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und Klappnetze den Anforderungen entsprachen. Hier aber blieben die Vögel aus, welche ihre nördlicheren Sommerfrischen noch nicht verlassen hatten; Wachteln, Schnepfen, Wildtauben jedoch gingen so kindlichen Künsten nicht in die Falle. Allein es gab noch Kräfte wie Nunik, Wartuk, Manuschak und die Ihren. Die waren seit undenklichen Zeiten schon gewohnt, von der Erde in den Mund zu leben. Unten im Tal und oben auf dem Damlajik war seit siebenunddreißig Tagen nicht einmal mehr der Abfall für sie abgefallen. Nunik erbarmte sich der armen Weiber. Die Friedhofsleute hatten immer jenseits des Volkes gehaust und ihren Ausschluß aus der Gemeinschaft als naturgegeben hingenommen. Daß Klageweiber, Bettler, Blinde, Krüppel, Sieche, Verrückte nicht unter den Lebendigen zu wohnen haben, daran zweifelte keiner von ihnen und sie nährten daher auch keinen rachsüchtigen Haß gegen ihre Volksgenossen, die ihr lichteres Dasein mit härterer Arbeit bezahlen mußten. Die Klageweiber gar, die die Toten bejammerten und die Gebärenden vor den bösen Geistern schützten, fühlten sich trotz allem als Persönlichkeiten von notwendigem Wert und unbestrittener Würde. Sie halfen ja den Generationen in diese Welt herein und aus dieser Welt hinaus. In ihren magischen Handhabungen verwalteten sie gewissermaßen jene wichtigen Geheimmittel des Seelenheils, welche Ter Haigasun und die Kirche nicht anwenden durften. Brot und Fett aber konnte selbst eine Nunik nicht herbeizaubern. Doch sie half nun den hungernden Frauen, indem sie eine ihrer eigenen Nahrungsquellen preisgab. Ein unglaubwürdiges Bild war's, als diese Alte, an deren Hundertjährigkeit gläubige Gemüter nicht zweifelten, sich mühelos auf eine der Felswände herabließ, mit ihren dürrbraunen Füßen prüfend Halt suchte und sicheren Griffs weiterturnte, um alsbald in einer Spalte zu verschwinden. Nur drei Mädchen wagten es, Nunik diese Kletterei nachzumachen. Die andern Frauen schauten ihr ratlos zu. Doch auch die jungen Geschöpfe kamen kaum vom Fleck, klammerten sich krampfhaft an die Felsgewächse, ihre Füße zitterten bei jedem Tritt und der Münzenschmuck machte ein Angstgeklingel. Freilich, der aufgewandte Mut schien sich lohnen zu wollen. In der Felsspalte hatte Nunik einen Brutplatz von Möwen und anderen Meervögeln entdeckt und verraten. Die Frauen konnten ein paar Körbe voll kleiner Möweneier nach Hause bringen. Doch auf tausend Familien verteilt, bedeuteten sie nur eine kaum sichtbare Zubuße zum Nichts.

      Während die verzweifelte Expedition der Weiber im Gange war, tagte der Führerrat. Noch ahnten die Männer nicht, daß sie das letztemal in der Regierungsbaracke zusammen saßen. Vor dem verlassenen Sterbelager Krikors von Yoghonoluk stand unverändert die Bücherwand, die der Apotheker zwischen sich und der Welt errichtet hatte. Die Bücher schienen ihrem Herrn nachgestorben zu sein, so erfroren standen sie da, wie durch Leichenstarre zu abwehrenden Quadern versteift. Doch nicht nur die Bücher waren vom Tode berührt. Auch Ter Haigasuns wachsfarbiges Antlitz sah aus, als sei es seine eigene Totenmaske. Er zählte mit seinen scheuen und unzugänglichen Priesteraugen die Versammelten ab. Alle waren da, bis auf den Toten und Hrand Oskanian, der es nicht gewagt hatte, das Verbot Ter Haigasuns zu mißachten. Doch der zwirnsdünne Asajan saß da, sein Freund, der alte Feind und Hasser Ter Haigasuns. Der Schweiger hatte den Kirchensänger bis vor einer halben Stunde noch mit all seiner zänkischen Eindringlichkeit bearbeitet, er möge ihn rächen, die Führer durcheinanderbringen und die Gegensätze immer wieder verschärfen. Asajan war jedenfalls bereit, seinem alten Quälgeist in Kirche und Schule auch heute noch jeglichen Tort anzutun. Als letzter trat Bedros Hekim in die Runde. Auf seinen morschen Beinen, die immer krummer wurden, wackelte er zu den Büchern und warf einen langen Blick in die leere Koje. Dann erst drehte er sich zur Versammlung um:

      »Laßt uns des Apothekers gedenken! Er war ein verrückter Bursche, weiß Gott, aber ein Mann wie Krikor kommt nicht wieder zur Welt ...«

      Das war eine im Ton recht grobe Totenrede, doch dem Redner selbst ging sie nahe, denn er seufzte plötzlich tief auf. Ter Haigasun faltete die Hände:

      »Der Arzt hat recht. Laßt uns einen Augenblick Krikors gedenken. Er hat das Ende nicht abgewartet. Gott wird seiner Seele gnädig sein.«

