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      »Jetzt träumt Gabriel Bagradian«, krähte der Kirchensänger, Oskanians Sendling. Der sanfte Schatakhian aber sprang enthusiastisch auf:

      »Ich finde, daß Bagradian wieder einmal die einzige kühne Idee hat. Sie ist noch großartiger als alles Frühere. Wenn es wirklich gelingt, die Villa zu überrumpeln und einen General, einen Kaimakam, einen Jüsbaschi gefangenzunehmen, ja, dann lassen sich die Folgen gar nicht übersehn ...«

      »Sie lassen sich genau übersehn, Lehrer«, schnitt ihm Aram Tomasian mit hochmütiger Verächtlichkeit das Wort ab. »Wenn wir einen der höchsten Offiziere und einen der höchsten Beamten gefangennehmen, dann hört für die Türken der Spaß auf. Dann kommen sie mit Regimentern und Brigaden. Falls Gabriel Bagradian meint, das Militär werde mit ihm um das Leben der Geiseln schachern und Zugeständnisse machen, da irrt er sich gewaltig. Der Tod eines Generals und eines Kaimakams durch armenische Rebellen kommt ihnen sehr zustatten. Dann haben sie vor dem ganzen Ausland und Inland die stärkste Rechtfertigung für ihre Verschickungspolitik in der Hand. Solche Geschichten sind ihnen höchst willkommen. Was wißt ihr Leute von Yoghonoluk? Ich aber habe Zeitun erlebt.«

      »Nicht Gabriel Bagradian, sondern du irrst dich gewaltig, Pastor, trotz deinem Zeitun.« Schatakhian kochte auf. »Ich kenne Ittihad, ich kenne die Jungtürken, wenn ich auch nur in Yoghonoluk gelebt habe. Die halten zusammen. Einen der Ihrigen opfern die nicht auf. Unter keinen Umständen. Point d'honneur! Der schmähliche Tod eines Generals und eines Kaimakams wäre für sie eine fürchterliche Niederlage in den Augen des Volkes, der sie sich gar nicht aussetzen können. Im Gegenteil, sie werden alles tun, um uns das Leben der Geiseln abzukaufen, mit Mehl, Fett, Fleisch, und sogar mit Freiheit ...«

      Der übermütige Optimismus Lehrer Schatakhians erregte den Hohn der Zweifler. Wiederum begann wie bei der letzten Beratung ein leerer und erboster Streit, bei dem keine Ansicht mehr klar zur Geltung kam. Nur mischte sich diesmal das drohende Volk nicht ein. Auf dem Altarplatz lungerten zwar dichte Gruppen der Bevölkerung, sie waren aber zu matt und kraftlos, um Forderungen zu stellen oder aufzubegehren. Die Stadtwache lag teils hindämmernd, teils schlafend vor der Regierungsbaracke. In dem Beratungsraum aber tat Asajan sein Bestes, um den Streit nicht erschlaffen zu lassen. Er wagte es sogar, dunkel auf die Proviantschätze des Hauses Bagradian anzuspielen, deren sättigender Besitz noch immer zu mutigen Träumen verleitete. Die Anspielungen trafen ihr Ziel nicht. Gabriel hatte schon einige Tage vorher alles, was er noch an Konserven besaß, in die Nordstellung bringen lassen, damit es an die Zehnerschaften verteilt werde. Tschausch Nurhan Elleon, der gewaltige Längerdienende, nahte dem spindeldürren Kirchensänger mit unheimlicher Breitspurigkeit, legte ihm seine lederharten Finger um das Hälschen und versprach, daß er ihn beim nächsten unsauberen Muckser glatt erwürgen werde. Ter Haigasun, der nach seiner Gewohnheit den Lärm eine Weile lang ertrug, suchte mit der trockenen Bemerkung Ruhe zu schaffen, man möge den Zwist über die Brauchbarkeit des Generals und Kaimakams erst dann austragen, sobald man sie gefangen habe. Indessen hatte sich Aram Tomasians der leidige Dämon völlig bemächtigt. Er beging die ebenso grundlose wie törichte Unvorsichtigkeit, auf den orthodoxen Priester loszufahren:

      »Ter Haigasun! Du bist das Oberhaupt und der Verantwortliche! Ich klage dich der Unentschlossenheit an. Du läßt alles gehn, wie es geht. Du willst es dir mit niemandem verderben. Es ist ein Wunder, daß wir bei deiner – wie nenn ich's – Gelassenheit den heutigen Tag überhaupt erlebt haben ...«

      Dieser Anwurf gegen die höchste Autorität – ein unerhörtes erstmaliges Ereignis – empörte den Freigeist Altouni so sehr, daß er den altgläubigen Wartabed gegen den protestantischen Pfarrer schreiend in Schutz nahm:

      »Was hast du hier anzuklagen, junger Mensch? Das wäre noch schöner! Von uns und unserm Leben weißt du nichts, denn als kleiner Bursche hat dich dein Vater nach Marasch geschickt. Nimm dir also nicht mehr heraus, als dir zukommt!«

      Zurechtgewiesen wie ein dummer Junge und unter seiner eigenen Taktlosigkeit blutend, wurde Arams Stimme und Wesen noch schriller:

