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Am Abend, als sie nach Hause ging, stand er plötzlich neben ihr. »Darf ich Sie begleiten, Fräulein Wendt?« fragte er.

      Sie hatte nicht die Kraft, nein zu sagen. Und es interessierte sie auch nicht besonders, ob er neben ihr herging oder nicht.

      Dann, als sie die engen Straßen der Innenstadt hinter sich gelassen hatten, begann er zu sprechen, erzählte ihr von seiner Liebe zu ihr, die er so lange verborgen hatte, von seinen Kämpfen, als er bemerkte, daß sie Leopold Eggebrechts Neigung nachgab.

      Dann schwieg er.

      Sie war erstaunt. »Und warum sagen Sie mir das alles jetzt?« fragte sie.

      »Weil ich Ihnen helfen möchte«, war die einfache Antwort.

      »Ich brauche keine Hilfe«, sagte Anne Wendt und wußte, daß sie log. Sie brauchte nichts dringender als Hilfe. Aber die Hilfe dieses Mannes hier konnte sie trotzdem nicht annehmen.

      »Sie brauchen jemanden, der Ihnen zur Seite steht – das möchte ich sein, jetzt und später«, widersprach er. »Ich möchte Sie heiraten, Anne.«

      Da wurde sie ganz still vor Überraschung und Schrecken. So sehr liebte er sie?

      Sie blieb stehen und nahm seine Hand. »Sie guter Mensch«, sagte sie leise, »ich danke Ihnen, daß Sie mir das gesagt haben. Das war die beste Hilfe, die Sie mir geben konnten. Mehr können Sie nicht für mich tun.«

      »Doch, Anne«, bat er. »Ich kann noch viel tun. Ich kann Ihnen so vieles abnehmen, was in der kommenden Zeit auf Sie einstürmen wird. Wie geborgen würden Sie sein, wenn Sie sich entschließen könnten, meine Frau zu werden. Sie müssen Ruhe haben, Anne, unbedingt.«

      »Und das Kind?« fragte Anne.

      Er sah sie gütig an, mit einem Blick, der so voll Liebe war, daß Anne ihn nie vergaß. »Ich könnte vergessen«, sagte er, »daß es nicht mein Kind ist – weil Sie seine Mutter sind. Oder…«, er zögerte, »haben Sie Hoffnung, daß sein Vater… Anne ließ ihn nicht zu Ende sprechen. Jeder Gedanke an Leopold Eggebrecht brannte in der Wunde ihres Herzens. Nein, sie hatte kaum noch Hoffnung, daß Leopold Eggebrecht sich zu ihr und ihrem Kind bekennen würde – nachdem er auf drei ihrer Briefe nur durch Schweigen geantwortet hatte.

      »Nein, ich habe keine Hoffnung mehr«, sagte sie fest. »Aber ich könnte trotzdem niemand anders heiraten. Des Kindes wegen nicht. Und auch…« Sie sah ihn weich an, »auch Ihretwegen nicht. Ich darf Ihnen so etwas nicht antun.«

      Dabei war sie geblieben, so sehr er auch bitten und reden mochte. Sie wußte, daß ihr Standpunkt der richtige war.

      Aber in den kommenden Wochen wurde es ihr manchmal schwer, dabei zu bleiben. Ihre Wirtin war immer unfreundlicher geworden. Und dann verlor sie ihre Stellung. Niemand wollte mehr etwas von ihr wissen.

      Sie saß den ganzen Tag in ihrem kleinen Zimmer, nähte irgend etwas für das Kind und dachte an den Mann, der sein Vater war. Wenn sie nur nicht so allein gewesen wäre! Das Alleinsein war das Schlimmste!

      Dann kam Natalie Egge­brecht.

      Und Natalie Eggebrecht blieb bei ihr, bis alles vorüber war.

      Vier Monate lang lebten die beiden in der kleinen, stillen Pension irgendwo in den Bergen.

      Anne Wendt hatte in dieser letzten Zeit ihres Lebens keine Sorgen mehr kennengelernt, dafür sorgte Natalie. Und einsam war sie auch nicht mehr. Denn Natalie Eggebrecht war immer da.

      Sie gingen miteinander spazieren, nähten und strickten an den winzigen Sachen für das Kind und plauderten. Anne erfuhr alles von den Eggebrechts, erfuhr auch, daß Leopold die schwerste Sorge seines Vaters war. Aber zu diesen Dingen, die Natalie hin und wieder und mit sehr viel Vorsicht erzählte, sagte sie kein Wort.

      Daher wußte Natalie, daß Anne Wendt Leopold noch immer liebte.

      Dann kam Stephan zur Welt.

