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anheischig gemacht, die Stellung der türkischen Truppen auszuforschen. Sie kamen mit einem Bericht zurück, der die arge Wahrheit noch übertrieb. Vielleicht vergrößerte der klägliche Gemütszustand der Gesellen, die ihre Strafe erwarteten, die Tatsachen, vielleicht auch wollten sie durch die Schilderung der feindlichen Riesenmacht ihre eigene Schuld verringern. Denn wie hätten, auch ohne das große Verbrechen, die wenigen Deserteurzehnerschaften der schlauen Umgehung durch das türkische Militär standhalten können? Bagradian sah an den Kundschaftern vorbei und sagte kein Wort. Er wußte, daß ein großer Teil der Schuld auf seiner Seite lag. Er hatte sich nicht warnen lassen und die Neueinteilung des Verbrecherpacks versäumt.

      Samuel Awakian war mit den Mannschaften der Überfallsgruppe längst zu Gabriel gestoßen. Eine Stunde kostete es, und dann dehnten sich ein paar schüttere Schwarmlinien in zwei Reihen quer über die Kuppe und die faltenreiche Bergfläche bis in die Buschwerkzone und die Felsen hinein. Auch die tapferen Männer der Nordstellung waren ans Ende ihrer Kräfte gelangt. Was konnte man da von den alten Leuten der Reserve fordern? Hingeworfen wie morsches Holz lag jeder auf der Stelle, wohin man ihn befohlen hatte, ohne zu wachen, ohne zu schlafen. Der Befehl, aus Steinen und Erde eine Deckung für den Kopf aufzuschichten, wurde kaum mehr befolgt. Nachdem Gabriel von Mann zu Mann die ganze hoffnungslos lange Front abgeschritten war und vor dieser Front noch eine lose Postenkette aufgestellt hatte, begab er sich zu den Haubitzen. Er hatte jeden Punkt des Damlajik im Kopf, jede Distanz und jede Ortsbeschaffenheit. Er konnte daher die Schußelemente für den Raum der Südbastion in seinem Notizbuch genau bestimmen.

      Nach diesem wüstenheißen Tage war die erste herbstliche Nacht eingebrochen, in der plötzliche Kühle herrschte. Gabriel saß allein bei den Geschützen, deren Bedienung er schlafen geschickt hatte. Awakian verschaffte ihm eine Decke. Aber er wickelte sich nicht ein, denn sein Körper brannte, und sein Kopf drohte fortzufliegen, als sei er zu leicht. Gabriel streckte sich aus, ohne zu wachen, ohne zu schlafen. Seine Augen stierten in den roten See oben am Himmel. Der Brandspiegel schien immer tiefer und größer zu werden. Eine melodische Frage setzte sich in seinem erschütterten Kopf fest: Wie lange brennt schon der Altar? Dann aber mußte er eine ganze Weile nichts mehr von sich gewußt haben, denn etwas in seiner Nähe weckte ihn. Es war keine Hand, keine Stimme, sondern nur eine Nähe. Doch gerade der Augenblick des Gewecktwerdens, ein märchenhaft langer Augenblick voll tiefer Erfahrungen, tat ihm so mütterlich wohl, daß er sich gegen das volle Erkennen wehrte. Die Einheit des Erschöpften mit der Nähe neben ihm war in dieser kurzen Spanne so groß, daß ihn Iskuhis Wirklichkeit dann beinahe leicht enttäuschte, brachte sie doch das Bewußtwerden des Unentrinnbaren mit sich. Bei ihrem Anblick fiel ihm mit tiefem Schreck Juliette ein. Er hatte seine Frau eine Ewigkeit lang nicht gesehn und kaum an sie gedacht. Seine erste angsterfüllte Frage war: »Und Juliette? Was ist mit Juliette?«

      Iskuhi hatte sich mit dem Aufgebot ihrer letzten Körperkraft hierhergeschleppt. Alle Geschehnisse waren für sie in Nebel zergangen. Nur eines brannte unausgesetzt in ihr: Warum kommt er nicht? Warum hat er mich verlassen? Warum ruft er mich nicht in der letzten Stunde? Seine Frage nach Juliette aber hatte ihre Fragen kalt erwürgt. Sie schwieg, und es dauerte recht lange, bis sie sich wieder fand und mit stockenden Worten über alles berichtete, was sich auf dem Dreizeltplatz begeben hatte, über den Raubüberfall, über Schuschiks Tod und die Verwundung des Pastors. Bedros Hekim habe Juliette vergeblich dazu überreden wollen, sich von Kework hinab zum Meer tragen zu lassen. Juliette aber wolle dies nicht und schreie, sie werde sich nicht aus ihrem Zelte fortrühren. Doch auch der verwundete Aram liege noch im Zelt ... Gabriel blickte immer in die rote Himmelslache, die nicht blässer wurde:

      »Es ist ganz gut so ... Vor dem Morgen wird es zu nichts kommen ... Zeit genug ... Eine Nacht im Freien könnte Juliette töten ...«

