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Natalie hatte ihnen im ersten Stock der Villa eine hübsche Wohnung eingerichtet. Susanne und Stephan hatten es nicht gewollt, aber sie hatte darauf bestanden. »Ein junges Paar soll allein sein«, hatte sie gesagt, und die beiden hatten ihr schließlich ihren Willen gelassen. Die Mahlzeiten jedoch nahmen sie noch immer in Tante Natalies großem Wohnzimmer ein.

      Susanne ging nach wie vor jeden Tag ins Werk, und nach wie vor saßen sie und Stephan sich in dem großen Arbeitszimmer des alten Eggebrecht gegenüber.

      Aber es war ein ganz anderes Arbeiten geworden! Wunderschön war es! Eine richtige Zusammenarbeit war daraus geworden, bei der einer den anderen um Rat fragte, bevor er sich endgültig entschloß. Ja, es war ein wunderschönes Arbeiten!

      Und wunderschön waren auch die Feierabende und das Wochenende. Sie waren unzertrennlich!

      Oft dachte Susanne, daß sie sich ein Leben ohne Stephan nicht mehr vorstellen könnte.

      Und dabei waren sie kaum drei Monate verheiratet!

      *

      An einem der seltenen Abende, an denen Susanne mit Natalie allein war – Stephan war zu einer geschäftlichen Besprechung irgendwo außerhalb der Stadt – erzählte Natalie Egge­brecht Susanne die Geschichte von Stephans Mutter.

      Anne Wendt!

      Sie war ein zartes, junges Ding gewesen, als sie Leopold Eggebrecht kennenlernte, und kaum neunzehn Jahre alt.

      Anne Wendts Vater war Arzt gewesen. Aber er starb sehr früh, und nach seinem Tod hatte Annes Mutter keine Möglichkeit und kein Geld, ihrem Kind eine weitere Ausbildung geben zu lassen. So mußte Anne mit vierzehn Jahren die Schule verlassen und in einem Modegeschäft in die Lehre gehen. Es war ein erstklassiges Geschäft, und Anne war nur auf Grund ausgezeichneter Referenzen, die ihre Mutter von früheren Patienten ihres Mannes beibringen konnte, dort angekommen. Sie würde, so versicherte der Geschäftsführer der besorgten Mutter, auch Aufstiegsmöglichkeiten haben, wenn sie die nötige Eignung zeige.

      Anne war bescheiden und fleißig, und außerdem sah sie so gut aus, wie die Verkäuferin eines solchen Geschäftes aussehen muß. Also hatte sie Erfolg.

      Doppelten Erfolg, weil der noch junge Geschäftsführer persönlich Anteil an ihr nahm und ihr, besonders nach dem Tod ihrer Mutter, gern zu helfen bereit war. Daß er sie liebte, sagte er ihr nicht. Sie war noch sehr jung, so dachte er, und wollte ihr Zeit lassen.

      Und sie ahnte es nicht. Als sie es erfuhr, war es längst zu spät.

      Natalie erzählte der aufmerksam horchenden Susanne, daß Anne Wendt bezaubernd hübsch gewesen sei – dunkelhaarig und dunkeläugig, sanft und weichherzig – ein zarter Madonnentyp.

      »Ich glaube, sie war zu zart und zu sanft für unsere rauhe Welt«, sagte Natalie und blickte eine Weile schweigend vor sich hin.

      Als sie Anne Wendt kennenlernte, hatte sie schon sehr verändert ausgesehen, blaß und ein wenig hohläugig, mit deutlichen Anzeichen ihres Zustandes. Aber sie war immer noch schön gewesen und immer noch unfähig, an das Böse in dieser Welt zu glauben, obwohl ihr das Schlimmste geschehen war, was einer Frau geschehen konnte: Sie war belogen und betrogen worden von dem Mann, den sie liebte.

      Trotzdem hörte Anne Wendt nie auf, Leopold Eggebrecht zu lieben.

      Sie sagte zwar niemals ein Wort darüber, aber Natalie wußte es. Sie wußte aber auch, daß neben dieser Liebe in Anne nur Verachtung war für den feigen, so ungeheuer schwächlichen Mann, der sie in ihrer schwersten Zeit sich selbst überlassen hatte.

      Noch am Tag ihres Kennenlernens nahm Natalie Egge­brecht Anne mit in einen kleinen stillen Ort in den Bergen. Sie mieteten sich in einer Pension ein, und Natalie richtete die drei Zimmer, die ihnen dort zur Verfügung standen, so gemütlich ein, wie es nur möglich war.

      Im Laufe der Zeit erfuhr Natalie auch, wie schwer für Anne die letzten Monate gewesen sein mußten und einiges auch davon, wie sie Leopold kennengelernt hatte.

