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erstarrten Seele Hoffnung und Licht zu geben. Alles entwickle sich zum Besten. Der Krieg sei jetzt bestimmt in wenigen Wochen vorüber, und die Welt werde Frieden schließen. Madame habe doch sicher vom Besuch des Agha aus Antakje gehört. Nun, dieser alte, einflußreiche türkische Herr hatte deutlich durchblicken lassen, daß Gabriel Bagradian mit Madame werde nach Frankreich zurückkehren dürfen, und zwar in allernächster Zeit schon. Es handle sich daher nur um einige Tage noch, und dann beginne ein neues und schöneres Leben für zwei so junge und prächtige Menschen. Seine Herzensgüte verwandelte den alles verneinenden Nörgler in einen erfindungsreichen Märchenerzähler. Selbst der geringschätzig schartige Ton seiner Stimme klang behutsam. Während dieser linden Fabel aber zeigte sich plötzlich Iskuhis Gestalt im Zelteingang. Juliette, die der Dichtung des Arztes die ganze Zeit über mit freundlich abwesenden Augen zu lauschen schien, fuhr beim Anblick Iskuhis zusammen, setzte sich schreckerfüllt auf, zog die Knie hoch und begann zu schreien:

      »Nicht sie ... Nicht sie ... Sie soll gehn ... Ich nehme nichts von ihr ... Sie will mich umbringen ...«

      Das Sonderbare aber war, daß sich Iskuhi während dieses Wahnsinnsausbruches nicht fortrührte, sondern daß ihr eigenes Gesichtchen sich zu einer Maske des Wahnsinns verzerrte und daß es aussah, als würde nun auch sie sogleich losschreien. Bedros Hekim sah die beiden Frauen bestürzt an. Grauenhafte Erkenntnisse überfielen ihn. Auch als Iskuhi schon längst wieder verschwunden war, ließ sich Juliette, deren geschwächtes Herz tobte, lange nicht beruhigen.

      Was war mit Iskuhi geschehen?

      Seit fünf Tagen hatte sie Gabriel nicht gesehen. Seit zwei Tagen hatte sie keinen Bissen mehr zu sich genommen. Sie hungerte ohne Notwendigkeit, denn Kristaphor hatte, als er die Konserven in die Nordstellung brachte, den Frauen zurückgelassen, was sich noch an Schokoladetafeln und Zwieback vorfand. Doch Iskuhi wollte hungern, und nicht nur weil das ganze Volk hungerte. Fünf Tage lang hatte sie Gabriel nicht gesehn, dafür aber war ihr Bruder Aram zweimal vor ihrem Zelt erschienen, sie aber hatte sich verkrochen und nicht geöffnet. Jeder dieser fünf Tage schlich mit seinen Stunden, die wie Jahre dauerten, unerträglich dahin. Warum kam Gabriel nicht? Iskuhi erwartete sein Kommen in jeder Sekunde des Tages und der Nacht. Sie wäre jetzt, selbst wenn ihr erschöpfter Körper die Kraft dazu besessen hätte, dem Geliebten nicht in die Stellung nachgegangen. Mit jeder Stunde weniger. Sie lag im früheren Tomasianzelt schweratmend auf ihrem Bett, unfähig, ein Glied zu rühren. Ein Ohrensausen, mächtig wie Meeresbrandung, zersprengte ihren Kopf. Und doch, dieses Ohrensausen war nicht mächtig genug, die Stimme der Wahrheit zu lähmen. Wie ein Sterbender mit seinen letzten Augenblicken geizt, so hatte Iskuhi mit den Minuten der Gemeinschaft gegeizt. Und war das etwa nicht in der Ordnung? Wieviel Minuten hatte man auf dem Damlajik zum Verschwenden übrig? Gabriel aber verschwendete nicht nur die unersetzlichen Minuten, sondern ganze unendliche Lebenstage ihrer kurzen Liebe. Verschwendete? Liebe? Grausam holte Iskuhi alles Erlebte aus sich hervor. Ja, Gabriel war zärtlich zu ihr gewesen, das heißt, er streichelte sie, manchmal durfte sie ihre Hand auf seinem nackten Herzen halten und mit ihm weinen. Doch er weinte um Stephan. Und wenn er sein Herz öffnete, so war es Gram und Erbarmen mit der Ehebrecherin, was sich offenbarte. Unerbittlich hing er an dem »Fremden«, wie tief es ihn auch verraten hatte. Was half es, wenn er Iskuhi »Schwesterchen« nannte und »Heimkehr«. Diese Worte waren für sie keine Liebkosungen mehr, sondern Brandwunden. Immer wieder stieg die zögernde Antwort auf, die Gabriel noch vor Stephans Tod auf ihre sehnsüchtige Fallenfrage gegeben hatte: »Wenn wir uns draußen in der Welt begegnet wären, hättest du in mir die Schwester bemerkt?« Gabriel war wenigstens sehr offen zu ihr. Mit seiner ganzen Haltung sagte er: Du bist ein blasses, unwissendes, niedriggeborenes Ding, das ohne den grausamen Lauf der Dinge niemals würdig gewesen wäre, von mir angeblickt zu werden. Ich danke dir, du kleines Schwesterchen, mit meinen kühlen Händen, mit meinen brüderlich fernen Küssen dafür, daß du dich so sehr bemühst, meinen Schmerz mit mir zu tragen. Wie aber könntest du das, du armes Armenierkind aus Yoghonoluk? Trotz allem und für immer gehöre ich der Fremden, der Französin. Nicht mit Iskuhi werde ich sterben, sondern mit Juliette. Mag sie mich auch verraten haben, vor Juliette beug ich mich, zu Iskuhi beuge ich mich nur herab.

