz leer. Das Pack hält die Deckungen nicht mehr besetzt. Es war eine Stunde vor Sonnenuntergang ...«

      »Gut! Und Ihre vier Kompanien?«

      »Ich glaube, daß der unsichtbare Aufmarsch in der Nacht vollkommen gelungen ist. Nicht eine Laterne hat gebrannt. Die Truppen haben sich gestern während des ganzen Tages nicht aus Habaste gerührt. Jetzt liegen sie unter den Felsen in einer völlig versteckten Stellung. Auch die drei Maschinengewehre meiner Gruppe.«

      »Sie werden am Abend nachher selbst zum Telefon kommen, Jüsbaschi. Wenn Sie die Höhe genommen haben, wünsche ich nicht, daß Sie weiter vorgehen ...«

      Damit war die Unterredung beendet, und Ali Risa wandte sich schon um.

      Die Stimme des Jüsbaschi aber hielt ihn fest:

      »Ich bitte gehorsamst den Herrn General um ein Wort ... Da ist folgende Sache noch ... Diese Deserteure, ich habe in Erfahrung gebracht, daß es sich nicht um Armenier handelt ... Im übrigen hat sich gestern ein früherer Armenier bei mir gemeldet, der zum wahren Glauben übergetreten ist, ein Advokat, Doktor Hekimian heißt er ... Er ist bereit, mit diesen Leuten zu reden, daß sie die Stellung freiwillig räumen ... Man wird vielleicht einige Zugeständnisse machen müssen, hat aber dafür die Sicherheit eines unblutigen Verlaufs ...«

      Der General hatte ruhig zugehört. Jetzt unterbrach er den Major jäh:

      »Ausgeschlossen, Jüsbaschi! Wir können uns doch nicht nachsagen lassen, daß wir mit diesen Teufelsarmeniern nur durch armenischen Verrat fertig werden konnten. Denken Sie an den Hohn der feindlichen Presse, der Seine Exzellenz und die ganze Vierte Armee treffen würde.«

      Schwere Schritte hallten auf den Steinfliesen des Hausflurs. Die große schlaffe Gestalt des Kaimakams trat, vom sommersprossigen Müdir gefolgt, in den Raum. Der Kaimakam legte nachlässig die Hand an den Fez:

      »Endlich, meine Herren! Ihre Batterien, General, werden in drei Stunden in Sanderan sein. Die Wirtschaft bei euch ist noch viel schlimmer als bei uns ...«

      Das helle asketische Soldatengesicht Ali Risas brachte den dicken und von schlechten Säften geplagten Kaimakam in Wut. Er beschloß das Militär zu ärgern. Während er schon wieder die Türklinke in der Hand hielt, um den Raum zu verlassen, drehte er sich noch einmal hoheitsvoll um:

      »Ich hoffe, daß mich unsre Wehrmacht nicht ein viertes Mal enttäuschen wird.«

      Da Kristaphor und Missak nur in der Nacht den Dreizeltplatz zu bewachen hatten, waren die Frauen jetzt, um die vierte Nachmittagsstunde, allein. Witwe Schuschik, Haiks Mutter, bediente Juliette in ebenso rührender wie ungeschlachter Art. Diese Hilfe war auch notwendig, da Mairik Antaram, die wieder die Leitung des Lazarettschuppens übernommen hatte, sich nur vorübergehend einstellen konnte. Mit Iskuhi aber hatte es eine eigene Bewandtnis. Juliette war nun schon eine körperlich Genesende, wenn auch noch so abgezehrt und schwach, daß sie bei jedem Schrittchen zusammenknickte. Ihr Gesicht hatte eine bläulichweiße Farbe oder Farblosigkeit angenommen, als wollte es sich nach der furchtbaren Krankheit doppelt von dem sonnverbrannten Braun ringsum unterscheiden. Sie verbrachte täglich eine Stunde oder zwei Stunden außer Bett. Dann saß sie vor ihrem Spiegeltischchen, den Kopf auf die Arme gelegt, regungslos. Manchmal kniete sie auch, wie sie es in der Verzweiflung früher schon getan, vor dem Bett und preßte das kleine spitzengemusterte Kopfkissen an ihr Gesicht wie eine letzte Heimat. Das bedenklichste Zeichen ihrer geistigen Zerrüttung aber war es, daß der starke Trieb, schön und sauber zu sein, in ihr erloschen zu sein schien. Der Wäschekoffer stand aufgeklappt im Zelt. Aber sie griff weder hinein, noch auch verlangte sie nach frischen Sachen, obgleich das Hemd, das ihr Mairik Antaram am Tage nach dem Fiebersturz angezogen hatte, schon ganz zerknittert war. Juliette schien es gar nicht zu merken, daß an diesem zarten Batisthemd das rechte Achselband zerrissen war und ihre abgemagerte Brust meist bloßlag. Ganz im Gegensatz zu den inneren Wunschbildern, die sie erfüllten, griff sie nicht nach der Flasche mit Eau de printemps, in der noch immer ein Rest darauf wartete, die verdorrte Haut des Körpers neu zu beleben. Nicht einmal in die Pantoffeln schlüpfte sie, die unter ihrem Bett standen, sondern wankte bloßfüßig die wenigen Schritte, zu denen sie die Kraft besaß. In ihren Augen lebte weder Qual noch Angst, nur eine starre zusammengekauerte Bereitschaft, sich gegen jeden zu wehren, der sie ins Leben zurückreißen wollte.