      Es war in dem Geschäft gewesen, in dem Anne als Verkäuferin angestellt war. An einem Sommernachmittag.

      Ein Herr war hereingekommen und hatte eine Krawatte verlangt. Dieser Mann war Leopold Eggebrecht gewesen. Sie hatte ihm beim Aussuchen geholfen, und sie hatten miteinander gesprochen und gelacht, Anne wohl mehr aus Höflichkeit dem Kunden gegenüber. Er jedoch mußte es anders aufgefaßt haben, denn am Abend dieses Tages hatte er draußen vor dem Geschäft gestanden und auf sie gewartet. »Er war so nett zu mir und gar nicht aufdringlich. Und ich – ach, Natalie – ich war so allein seit Mutters Tod. Und als er mich zum Abendessen einlud, bin ich mit ihm gegangen. Er erzählte mir, daß er auf einer Geschäftsreise sei und daß er öfter hier herunterkäme.

      Von nun an kam er jedesmal, wenn er auf seinen Reisen in der Stadt war, in mein Geschäft und verabredete sich mit mir. Und eines Tages sagte er, daß er mich liebe. Und – daß er mich heiraten wolle.«

      Anne hatte nicht weitergesprochen. Aber Natalie konnte sich vorstellen, wie Leopold gewesen war. Sie kannte ihren Bruder. Er konnte so charmant, so überaus reizend sein, wenn er wollte. Und woher hätte die damals Achtzehnjährige die Menschenkenntnis nehmen sollen, die ihr sagte, daß dieser charmante, gewandte Mann ein Feigling und ein Lügner war?

      Einer hatte es ihr gesagt – der Geschäftsführer in ihrem Geschäft.

      Er mußte beobachtet haben, daß sie sich mit Leopold traf. Und eines Tages hatte er sie um eine Unterredung gebeten. »Ich betrachte mich seit dem Tod Ihrer Mutter als Ihr Freund, Fräulein Wendt«, hatte er gesagt, »und ich habe beobachtet, daß Sie im Begriff sind, sehr unklug zu handeln.«

      »Wie meinen Sie das?« hatte sie gefragt und war nicht sehr freundlich dabei gewesen.

      Er mußte ihre Abwehr bemerkt haben. Denn er sagte nicht mehr viel. »Bitte, seien Sie vorsichtig«, bat er nur noch.

      Aber Anne vergaß diesen Rat sehr schnell. Sie wollte ihn vergessen. Leopold liebte sie, das genügte.

      Dann kam die Zeit, in der sie fürchten mußte, daß es nicht genügte, in der sie an seiner Liebe zu zweifeln begann.

      Ein dreiviertel Jahr kannten sie sich nun schon.

      Eines Tages wußte Anne, daß sie ein Kind haben würde.

      Sie freute sich, und sie hatte ein wenig Angst, es Leopold mitteilen zu müssen. Sah es nicht so aus, als wolle sie ihn damit auf eine baldige Heirat hinweisen?

      Als er das nächste Mal kam, brachte sie es nicht fertig, ihm etwas zu sagen.

      Statt dessen schrieb sie ihm, kurz nachdem er weggefahren war. Und sie bekam keine Antwort.

      Sie wartete und wartete. Tag um Tag und Woche um Woche. Er mußte doch antworten – oder kommen!

      Aber er schrieb nicht, und er kam auch nicht.

      Da schrieb sie ihm ein zweites Mal, bittender und eindringlicher, aber immer noch würdevoll und immer noch im Glauben an seine Liebe.

      Und Leopold antwortete nicht.

      Sie war nun schon soweit, daß man ihren Zustand erkennen konnte. Manchmal traf sie ein mitleidiger, wissender Blick, daran spürte sie, daß die Menschen über sie sprachen. Aber sie trug ihren Kopf trotzdem hoch und frei. Und noch immer lebte der Glaube an Leopold Eggebrecht in ihr. Er würde kommen! Er mußte kommen!

      Vielleicht war er krank geworden?

      Nach vier Monaten schrieb sie ihm ein drittes Mal. Sie entschloß sich nur schwer dazu. Aber sie mußte es.

      Es war an dem Tag, als der Geschäftsführer ihr gesagt hatte, daß es wohl so nicht mehr weitergehen könne. Die Firma könne keine Verkäuferin beschäftigen, die – und dann hatte er geschwiegen.

      Anne hatte mit gesenktem Kopf vor ihm gestanden, ein würgendes Schluchzen in der Kehle. Daß man ihr die Arbeit nehmen würde, daran hatte sie nie gedacht.

      Er war sehr nett zu ihr gewesen, keineswegs gehässig, und in seinem Blick hatte tiefes

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