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zu verhindern trachte. Schwindel und Schwachgefühl drohten ihn aufs Lager zu ziehn. Er war krank, verhungert. Sollte er den Gottesdienst absagen oder sich vertreten lassen? Ter Haigasun erkannte, daß es nicht Schwäche war, sondern die Furcht, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, die heute vor ihm lag. Und noch etwas andres, Unbestimmtes. Endlich erhob er sich und gab das Zeichen. Der Mesnerjunge nahm das Stangenkreuz auf, um es dem Zug voranzutragen. Ter Haigasun folgte den Sängern und Diakonen langsam mit gefalteten Händen und gesenktem Blick. Dieser nach innen geschlagene Priesterblick, welcher an der sich spaltenden Menge teilnahmslos wie an Buschwerk vorbeizog, beobachtete dennoch alles mit überscharfer Klarheit. Ter Haigasun hatte nicht mehr als fünfzig Schritt zum Altar zurückzulegen. Doch bei jedem dieser Schritte durchdrang ihn der Seelenzustand des Volkes ringsum mit schmerzhafter Strahlung. Die Lethargie des Morgens war einer erregten Beweglichkeit gewichen. Die menschliche Natur hatte in dieser Stunde irgendwelche äußerste Reserven oder Scheinkräfte aufgeboten. Vor allem zeigten die kleinen Kinder die tückischeste Ungebärdigkeit. Sie brüllten aus voller Kehle, strampelten und warfen sich zur Erde. Vielleicht waren es die Hungerschmerzen in den kleinen aufgeschwollenen Bäuchen. Die empörten Mütter aber schüttelten und schlugen sie, weil kein andres Beruhigungsmittel half. Da die langen Kreischlaute und das Gescheite sich steigerten, war vorauszusehen, daß die heilige Handlung immerfort gestört und daß Erhebung und Gebetessammlung unmöglich sein werde. Doch nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen benahmen sich zum Teil äußerst unruhig. Da gab es alte Männer – jene bekannten »kleinen Besitzer« zumeist –, die zusammenhanglos aufgeblasene Reden führten, ohne wie sonst ehrfürchtig zu verstummen, da der Priester an ihnen vorbei zum Altar wandelte. Ter Haigasun erkannte daran, daß die innere Auflösung mit dem Hunger Schritt hielt. Es ist gut, überlegte er, daß die Zehnerschaften nicht zu der Versammlung kommen. Solange sie fest bleiben, ist noch nicht alles verloren. Gleichzeitig aber mit diesem beruhigenden Gedanken hob er die Augen und blieb eine Sekunde lang angewurzelt stehen. Was bedeutete das? Hier waren dennoch Bewaffnete erschienen. Einzeln und in losen Gruppen freilich, aber jedenfalls gegen seinen und Gabriel Bagradians ausdrücklichen Willen. Wer hatte diese Leute aus den Stellungen hergeschickt? Da die Frauen, die Schlaffheit der ersten Tageshälfte überwindend, für den Gottesdienst ihre Festgewänder, die bunten Tücher und den blitzenden Münzenschmuck angelegt hatten, verschwanden die braunen Flecke der Krieger in der allgemeinen Farbigkeit. Der nächste Blick aber überzeugte Ter Haigasun, daß sich diesmal nicht etwa die bewährten Kämpfer der nahe gelegenen Abschnitte eingefunden hatten, sondern die Deserteure der fernen Südbastion, jene landfremden und an der äußersten Grenze gehaltenen Burschen, welche nicht im Kirchenbuch standen und sich zum Glück nur selten im Lager, niemals aber bei der Messe zeigten. War diese Gesellschaft auf einmal fromm geworden? Ter Haigasun wandte den Kopf knapp zur Regierungsbaracke rechter Hand. Wo war die Wache? Ach ja, Bagradian hatte alles, selbst einen Teil der Reserve, in die Stellungen gezogen. Der Priester erwog blitzschnell: Umkehren, unter irgendeinem Vorwand! Den Gottesdienst verschieben! Nach Gabriel Bagradian schicken! Die Muchtars zusammenrufen! Vorkehrungen für die Sicherheit treffen! Trotz dieser Erwägungen ging er aber weiter, langsamer allerdings und mit kleinen zögernden Schritten. In der Nähe des Altars standen dichtgereiht die Mitglieder der alten, hervorragenden Familien, die Muchtars mit ihren Frauen und Töchtern, die Schar angesehener Grauhäupter in derselben Ordnung, wie sie in den Kirchen des Tals üblich war. Der Führerrat schien nur spärlich vertreten zu sein. Bedros Hekim, der übrigens seine Freidenkerei niemals äußerlich betätigte, hatte im Lazarettschuppen nicht abkommen können. Ter Haigasun suchte vergebens das Gesicht Pastor Arams. Lehrer Schatakhian war entschuldigt, da er als Befehlshaber der Ordonnanzen in der Nordstellung bleiben mußte. Was Gabriel Bagradian betrifft, so hatte er zwar versprochen, rechtzeitig zum Gottesdienst zu kommen, schien aber durch irgendwelche Umstände abgehalten worden zu sein. Als die Reihen der Dorfalten auseinandertraten, um eine Gasse für den geistlichen Aufzug zu bilden, wurde die Seele Ter Haigasuns noch einmal gewarnt. Zwischen Sarkis Kilikian und einem Unbekannten stand Hrand Oskanian eingeklemmt wie ein Verhafteter. Der Knirps mit dem schwarzumwucherten Gesicht schnitt eine unselige Grimasse, zwinkerte den Priester heftig an und schnappte mit verzweifeltem Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen. Und wieder war es Ter Haigasun, als sollte er stehnbleiben und sich scharf dem Ausgestoßenen zuwenden: Was gibt's da? Was hast du mir zu sagen, Lehrer Oskanian? Und wieder ging Ter Haigasun weiter, den Blick kaum hebend, von irgendeiner Macht oder Ohnmacht geführt, die ihm das erstemal auf dem Damlajik den starken Willen raubte.