      Etwas in diesen Worten tat Gabriel weh. Er knipste an seiner Taschenlampe. Nun aber gab die letzte verbrauchte Batterie kaum soviel Licht mehr wie ein Glühwurm. Trotz der tragischen Röte dort oben und den noch immer aus der Stadtmulde aufschießenden Flammen schien ihm diese Nacht finstrer zu sein als alle früheren. Er konnte Iskuhi neben sich kaum wahrnehmen. Leise tastete er nach ihrem Gesicht, nach ihrer Gestalt und erschrak, wie eisig und abgezehrt ihre Wangen und Hände waren. Zärtlich wallte es in ihm auf. Er nahm die Decke und hüllte das Mädchen ein:

      »Wie lange hast du schon nichts gegessen, Iskuhi?«

      »Vorhin hat uns Mairik Antaram etwas gebracht«, log sie, »ich habe genug ...«

      Gabriel drückte Iskuhi fest an sich, das Halbschlafgefühl ihrer Nähe wieder suchend:

      »Es war so merkwürdig schön, als ich vorhin neben dir aufgewacht bin ... Wie lange schon hab ich dich nicht bei mir gehabt, Iskuhi, Schwesterchen ... Jetzt bin ich sehr glücklich, daß du gekommen bist ... Glücklich bin ich jetzt, Iskuhi ...«

      Ihr Gesicht sank langsam gegen das seine, als sei sie zu schwach, ihren eigenen Kopf zu tragen:

      »Du bist nicht gekommen ... Da bin ich gekommen ... Es ist doch schon so weit, nicht wahr?«

      Seine Stimme klang dunkel wie aus dem Schlaf:

      »Ja, ich glaube, es ist schon so weit ...«

      Aus Iskuhis Worten sprach ein erschöpftes und doch trotziges Auf-ihrem-Recht-Bestehen:

      »Du weißt ja, was wir besprochen haben ... was du mir versprochen hast ... Gabriel ...?«

      Er nahm sie aus einer fernen Verlorenheit zurück:

      »Vielleicht liegt noch ein langer Tag vor uns ...«

      Mit einem tiefen Atemzug wiederholte sie diese Worte, als seien sie ein Geschenk:

      »Ein langer Tag noch ...«

      Immer wärmer umfing sie sein Arm:

      »Ich habe eine große Bitte an dich, Iskuhi ... Wir haben ja oft darüber gesprochen ... Juliette ist viel ärmer und unglücklicher als wir beide ...«

      Sie bog ihre Wange vom Gesicht des Mannes weg. Gabriel aber nahm ihre kranke Hand, streichelte und küßte sie immer wieder:

      »Wenn du mich liebhast, Iskuhi ... Juliette ist so unmenschlich einsam ... unmenschlich einsam ...«

      »Juliette haßt mich ... Sie kann mich nicht ertragen ... Ich will sie nicht wieder sehn ...«

      Seine Hand spürte den Krampf, der sie erschütterte:

      »Wenn du mich liebhast, Iskuhi ... Ich bitte dich, bleib bei Juliette ... Ihr müßt bei Sonnenaufgang die Zelte verlassen ... Ich werde ruhiger sein ... Sie ist am Wahnsinn, und du bist gesund ... Wir werden uns wiedersehn ... Iskuhi ...«

      Ihr Kopf sank vor. Sie weinte lautlos. Da flüsterte er:

      »Ich hab dich lieb, Iskuhi ... Wir werden beieinander sein ...«

      Nach einer Weile versuchte sie aufzustehn:

      »Ich gehe jetzt ...«

      Er hielt sie fest:

      »Jetzt noch nicht, Iskuhi! Jetzt mußt du noch bei mir bleiben. Ich brauche dich ...«

      Langes Schweigen. Er fühlte seine Zunge schwer und unbeweglich im Mund. Der scharf pochende Kopfschmerz wuchs. Der flugleichte Schädel verwandelte sich in eine riesige Bleikugel. Gabriel sank in sich zusammen, wie von einem andern Kolbenhieb gefällt. Sarkis Kilikians stumpfe Augen sahen ihn mit apathischem Ernst an. Er erschauerte vor sich selbst. Wo lag der Russe? Hatte er den Befehl gegeben, die Leiche fortzuschaffen? Alles, was in diesen letzten Stunden geschehen war, schien völlig fremd, ihm nicht angehörig, wie ein tolles Gerücht. Er verfiel in eine schwerfällige unbestimmte Grübelei, wobei er selbst nur der Mittelpunkt eines wellenartigen Kopfschmerzes war, der ihn umbrandete. Als Gabriel dann schreckhaft auffuhr, hatte sich Iskuhi schon erhoben. Er tastete entsetzt nach seiner Uhr:

      »Wie spät ist es? ... Jesus Christus! ... Nein, Zeit, Zeit!! ... Warum hast du mir die Decke gegeben? ... Du zitterst ja vor Kälte ... Du hast recht, es ist besser, du gehst jetzt, Iskuhi ... Du gehst zu Juliette ... Ihr habt noch fünf, sechs Stunden vor euch ... Ich werde Awakian rechtzeitig schicken ... Gute Nacht, Iskuhi ... Tu mir die Liebe und nimm die Decke um ... Ich brauche sie

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