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meldete sich der Betriebsratsvorsitzende Helmut Wenger zu Wort.

      »Ihre Versprechen in allen Ehren, Herr Bergmann«, erklärte er, »und ich persönlich bin geneigt, Ihren Worten Glauben zu schenken, aber ich will Sie auch warnen. Wenn sich bis zum Jahresende nicht sehr viel getan hat, dann werden Sie mit Sicherheit gewaltige Schwierigkeiten bekommen. Das haben wir in den vergangenen Monaten auch Ihrem Vater immer wieder gesagt, und wir haben ihm sogar schon mit Streiks gedroht, wenn sich hier nicht bald etwas ändert. Daraufhin hat er es wohl vorgezogen, Ihnen das Steuer in die Hand zu geben. Wir alle kennen Sie schon seit vielen Jahren, Herr Bergmann, und ich spreche mit Sicherheit für die meisten von uns, wenn ich sage, daß wir Sie gut leiden können, aber über die Arbeitsbedingungen lassen wir nicht mehr mit uns reden. Wir wollen mehr Sicherheit am Arbeitsplatz, wir wollen einen guten Arzt, und wir wollen eine andere Arbeitszeit. Es geht nicht mehr länger an, daß wir zwölf und vierzehn Stunden hier in der Fabrik verbringen. Notfalls müssen mehr Leute eingestellt werden.« Er sah Rainer mit festem Blick an. »So, Herr Bergmann, jetzt kennen Sie unsere Einstellung.« Dann streckte er die rechte Hand aus. »Und nun hoffe auch ich, auf eine gute Zusammenarbeit.«

      Rainer erwiderte den kräftigen Händedruck, und er wußte, daß ihm bis zum Jahresende ein hartes Stück Arbeit bevorstehen würde. Allerdings wußte er auch, daß Helmut Wenger recht hatte. Martin Bergmann hatte von seinen Angestellten das äußerste gefordert, aber keine angemessene Gegenleistung dafür erbracht. Die Gehälter lagen scharf an der unteren Grenze der Tarifverträge, die Sicherheitsvorkehrungen in der Fabrik waren unter aller Kritik, und eine medizinische Versorgung gab es überhaupt nicht. Dafür standen Überstunden an der Tagesordnung.

      »So geht’s wirklich nicht weiter«, murmelte Rainer sich selbst zu, nachdem die Leute wieder an ihre Arbeitsplätze gegangen waren. »Hier muß sich eine ganze Menge ändern.«

      *

      Eine Woche lang hatte Anke Bergmann mit sich gerungen, dann hatte sie endlich in der Praxis von Dr. Robert Daniel angerufen und einen Termin vereinbart. Jetzt hielt sie ihren wendigen Sportwagen, den Rainer ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, mit etwas gemischten Gefühlen vor der prachtvollen Villa an.

      Dr. Robert Daniel, Arzt für Gynäkologie, stand auf einem großen Messingschild. Darunter waren die Sprechstundenzeiten aufgeführt.

      Anke atmete tief durch, dann stieg sie aus ihrem Auto und drückte auf den Klingelknopf neben dem Schildchen Praxis. Mit einem dezenten Summen sprang die schwere Eichentür auf, und Anke gelangte in ein modern eingerichtetes Vorzimmer. Eine junge Empfangsdame saß hier am Schreibtisch. An ihrer blütenweißen Bluse hatte sie ein Schildchen befestigt, auf dem Gabi Meindl stand. Jetzt wandte sie sich der eintretenden Patientin zu.

      »Guten Morgen«, grüßte sie höflich, musterte Anke dabei aber mit neugierigen Blicken.

      »Guten Morgen. Mein Name ist Anke Bergmann. Ich habe um zehn Uhr einen Termin bei Herrn Dr. Daniel.«

      Gabi Meindl warf einen Blick auf ihren Terminkalender und hakte einen Namen ab, dann nahm sie die Versicherungskarte entgegen, um die Daten im Computer zu speichern, bevor sie sich der Patientin wieder zuwandte.

      »Nehmen Sie bitte noch im Wartezimmer Platz, Frau Bergmann«, bat sie und wies schräg hinter sich. »Gleich die erst Tür rechts.«

      Anke nahm auf einem der stoffbezogenen Sessel Platz und sah sich unauffällig um. Das Wartezimmer war verhältnismäßig groß und sehr wohnlich eingerichtet. An der rechten Wandseite hing die gelungene Kopie eines Monet. Es handelte sich um den Seerosenteich mit der japanischen Brücke, den Claude Monet einst in so perfekter Komposition von zarten Grün- und Gelbtönen und einem Hauch von Rosé geschaffen hatte.

      Die Fensterfront gegenüber dem Sessel, auf dem Anke saß, gab den Blick auf die Berge frei, die von hier so greifbar nahe schienen, als müsse man nur vor die Tür treten und könne dann gleich mit einer Bergwanderung beginnen.