      In einem kleinen Krankenhaus im Nachbarort. Er kam um einige Wochen zu früh, ein zartes, kleines und sehr schönes Kind.

      Natalie Eggebrecht liebte den Jungen von der Stunde seiner Geburt an. Sie liebte ihn noch mehr, als sie erkannte, daß sie Mutterstelle an ihm würde vertreten müssen.

      Es war eine schwere Geburt gewesen.

      Stunden und Stunden hatte sie gedauert, und Natalie war im Vorraum des kleinen Krankenhauses auf und ab gegangen, heiße Angst um das junge Menschenkind im Herzen, das hinter einer der weißen Türen auf dem langen Flur litt und kämpfte.

      »Sie ist sehr tapfer«, hatte der Arzt gesagt, aber das war kein Trost, denn aus seinen Worten hatte Natalie herausgehört, daß Anne sehr leiden mußte. Aber sie brachte ihren Sohn zur Welt!

      Nachher, als Natalie sie sah, lag sie totenblaß und unendlich müde in den Kissen. Zu müde zum Leben, das erkannte Natalie mit Schrecken.

      Sie telefonierte noch am selben Abend mit ihrem Vater. Christoph Eggebrecht war am nächsten Morgen da.

      Er hatte eine lange Unterredung mit Anna.

      Mit festen Plänen und Vorstellungen war er in das kleine Gebirgsdorf gekommen. Jeder sollte wissen, daß der Junge zu seiner Familie gehörte, das hatte er sich vorgenommen, nachdem er durch Natalie erfahren hatte, welch ein guter und wertvoller Mensch Anne war. Der Junge sollte den Platz haben, der ihm gebührte.

      Und das sagte er Anne, als er an ihrem Bett saß. Er empfand unendliches Mitleid, als er in das schmale, zarte Gesicht blickte, das auch jetzt seine Kindlichkeit noch nicht verloren hatte.

      Und wieder dachte er voller Ekel, welch ein Schuft Leopold gewesen war. Aber er war entschlossen, gutzumachen, soweit er konnte.

      »Jeder soll wissen, daß er mein Enkel ist«, sagte Christoph Eggebrecht und beugte sich über den Kinderkorb, in dem Anne Wendts Kind lag und schlief.

      Da widersprach sie.

      Christoph Eggebrecht war erstaunt.

      »Das möchte ich nicht«, sagte sie mit einer leisen, etwas müden Stimme.

      »Und darf ich wissen, warum?« fragte Christoph Egge­brecht.

      »Leopold soll nicht wissen, daß das Kind lebt«, forderte Anne.

      »Und was soll werden?«

      »Stephan wird niemals allein sein«, hatte Anne geantwortet, »das weiß ich genau. Ihr werdet immer an ihn denken und ihm immer helfen, wenn er Hilfe braucht. Aber er soll nicht mit seinem Vater zusammenkommen, nicht, ehe er alt genug ist, um alles selbst beurteilen und verstehen zu können. Bis dahin soll er nichts von seinem Vater wissen. Ich möchte, daß mein Kind in einer ruhigen Umgebung aufwächst. Es soll Eltern haben wie jedes andere Kind und auch ein sicheres Zuhause. Er darf nichts wissen von all dem, was sein Vater mir getan hat.«

      Christoph Eggebrecht begriff, was Anne meinte. Und er wußte, daß sie recht hatte.

      Sie wollte, daß ihr Sohn nichts von seiner Herkunft wußte. Er sollte auch nicht wissen, daß sein Vater nicht bereit gewesen war, seine Mutter zu heiraten. Erst wenn er einmal alt genug war, um zu begreifen, wie das alles gewesen war, sollte er es erfahren. Aber bis dahin sollte er nicht einmal wissen, daß er ein Eggebrecht war.

      So wollte es seine Mutter.

      Als Christoph Eggebrecht ging, trug er in seinem Herzen eine tiefe Hochachtung für das zarte, junge Menschenkind, dessen Leben sein Sohn ruiniert hatte. Und er tat den Schwur, dem Sohn Anne Wendts alles das zu geben, was ihm als seinem Enkel gebührte. Bis über seinen Tod hinaus wollte er dafür sorgen.

      Und so geschah es, denn was Christoph Eggebrecht sich selbst oder anderen versprach, das hielt er.

      Anne schleppte sich noch ein paar Wochen durch ein müdes, blasses Leben. An einem Herbst­abend, der still und friedlich war wie diese letzten Tage ihres Daseins, starb sie.

      Ganz zuletzt legte Natalie ihr noch einmal Stephan in den Arm. In Annes Augen schimmerten Tränen. »Ich wäre ihm so gern eine gute Mutter geworden«, sagte sie. »Nun

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