      Schuschik sah in Juliette eine Mutter, die über dem furchtbaren Tod des einzigen Kindes den Verstand verloren hatte. Sie sah in ihr das eigene Los, das ein unermeßliches und unverdientes Gotteswunder von ihr selbst abgewendet hatte. Haik lebte. Und mehr als das. Sein Leben war in alle Ewigkeit gesichert, denn er stand unter dem Schutze Jacksons und Amerikas. Diese Worte bedeuteten im Herzen Schuschiks überirdische Gewalten. Jackson, das war kein Mensch, sondern wahrscheinlich der Erzengel selbst, der den feurigen Säbel schwingt. Ihr war damit von Gott eine Auszeichnung widerfahren wie keiner Mutter des Musa Dagh sonst. Und dies nach einem Leben voll Sünde und Zornigkeit, das ihr der Priester immer warnend vorgehalten hatte. Mußte sie jetzt nicht Tag und Nacht sich abmühen, um zu dienen und zu danken, um zu danken und zu dienen? Wem aber danken, wem aber dienen, wenn nicht ihr, der anderen Mutter, die der volle Fluch getroffen hatte? Diese war eine reiche Hanum, eine Vornehme, eine Fremde. Wie unendlich weit war der Weg von Schuschik zu ihr! Und doch, das fühlte die große Kaukasierin, der Weg konnte nicht so weit sein von der geretteten Mutter zu der verlorenen. Sie holte ihre seit Jahren verrostete Stimme aus sich heraus, machte sie leise und zart und sang beinahe ihre Tröstungen. Es war ja alles so einfach. Diese Welt ist diese Welt, dort drüben aber hat es der Erlöser Jesus Christus so klug eingerichtet, daß man wieder miteinander vereint wird. Zuvörderst jedoch sehen die Mütter ihre Kinder wieder. Was sie jetzt verriet, das wußte sie weder von Nunik noch von einer anderen Totenwäscherin, sondern ihre eigene Mutter hatte es von einem weisen Wartabed gehört, der auf der Klosterinsel Agthamar im Wan-See lebte. Dort oben im Himmel, dort sehen die Mütter ihre Kinder nicht als jene erwachsenen Söhne und Töchter wieder, die sie auf Erden verlassen haben, sondern als wirkliche kleine Kinder, so wie sie einst zwischen zwei und fünf Jahren gewesen sind. Und die guten Mütter dürfen dort oben im Himmel ihre Kleinen wieder auf dem Arm tragen.

      Von dieser Aussicht beglückt, hob das plumpe Weib die Arme und wiegte auf ihnen einen kleinen unsichtbaren Haik. Während solcher Geschichten wurden Juliettens Augen immer abwehrender und schienen zu vereisen. Schuschik glaubte, die Fremde verstehe ihre Sprache nicht. Sie ließ sich neben der Hanum auf den Boden nieder, überlegend, wie sie sich tröstlich und nützlich erweisen könne. Sie fühlte Juliettens erfrorene Füße an. Mit einem leisen Mitleidston drückte sie diese Füße an die Brust und begann sie mit ihren ledernen Bauernhänden sanft zu streicheln und dann warmzureiben. Juliette schloß die Augen und sank zurück. Schuschik zweifelte nicht daran, die Unglückliche war wahnsinnig. Und sie begriff durchaus diesen Wahnsinn, denn wie weit war sie selbst auf dem gleichen Wege schon gewesen, ehe die erlösende Botschaft sie zurückgerufen hatte. Ihre rauhe Einfalt konnte nicht auf den Verdacht verfallen, daß dieser Wahnsinn gar kein richtiger Wahnsinn war, sondern nur ein aus Körperschwäche, Fiebernachhall, Entsetzen, Bilderflucht und Wahrheitsfurcht zusammengehäufter Wall, hinter dem die Hanum sich vor dem taghellen Wissen verbarg. Im übrigen teilte auch Bedros Hekim die Ansicht Schuschiks und hielt Juliettens Zustand für eine Geisteskrankheit infolge des Fleckfiebers. Ein überraschender Vorfall, der sich am Morgen dieses vierzigsten Tages bei seiner

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