      Die linke Wandseite zierte ein Gobelin. Mutter und Kind. Ein zauberhaftes Bild, das von Geborgenheit und inniger Liebe zeugte. Anke wandte rasch den Blick ab. Es tat nur weh, dieses Bild zu betrachten.

      Die Tür des Wartezimmers öffnete sich, und eine Frau von etwa fünfzig Jahren mit weißem Kittel schaute herein.

      »Frau Melzer, bitte«, erklärte sie und lächelte der schwangeren Frau herzlich zu.

      Sie erhob sich und folgte der Sprechstundenhilfe nach draußen. Anke spürte, wie sie langsam nervös wurde. Was wollte sie hier eigentlich? Sie wußte doch schon seit Jahren, was mit ihr los war. Und wie konnte sie einem Arzt, den sie nur einmal kurz gesehen hatte, von so intimen Dingen erzählen… von Dingen, die sie sogar Rainer verschwieg…

      Die Sprechstundenhilfe trat erneut herein.

      »Ihre Rezept, Frau Heimann.« Damit gab sie der Dame, die noch mit Anke im Wartezimmer gewesen war, ein Blatt in die Hand. »Aber der Herr Doktor hat gesagt, daß Sie sich unbedingt noch einmal untersuchen lassen müssen. Fräulein Meindl wird Ihnen einen Termin geben, ja?«

      Die Dame nickte. »Ist in Ordnung, Frau Kaufmann.« Sie blickte zu Anke hin. »Auf Wiedersehen.«

      Auch Anke murmelte einen Gruß, dann war sie allein, und ihre Nervosität wuchs. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und geflüchtet. Doch dann sah sie wieder die gütigen blauen Augen Dr. Daniels vor sich. Zu diesem Mann mußte man doch einfach Vertrauen haben, und wer weiß, vielleicht konnte er ihr ja sogar helfen. Aber das hielt Anke eigentlich für ausgeschlossen.

      »Frau Bergmann, bitte.«

      Die Stimme der Sprechstundenhilfe riß Anke aus ihren Gedanken. Mit fahrigen Bewegungen griff sie nach ihrer Handtasche und folgte der vollschlanken Frau auf den Flur.

      Die Sprechstundenhilfe öffnete gleich die nächste Tür auf der rechten Seite und ließ Anke eintreten. Im selben Moment erhob sich Dr. Daniel hinter seinem Schreibtisch und kam auf die junge Frau zu. Mit besonderer Herzlichkeit reichte er ihr die Hand.

      »Grüß Gott, Frau Bergmann. Bitte, nehmen Sie doch Platz.«

      Anke kam der Aufforderung nur zu gern nach. Ihre Knie zitterten so sehr, daß sie das Gefühl hatte, jeden Augenblick umzufallen.

      »Nun, Frau Bergmann, was bereitet Ihnen solchen Kummer?« wollte Dr. Daniel wissen.

      Völlig fassungslos starrte Anke ihn an. »Aber… woher wissen Sie…«

      Der Arzt lächelte. »Das war nun wirklich nicht schwierig. Ich habe nur selten eine Braut gesehen, die an ihrem Hochzeitstag so ernst geschaut hat. Und auch jetzt sieht man Ihnen nur zu deutlich an, daß Sie ein schweres Problem mit sich herumschleppen.«

      Anke senkte den Kopf. »Ich… ich habe seit einiger Zeit starke Unterleibsschmerzen.« Und dann brach sie plötzlich in Tränen aus.

      Dr. Daniel ließ ihr Zeit, sich wieder zu fassen.

      »Es ist nicht wahr«, erklärte Anke schließlich leise und mit noch immer tränenerstickter Stimme. »Ich habe keine Unterleibsschmerzen. Es ist… ich habe Angst. Ich habe entsetzliche Angst, daß Rainer… ich meine, daß mein Mann die Ehe annullieren läßt.«

      »Und wie kommen Sie auf einen solchen Gedanken?« fragte Dr. Daniel in seiner ruhigen Art. »Ich kenne Rainer schon ziemlich lange, und er machte an seinem Hochzeitstag einen ausgesprochen glücklichen Eindruck. Er liebt Sie doch, nicht wahr?«

      Anke nickte. »Jetzt schon noch, aber wenn er erst erfährt…« Sie brachte den Satz nicht zu Ende.

      Dr. Daniel runzelte die Stirn. »Wenn er was erfährt?«

      Anke atmete tief durch, dann sah sie dem Arzt geradewegs ins Gesicht. »Ich kann keine Kinder bekommen.«

      Dr. Daniel blieb bei dieser Eröffnung sehr ruhig. Er schien weder betroffen noch entsetzt zu sein.

      »Verstehen Sie, Herr Doktor, ich habe Rainer verschwiegen, daß ich nicht schwanger werden kann«, erklärte Anke, weil sie das Gefühl hatte, als habe der Arzt den Sinn ihrer Worte nicht begriffen.

      Dr. Daniel nickte.

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