      Auch die andern falteten die Hände und versanken in sich. Bei den meisten war's nur eine Förmlichkeit. Gabriel Bagradian aber senkte den Kopf sehr tief, um sein Gesicht nicht zeigen zu müssen, das freilich nicht Krikors wegen verzerrt war. Nach dieser flüchtigen Gedächtnisfeier erteilte Ter Haigasun sofort dem Pastor Aram das Wort. Die heutigen Beratungen und ihr unglücklicher Ausgang waren durch die Spannung vorherbestimmt, die zwischen Aram Tomasian und Gabriel Bagradian herrschte. Der Pastor hatte Gabriel noch immer nicht zur Rede gestellt. Vor seinem eigenen Gewissen führte er eine Menge Gründe ins Treffen, um seine Zaghaftigkeit zu rechtfertigen. Seit einigen Tagen schon lebte er ununterbrochen unten an der Küste, in vergeblicher Erwartung des Fischerglücks. Ganz selten nur kam er ins Lager hinauf, wenn ihn Ter Haigasun rufen ließ. Dies war die äußere Ausrede vor sich selbst. Ferner hatte Bedros Hekim seine Frau zur vollen Pflege abgeordnet, wodurch die ärgste Schande für Iskuhi abgewendet war. Auch Bagradian lebte wieder in der Nordstellung, und Zeugen berichteten, daß er den Dreizeltplatz überhaupt nicht mehr betrat. Mit solchen Feststellungen, die sich noch vermehren ließen, beruhigte der Pastor seine Seele oberflächlich. Im Grunde aber kannte er die Wahrheit über seine Gefühle genau. Er litt an einer unüberwindlichen Scheu, mit Bagradian darüber zu sprechen. Es war eine aus Keuschheit, Achtung und Widerwillen quälend gemischte Empfindung. Und dann, Aram liebte Iskuhi; jetzt, da er ihr aus dem Wege ging, da Howsannah seine Schwester in zügellosen Ausbrüchen verfemte, jetzt liebte er sie doppelt. Immer wieder klangen ihm ihre Worte in den Ohren: »Ich bin neunzehn Jahre alt und werde keine zwanzig werden.« Tomasian wollte den Konflikt nicht auf die Spitze treiben. Er wußte, daß Iskuhi zu allem entschlossen war, auch zum vollständigen Bruch mit der Familie; das hatte sie dem Vater offen gesagt, als er sie beschworen hatte, den Dreizeltplatz zu verlassen. Wozu diese Qual noch, dachte Tomasian. Die Tage schleppen sich hin und einer der nächsten wird der letzte sein. Und eins noch: Iskuhi hatte nie gelogen und auch jetzt log sie nicht, wenn sie sagte: »Zwischen mir und Gabriel Bagradian ist nichts vorgegangen.« Die große Sünde war also nicht geschehen. Vielleicht aber wird Gott einen ganz neuen, ganz unerwarteten Weg weisen, der alles verwandelt. Um die Erkenntnis dieses Weges oder Ausweges rang Pastor Aram in seinem täglichen Gebet. Er glaubte auch schon, ihm auf der Spur zu sein.

      Die erste Begegnung mit Gabriel Bagradian hatte Aram mit Verlegenheit und Erbitterung erfüllt. Er konnte sich kein einziges Wort der Teilnahme abpressen, obgleich er Gabriel seit Stephans Tod nicht gesehen hatte. Es mußte allgemein auffallen, daß er ihn, auch während des unmittelbaren Gespräches, anzusehen vermied. Die Sitzung begann jetzt mit Tomasians Bericht über die verzweifelte Lage:

      »Das Beschlossene ist geschehen. Wir haben nun alles Fleisch ausgegeben. Nur für die Zehnerschaften wurde der letzte Teil heimlich zurückgehalten. Es reicht aber höchstens für zwei Tage noch. Die Frauen und Kinder haben ihren ersten vollkommenen Fasttag, wenn man das Essen der vorhergehenden Tage nicht auch als Fasten bezeichnen will.«

      Muchtar Thomas Kebussjan hob die Hand, nachdem er sich mit dem ungleichen Blick seiner Augen versichert hatte, daß alle Parteigänger vom letzten Mal auf dem Posten waren:

      »Ich sehe nicht ein, warum man den Leuten aus den Zehnerschaften zu essen gibt und die Frauen und Kinder fasten läßt. Junge kräftige Männer vertragen eher einen Stoß.«

      Hier griff Gabriel Bagradian sofort in die Verhandlung ein:

      »Das ist doch sehr einfach einzusehn, Muchtar Kebussjan. Die Kämpfer müssen jetzt bei Kräften sein, mehr als je.«

      Um den Befehlshaber der Verteidigung zu unterstützen, lenkte Ter Haigasun von der Ernährungsfrage ab:

      »Vielleicht sagt uns Gabriel Bagradian seine Ansicht über die wahren Kräfte der Zehnerschaften.«

      Gabriel machte eine Handbewegung auf Tschausch Nurhan hin:

      »Die Verfassung der Zehnerschaften ist nicht viel schlechter als vor dem letzten Kampf. Erstaunlich genug, doch es ist so, und Tschausch Nurhan wird es bestätigen. Die Verteidigungswerke sind aber viel stärker und besser als damals. Die Angriffsmöglichkeiten der Türken haben sich sehr verringert. Im großen und ganzen bleibt ihnen nur der Norden übrig, und alle Vorbereitungen beweisen das auch. Die Bastion werden sie trotz ihres Generals nicht anzugreifen wagen, das ist so gut wie sicher. Mit der Besatzung dort kann man, wie wir alle wissen, keine besondere Ehre aufstecken. Ich beabsichtige aber, Tschausch Nurhan

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