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ein wenig geflunkert war.

      Grandma hatte manchmal ein schlechtes Gewissen, weil sie so viel unterwegs war, aber mich hatte das nie gestört. Ich fand es klasse, dass sie nicht wie andere Großeltern nur zu Hause hockte, sondern ihr eigenes Leben und einen riesigen Freundeskreis hatte. Schließlich hatte ich ja auch genug Freunde, mit denen ich etwas unternehmen konnte.

      »Weißt du, ob wieder jemand in dem alten Warnerhaus wohnt?«, wechselte ich das Thema.

      »Nein. Wie kommst du darauf?«

      »Ach, es sah nur so aus, als wäre da jemand hochgefahren.« Ich schaufelte mir den Rest Lasagne von meinem Teller in den Mund.

      »Na hoffentlich sind das nicht wieder irgendwelche Rowdys, die alles verwüsten.« Die Furchen auf Grandmas Stirn vertieften sich. »Vielleicht sollten wir besser dem Sheriff Bescheid geben. Möchtest du noch etwas?« Sie nickte zur Auflaufform hin.

      Ich schüttelte den Kopf, denn ich war kurz vorm Platzen. »Wann musst du eigentlich weg?«

      Grandma sah auf die Wanduhr. »Jetzt. Das heißt, eigentlich müsste ich schon längst im Auto sitzen. Liebes, wärst du so nett und …?«

      »Klar, geh ruhig. Ich räum ab.«

      »Du bist ein Schatz.« Erleichtert erhob sie sich und öffnete die Schleife ihrer Schürze.

      Fünf Minuten später verabschiedete sie sich mit der Bemerkung, dass es spät werden würde, und ich machte mich daran, die schmutzigen Teller in die Spülmaschine zu räumen. Nachdem ich den Rest Lasagne in den Kühlschrank gestellt und den Tisch abgewischt hatte, schaltete ich das Licht aus, schnappte mir meinen Rucksack und ging die Treppe hinauf ins Dachgeschoss.

      Hier oben war mein Reich. Während Grandma das Schlafzimmer und das Bad im ersten Stock benutzte, lagen mein Zimmer und mein Bad direkt unter dem Dach. Es war super, dass ich mich hierher zurückziehen konnte, wo ich ungestört war. Aber am meisten liebte ich den Ausblick aus meinem Fenster. Von hier oben konnte man über die Baumwipfel bis zu den Bergen hinübersehen, auf denen bereits die ersten Schneefetzen blitzten, und an sonnigen Herbsttagen leuchtete das Laub des Waldes in allen Farben, wie auf diesen kitschigen Postkarten für die Touristen.

      Heute allerdings hatte sich der Nebel kaum aufgelockert und da es inzwischen wieder zu regnen begonnen hatte, war es beinahe dunkel. Daher verschwendete ich auch keinen Blick an die Landschaft vor meinem Fenster, sondern schaltete sofort meine Schreibtischlampe an und holte die Bücher aus meinem Rucksack, die ich für die Hausaufgaben brauchen würde.

      Die Lehrer waren an unserem ersten Schultag gnädig gewesen und deswegen hatte ich die wenigen Aufgaben schnell erledigt. Nachdem ich fertig war, beschloss ich zu duschen. Immerhin hatte ich heute einige Zeit auf dem Fußboden verbracht.

      Vorher wollte ich aber unbedingt noch Abby anrufen, um mich bei ihr zu entschuldigen. Ich hasste es, wenn wir uns gestritten hatten. Es kam nicht oft vor, aber wenn, wollte ich das möglichst schnell klären. Also nahm ich mein Handy und tippte auf ihren Namen. Es tutete. Einmal, zweimal … nach dem fünften Mal ging ihre Mailbox ran. Mist!

      »Äh, hi Abby. Ich wollte sagen … Mensch, sorry. Ich hab doof reagiert vorhin. Hoffe, du bist nicht mehr sauer auf mich? Ich find’s ätzend, wenn wir streiten. Also nicht mehr böse sein, ja? Ich bin ein Idiot. Wir sehen uns morgen. Bye!« Enttäuscht beendete ich den Anruf. Entweder wollte sie nicht mit mir sprechen oder aber sie hatte während ihrer Arbeit einfach keine Zeit.

      Es gab nicht viele Möglichkeiten, in Eagle Lake auszugehen, und so war das Krugers nicht nur für die meisten älteren Schüler der Eagle Lake High ihr Stammlokal und bestimmt auch heute, am ersten Tag nach den Sommerferien, brechend voll.

      Da ich nichts weiter tun konnte, ging ich ins Bad und drehte den Wasserhahn der Dusche auf. Beim Einseifen strich ich mit dem Finger über die Narben an meiner Schulter. Trotz der langen Zeit waren sie noch immer deutlich zu fühlen und kaum verblasst. Sie würden mich wohl ewig an den Tag erinnern, an dem ich fast gestorben wäre. Schnell schob ich die unangenehmen Gedanken an die Vergangenheit beiseite, drehte das Wasser wieder auf und spülte den Schaum ab.