      Gerade als er die erste Stufe des Altars betrat, bemerkte er, daß er den Brief Nokhudians daheim in der Pfarrhütte vergessen hatte. Diese Tatsache verwirrte ihn über die Maßen, denn sie vereitelte die Absicht, sogleich nach dem Segen den Brief über das Ende der Landsleute von Bitias zu verlesen, um dadurch alle fluchtsinnenden Strömungen zu entkräften. Das vergessene Blatt und die böse Vorbedeutung bestürzten ihn so tief, daß er eine schier endlose Weile verstreichen ließ, ehe er die Altarstufen hinanstieg. Das Volk hinter seinem Rücken schien die Geistesabwesenheit und Unkraft des Priesters genau zu spüren, denn das Kindergeschrei, das unruhige Gewoge und der zudringliche Schwatz wurden immer unverschämter. Und in diesen ausgehöhlten Herzen sollte sich die große Inbrunst bilden, um das Wunder Gottes herabzuflehen? Gequält drehte sich Ter Haigasun um. Da stürzte gerade Gabriel Bagradian atemlos herbei und stellte sich in die erste Reihe. Ter Haigasun fühlte einen Augenblick lang Erleichterung. Schon hatte der Sängerchor hinter seinem Rücken den Hymnus begonnen. Ihm war nun eine Pause geschenkt, und er schloß die Augen, um sich zu sammeln. Hohl und matt klangen die Stimmen im Freien:

      »Der Du Deine Schöpferarme gegen die Sterne streckst,

       Gib Stärke unsern Armen,

       Damit sie, ausgestreckt, zu Dir gelangen!

      Durch die Krone des Hauptes kröne den Geist,

       Bekleide die Sinne mit dem Orarion,

       Mit Arons blühendem goldenem Kleid!

      Gleich allen Engeln, den theokratischen, herrlichen,

       Sind wir angetan mit Deiner ummantelnden Liebe,

       Dem Geheimnis, dem heil'gen, zu dienen.«

      Der Chor schwieg. Ter Haigasun sah das kleine silberne Waschbecken vor sich, das ihm der Diakon reichte. Er tauchte seine Finger ein und ließ sie so lange im Wasser, daß ihm der Diakon mit erstauntem Blick das Becken entzog. Dann erst kehrte er sich halb, im Profil, zur Gemeinde und bezeichnete die Gläubigen dreimal mit dem Kreuz. Darauf wandte er sich wieder zum Altar und erhob die Hände. In diesem Augenblick teilte sich das Wesen Ter Haigasuns. Der eine Teil war der zelebrierende Priester, der nach alter Vorschrift diesen außerordentlichen Gottesdienst abhielt und keinen Einsatz der Wechselgesänge versäumte. Der andere Wesensteil, er bestand aus einigen Schichten, war ein sterbensmatter Kämpfer, der übermenschliche Kräfte aufwenden mußte, damit der Priester seine Pflicht erfüllen könne. Es war zuvörderst ein Kampf mit dem eigenen Körper, den der zweite Ter Haigasun führte. Dieser Körper sagte bei jedem Wort der Liturgie: Bis hierher und nicht weiter! Merkst du denn nicht, daß ich keinen Tropfen Blut mehr im Kopf habe? Noch ein oder zwei Minuten, und ich werde dir die Schande bereiten, hier am Altar zusammenzustürzen. Mit dem Körper allein wäre der Kämpfer leicht fertig geworden. Aber hinter diesem verbargen sich viel tückischere Feinde. Einer vor ihnen war ein Taschenspieler, der unablässig alle Geräte vor den Augen des Priesters verwandelte. Die großen Silberleuchter wurden zu aufgepflanzten Bajonetten. Aus den schöngedruckten Seiten des Breviariums sprangen die Namen der Toten des Kirchenbuchs, und überall drohte das große Kreuz des Rotstifts. Wenn von Zeit zu Zeit ein Windstoß herüberpfiff, prasselte das Laub an der Altarwand auf, und welke Blätter tanzten dann herbei und senkten sich ohne Ehrfurcht auf das Tabernakel und aufs Evangelium mit dem goldenen Kreuz im Deckel, überall lagen schon diese verdorrten braunen Blätter, einzeln und in Häuflein. Ter Haigasun, der Zelebrant, war zum Psalm gelangt. Seine von ihm ganz und gar abgetrennte Stimme sang:

      »Schaffe mir Recht, o Herr, und entscheide meine Sache im Gericht!«

      Der Diakon respondierte mit säuselndem Tonfall:

      »Errette mich vom Geschlechte, das nicht heilig ist, vom sündig arglistigen Manne.«

      »Warum hast Du mich vergessen? Warum gehe ich traurig einher, wenn mein Feind mich plagt?«

      »Ich

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