      Bei diesen Erkenntnissen blieb der Schmerz nicht stehn. Noch schärfer forschte er nach der Wahrheit. Was Gabriel ihr gab, das war nur ein sanftes Entgegennehmen ihres Dienstes, nichts mehr. Wäre es anders, fragte sich Iskuhi, wenn Juliette – was sie im Innersten hundertmal heiß ersehnt – das Fieber nicht überstanden hätte? Und sie erkannte: Nein! Gabriel würde sie dann noch viel weniger liebhaben als jetzt. Ah, wie fühlte diese Kranke das Heimlichste. Iskuhi aber wollte Juliettens Zelt nicht mehr betreten, sie nie, nie mehr wiedersehn. Und doch, nicht an Juliette lag die Schuld, sondern einzig und allein an ihr, Iskuhi. Worin aber bestand ihre Unwürdigkeit, geliebt zu werden? Sie war keine Europäerin, sie war nur die Tochter eines armenischen Zimmermanns, ein Dorfmädchen aus Yoghonoluk. Konnte das der tiefste Grund sein? War Gabriel ein Europäer? Stammte er nicht aus demselben armenischen Dorf wie sie? Der ganze Unterschied war, daß sie nur zwei Jahre in Lausanne und er dreiundzwanzig Jahre in Paris gelebt hatte. Das konnte der Grund nicht sein. Wenn er sie ansah, nannte er sie schön. Halt! Hier lag es. Warum sah er sie oft so merkwürdig, so fern an? Etwas an ihr störte ihn und machte ihn kalt. Iskuhi entwand sich ihrer Schwäche und lief zu dem kleinen Spiegel, der auf dem Tischchen stand. Sie mußte aber diesen Spiegel gar nicht in Anspruch nehmen, da sie ja alles wußte. Ein Krüppel war sie, wenn auch nicht als solcher geboren, so doch dazu geschlagen. In dem halben Jahr seit den Verschickungstagen von Zeitun war der linke Arm immer schlimmer geworden. Wenn sie ihm nicht durch die Schlinge half, hing er abgemagert und verkümmert herab. Doch wie geschickt sie auch war, diese Entstellung zu verbergen, Gabriel kam darüber nicht hinweg, oh, sie wußte es. Einmal hatte er einen leichten Kuß auf diesen Arm gedrückt. Noch jetzt vermeinte sie die mitleidige Selbstüberwindung dieses Kusses zu spüren. Iskuhi fiel wieder aufs Bett. Das Ohrensausen wuchs wie ein Sturm, der alles verschlang. Krampfhaft versuchte sie Gabriels Ausbleiben sachlich zu rechtfertigen: In diesen Tagen hatte wohl der Hunger in den Stellungen alles drunter und drüber geworfen. Bagradian mußte die ganze Verteidigung neu organisieren. Es wurde auch wieder geschossen. Doch diese vernünftigen Erklärungen gewannen nicht die geringste Macht über sie. Hingegen kam ihr auf dem Grunde des Ohrensausens ihre eigene Stimme entgegen, so fremd. Sie hörte das »chanson d'amour«, das sie auf Juliettens Verlangen unten in der Villa Bagradian einmal gesungen hatte, Stephan war dabeigewesen und Gabriel nachher ins Zimmer gekommen. Immer wieder kreisten die ersten Zeilen des alten Volkslieds in ihrem Kopf, zum Wahnsinnigwerden:

      »Sie kam aus ihrem Garten

       Und hielt an ihre Brust gepreßt

       Zwei Früchte des Granatbaums ...

       Sie gab sie mir, ich nahm sie nicht.«

      Weiter kam das Lied nicht. Zugleich aber geschah das Entsetzliche wieder, das sie nun lange schon verschont hatte. Das Gesicht von der Landstraße nach Marasch, die wechselnde Kaleidoskopfratze des stoppelbärtigen Mörders war da und bedrängte sie. Plötzlich blieb das Greuelgesicht stecken, als wäre in dem Verwandlungsapparat etwas nicht in Ordnung. Das Steckengebliebene aber wurde auf geheimnisvolle Weise zu Gabriels Gesicht, und noch feindseliger und noch mörderischer als das andre. Iskuhi verlor den Atem vor Angst und Unglück. Stumm flehte sie um Hilfe: Aram ...!

      In diesen Minuten war Pastor Aram Tomasian tatsächlich nicht mehr weit vom Zelt seiner Schwester entfernt. Er war mit Howsannah gekommen, die ihr armseliges Kind trug. Als Aram grob Einlaß forderte, antwortete ihm kein Laut. Da zog er kurzerhand sein Messer und zerschnitt die Schnüre, die das Zelt von innen verschlossen. Der Pastor hatte den großen Sack, den er geschultert trug, niedergleiten lassen. Die Frau mit dem fast leblosen Bündel des Säuglings blieb einige Schritte hinter ihm. Der ganze Aufzug sah danach aus, als wollten die sinnverwirrten Menschen wirklich schon in dieser Stunde den Damlajik verlassen, ohne den Gottesdienst und die Volksversammlung erst abzuwarten. Tomasian schien nur noch auf der Suche nach Kework zu sein, um dann sogleich mit den Seinen in das sichere Nichts aufzubrechen.

      Wäre Pastor Aram in dieser Stunde er selbst gewesen, mild, evangelisch, liebevoll, der starke frohe Bruder von Zeitun, Iskuhi hätte sich vielleicht nicht lange geweigert, mit ihm zu gehn. Warum auch sollte sie in diesem verlassenen Zelt bleiben? Sie wußte, daß ihre Füße sie nicht mehr weit tragen konnten. Dann würde irgendwo

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