      Zurück in meinem Zimmer, machte ich es mir auf meinem Bett gemütlich und schlug Emma Roberts »Alice« auf und tauchte in die düstere Welt von Schloss Ravenhill ein.

      Ich war wieder in Ravenhill. Ich sah mich selbst vor dem schmiedeeisernen Tor stehen. Eine kleine, zierliche Gestalt mit braunem Haar, in einem dunklen Reisekostüm, die den Weg vor sich betrachtete. Die ehemals prachtvolle Allee, links und rechts gesäumt von kunstvoll zurechtgestutzten Bäumen, war verschwunden. Üppig wuchernde Pflanzen, denen niemand Einhalt gebot, hatten die Herrschaft übernommen und nur noch einen schmalen Pfad übrig gelassen. Lange, sehr lange war keine Kutsche mehr über die Auffahrt gerollt.

      Wie von Geisterhand schwangen die Flügel des Tores auf und gaben den Weg für mich frei. Doch da ich träumte, ging ich nicht hindurch, ich schwebte. Unbehelligt von den Pflanzen, die am Boden wucherten und ihre grünen Arme in alle Richtungen ausstreckten, glitt ich über sie hinweg. Immer weiter hinein in den düsteren Wald, doch am Ende würde mich ein gemütliches Zuhause erwarten.

      Irgendwo nicht weit von mir entfernt heulte ein einsamer Wolf. Es klang so wehmütig, dass mein Herz ganz schwer wurde, und als ich weiterflog, wusste ich, dass ich nicht länger allein war. Nur noch eine Wegbiegung und ich hatte mein Ziel erreicht.

      Es war nicht das Haus, das ich aus meiner Erinnerung kannte. Ich sah keinen gepflegten Garten, in dem mich ein gedeckter Tisch zum Nachmittagstee erwartete, und auch keinen Rauch, der aus dem Kamin aufstieg und von der Anwesenheit der Bewohner zeugte. Nur Fensterscheiben, blind vom Schmutz, und ein loser Laden, der meinen Blick auf sich zog. War er einst strahlend weiß und ein Schutz gegen die grelle Sonne und die nächtliche Dunkelheit gewesen, klapperte er jetzt nur schmutzig grau und nutzlos im Abendwind.

      Traurigkeit überfiel mich. In nicht allzu ferner Zukunft würde nur noch eine Ruine von dem einst so imposanten Haus übrig sein.

      Mit einem Mal hatte ich meine Körperlichkeit wiedererlangt und so musste ich einen großen Schritt über den dicken Ast machen, der auf den Eingangsstufen lag. Meine Hand umfasste den Türgriff. Doch bevor ich ihn drehen konnte, schwang auch diese Tür wie durch Zauberei auf.

      Ich erwartete ein unbewohntes Gebäude vorzufinden, doch mir schlug wohltuende Wärme entgegen. Ein knisterndes Geräusch drang an mein Ohr und mein Herz begann erwartungsvoll zu klopfen. Als ich die Bibliothek betrat, flackerte ein behagliches Feuer im Kamin. Einer der Holzscheite brach knackend zusammen und Funken flogen auf. Ich erschrak und plötzlich hatte ich das gleiche Gefühl wie auf der Auffahrt. Ich war nicht allein.

      Der schwere Ledersessel vor dem Kamin zog mich magisch an. Langsam ging ich auf ihn zu, aber ich ahnte längst, wer dort auf mich wartete. Als ich neben den Sessel trat, drehte der Wolf seinen Kopf und ich starrte in eisgraue Augen.

      Tuut, tuut, tuut … Ich fuhr hoch und drückte automatisch auf die Taste meines Radioweckers. Er zeigte kurz vor halb acht.

      Mein Herz hämmerte noch immer wild, als ich mich zurück in die Kissen fallen ließ. Ich hatte nur geträumt. Der Roman lag aufgeschlagen neben mir auf dem Bett und ich trug noch immer meinen Bademantel. Das Handtuch, das ich abends nach dem Duschen um meinen Kopf gewickelt hatte, war zusammen mit meiner Decke auf den Boden gerutscht. Ich beugte mich über die Bettkante und zog die Decke über meine eiskalten Beine und während ich wartete, dass meine Zehen wieder auftauten, versuchte ich mich an meinen Traum zu erinnern.

      Richtig. Ich war in Ravenhill gewesen, dem Haus aus meinem Roman. Allerdings hatte der Wolf nichts mit der Geschichte zu tun. Ich konnte mir auch nicht erklären, weshalb er gerade jetzt wieder in meinem Traum aufgetaucht war. Nach so langer Zeit.

      Als Kind hatten mich oft Albträume gequält, besonders nach dem Tod meiner Eltern, und jedes Mal war der Wolf ein Teil davon gewesen. Ich hatte mich nach dem Aufwachen selten an die Einzelheiten meiner Träume erinnern können, nur an den grauen Wolf mit den grünen Augen. Er hatte das, was mir solche Angst gemacht hatte, immer verjagt.

      Ich runzelte die Stirn. Aber heute hatte

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