      »Es mag sein, daß ich ein Fremder hier bin und euch nicht verstehe, obgleich ihr die wirklichen Fremden unter euch sehr wohl versteht. Meinen Antrag aber halte ich aufrecht. Mehr noch! Ich bin für mich und für meine Familie entschlossen, so zu handeln, wie ich es für richtig halte. Wo steht es übrigens geschrieben, daß wir alle bis ans Ende zusammenbleiben müssen? Es wäre viel klüger, das gesamte Lager aufzulösen. Jede Familie soll sich retten, so gut sie kann. Der volle Haufen auf einem Punkt ist viel leichter abzufangen. Wenn wir uns lose über die ganze Küste zerstreuen, dann wird ein Teil wenigstens auf irgendeine Weise am Leben bleiben. Ich aber will meine Familie, meine ganze Familie zusammenpacken und mit ihr einen Weg finden. Meine ganze Familie hab ich gesagt, Gabriel Bagradian ...«

      Während der vielen, oft sehr erregten Tagungen des Führerrates hatte Ter Haigasun niemals die Ruhe verloren. Selbst als er vor genau sechs Tagen Hrand Oskanian durch einen Fußtritt hinausbeförderte, geschah dies souverän, ohne daß er dabei aus der Fassung geriet. Auch jetzt zeigte er kein äußeres Erregungszeichen, als er sich erhob, sehr blaß und beinahe feierlich:

      »Schluß! Unsere Beratungen haben keinen Zweck mehr. Das Volk hat uns den Auftrag der Führung gegeben. Ich erkläre hiermit heute am achtunddreißigsten Tage diesen Auftrag für erloschen, da der Führerrat nicht mehr die innere Kraft und Einheit besitzt, Entschließungen zu fassen. Wenn es möglich ist, daß ein Mann wie Pastor Aram Tomasian, der für die innere Ordnung und Ruhe die Verantwortung trägt, selbst unsere Gemeinschaft aufzulösen trachtet, dann kann man auch von keinem andern mehr Gehorsam und Unterwerfung fordern. Es tritt also in diesem Augenblick derselbe Zustand ein, wie er in den Dörfern vor der Wahl des Führerrates geherrscht hat. Die Muchtars übernehmen wieder die alleinige Sorge für ihre Gemeinden und ich, als Wartabed des Bezirkes, die Leitung der Gesamtheit. In dieser Eigenschaft fordere ich Gabriel Bagradian auf, den Befehl über die Verteidigung weiterzuführen wie bisher. Er ist in seiner Befehlgebung unabhängig. Ob er sich für einen Überfall entscheidet oder für eine andre Abwehrmaßnahme, ist seine Sache, und niemand hat ihm dreinzureden. In meiner Eigenschaft als Priester ordne ich ferner einen feierlichen Bittgottesdienst an, dessen Stunde ich noch bekanntgeben werde. Ich habe nicht das Recht, irgendeine Möglichkeit der Rettung abzuweisen. Infolgedessen wird Pastor Aram Tomasian nach dem Gottesdienst die Gelegenheit haben, seinen Antrag vor der Volksversammlung zu wiederholen und zu begründen. Die Mehrheit des Volkes kann dann selbst entscheiden, ob es den Berg verlassen will oder der Tapferkeit unserer Kämpfer und den Plänen ihres Führers weiter vertraut. Nach diesem Entscheid aber wird das Volk beschließen, daß jeder, der sich gegen den allgemeinen Machtspruch in Taten oder Worten auflehnt, auf der Stelle erschossen werden soll. – So! Hat jemand noch etwas vorzubringen?«

      »Zehnmal einverstanden! Wenigstens hört endlich das öde Geschwätz auf«, knurrte Bedros Hekim, der schon längst bei Krikors erbenloser Bücherburg stand und die bunten Tafeln in einem Band des alten Brockhaus bestaunte. Doch auch die Mehrzahl der anderen Führer war nicht unerfreut. So manchem kam die Diktaturerklärung Ter Haigasuns recht gelegen. In behaglicher Zeit ist es sehr erhebend, eine Führerrolle zu spielen, einen Schritt vor der Vernichtung aber taucht man lieber in der Masse unter. Auch die Muchtars waren nun wieder einfache Dorfschulzen und nichts mehr. Der im Park der Villa Bagradian von der großen Versammlung eingesetzte Führerrat löste sich ohne Protest sang- und klanglos auf. Ter Haigasun hatte einen weisen Schachzug getan und brachte zugleich ein furchtbares Opfer. Die Volksführung war von allen unzuverlässigen Seelen und Störenfrieden gesäubert. Er selbst aber mußte jetzt in diesem letzten Augenblick sein Volk durch den Tod Gott entgegenführen, er allein. Die Männer verließen schweigend die Regierungsbaracke.

      Pastor Aram aber haßte Ter Haigasun, haßte Gabriel Bagradian und mehr als beide sich selbst. Kurz verabschiedete er sich von seinem Vater, ohne auf dessen verzweifelte Fragen Rede zu stehn. Die Verschickungstage von Zeitun stiegen zürnend auf. Hatte er nicht schon damals dem Evangelium Schande gemacht und seine Herde, seine Kinderherde am dritten Tage verlassen? Und war es kein pflichtvergessenes Auskneifen gewesen, als er seinen Amtsbruder Harutiun Nokhudian ziehen ließ, diesen reinen Blutzeugen des Herrn, den alten schwachen Mann, der nicht wankte? Bitter erkannte der Pastor, daß es immer die gleiche Sünde ist, die den Menschen in die Falle lockt. Um wieviel gemeiner, schmählicher,

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