Скачать книгу

Er hatte Cassian Becketts Augen gehabt.

      Plötzlich fiel mir etwas ein. Ich beugte mich über das Bett und zog die Schublade meines Nachttisches auf. Das Fotoalbum und eine CD, die ganz oben lagen, schob ich zur Seite. Ich wollte an die kleine weiße Holzschatulle darunter. In ihr bewahrte ich die wenigen Schmuckstücke auf, die meiner Mum gehört hatten, und die dünne silberne Kette, die mir meine Eltern zu meinem siebten Geburtstag geschenkt hatten, zusammen mit dem Schwimmkurs.

      Nachdenklich betrachtete ich den Anhänger, einen kleinen Wolf, ebenfalls aus Silber. Für mich war es jedenfalls einer, auch wenn Mum und Dad immer behauptet hatten, er sähe aus wie ein Hund. Für mich war es mein Wolf.

      Ich hatte heute Nacht wohl irgendwie die Ereignisse des Vortags verarbeitet. Und dass der Wolf SEINE grauen Augen gehabt hatte, bedeutete vielleicht, dass ich nicht wollte, dass Abby mit ihrem Misstrauen und ihrer Kartendeutung richtiglag.

      Es klopfte.

      »Liebes? Bist du schon wach? Du musst aufstehen.«

      »Ja, Gran. Bin schon auf.«

      Schluss mit der Hobbypsychologie. Ich legte die Kette auf den Nachttisch neben mein Handy und stand auf. Meine Füße waren noch immer eiskalt und beim Blick in den Spiegel war klar, dass ich mir noch einmal die Haare waschen musste. Ich sah aus, als hätte ein Vogel ein Nest auf meinem Kopf gebaut. Seufzend drehte ich das Wasser auf.

      Meine schulterlangen Haare föhnte ich danach in Rekordzeit. Creme, einen Hauch Puder, etwas Rouge und Mascara und fertig war ich. Ein Blick aus dem Fenster in den Nieselregen und ich entschied mich für den langärmligen hellblauen Pulli, der meine Augen so schön betonte.

      Bevor ich die Treppe hinunterlief, warf ich noch einmal einen flüchtigen Blick in den Flurspiegel. Die funkelnde Silberkette sah hübsch aus. Warum nur hatte ich sie so lange nicht getragen?

      »Morgen, Gran, bin spät dran.«

      Im Stehen schmierte ich mir ein Erdnussbutterbrot und stürzte hastig meinen viel zu heißen Kaffee herunter. Prompt verbrannte ich mir die Zunge.

      »Au, verflixt!«, schimpfte ich gereizt.

      »Das kommt davon, wenn man nicht aus den Federn kommt«, zog mich Grandma lächelnd auf.

      »Ich weiß. Bye, Gran.« Ich schnappte mir meinen angebissenen Toast und sauste aus der Küche.

      Im Flur angelte ich mit der freien Hand nach meiner Jacke und meinem Rucksack, den ich auf der Treppe fallen gelassen hatte, stopfte mir den Rest Brot in den Mund und öffnete die Haustür.

      Zehn Minuten später auf dem Schulparkplatz sah ich mich automatisch nach dem Neuen um, konnte ihn jedoch nirgends entdecken, aber auf dem Weg zu Chemie traf ich Abby. Sie sah heute in ihrer Jeans, dem Pulli und der dicken Weste - alles in Schwarz - beinahe normal aus und zu meiner Erleichterung lächelte sie.

      »Sorry, aber gestern war im Krugers die Hölle los. Ich glaub, die ganze Eagle High hat das Ferienende begossen. Und dann war es zu spät, um dich noch anzurufen.«

      Ich lächelte zurück. Hauptsache, zwischen uns war wieder alles okay.

      Als wir im Unterrichtsraum unsere Plätze suchten, hielt ich wieder nach Beckett Ausschau, aber offenbar hatten wir auch diesen Kurs nicht zusammen. In der darauffolgenden Stunde hätte ich eigentlich Kunst gehabt, aber der Unterricht fiel aus, da Mr. Jefferson krank war.

      Und auch als wir während dieser Freistunde die Hausaufgaben aus der vorherigen Stunde erledigten, war er wieder nicht dabei. In der Pause sah ich mich weiter unauffällig nach ihm um, doch vergeblich. Er tauchte nirgendwo auf.

      Auch Kathy beschäftigte seine Abwesenheit offenbar, denn während wir uns für den Sportunterricht umzogen, spekulierte sie, ob er womöglich krank war.

      Als er auch am nächsten Tag verschollen blieb, war ich überzeugt, dass sie damit richtiglag.

      Freitagmorgen hörte es endlich auf zu regnen und in der Mittagspause zog es die meisten Schüler ins Freie. Auch unsere Clique machte es sich draußen auf den Bänken in der Herbstsonne gemütlich. Ty und Doug diskutierten irgendwelche Footballspielzüge während sie ihre Burger verdrückten. Abby büffelte spanische Vokabeln und stibitzte ihnen hin und wieder Pommes. Sandra, Kathy und ich begnügten uns mit Salat. Aber während die beiden über irgendeine Fernsehserie quatschten, las ich Shakespeares Theaterstück »Tragedy of Cymbeline«, das in Englischer Literatur dieses Jahr auf dem Lehrplan stand.

      »Hey, das gibt’s doch nicht.« Kathys Kreischen riss mich aus Imogens Schlafgemach.

      Angelina Winchester saß nicht weit von uns entfernt auf einer Bank und neben ihr - Cassian Beckett. Er hatte seine langen Beine ausgestreckt, sich entspannt zurückgelehnt und obwohl sie im Schatten saßen, trug er nur ein kurzärmeliges T-Shirt. Heute zur Abwechslung mal in einem erkennbaren kräftigen Schwarz. Seine braun gebrannten, muskulösen Arme hatte er lässig auf der Rückenlehne ausgebreitet, sodass sein rechter Arm hinter Angelina lag, die ihn begeistert anhimmelte und unaufhörlich plapperte.

      Obwohl ich versuchte, mich weiter auf Shakespeare zu konzentrieren, nervte mich ihr albernes Getue und immer wieder wanderte mein Blick zu ihnen hinüber. Du lieber Himmel, merkte sie denn gar nicht, dass er ihr überhaupt nicht zuhörte?

      Statt sich mit ihr zu unterhalten, machte er eine gelangweilte Miene und … die Härchen in meinem Nacken richteten sich auf. Eigentlich konnte ich es nicht wirklich wissen, denn er trug ja eine Sonnenbrille, aber ich war fast sicher, dass er eigentlich mich beobachtete.

      Und ich? Ich konnte wieder nicht wegsehen.

      Keine Ahnung, wie lange ich auf die dunklen Gläser gestarrt hatte, aber natürlich wurde ich diesmal nicht ohnmächtig. Irgendwann blinzelte ich einfach, sah schnell wieder auf mein Buch und tat, als würde ich lesen. Hoffentlich bildete er sich nicht irgendwas Komisches ein, weil ich ihn schon wieder angestarrt hatte. Dass ich auf ihn stand oder so.

      Als ich etwas später erneut wagte, zu ihm hinüberzusehen, schob er sich gerade seine Sonnenbrille in die Haare. Er beugte sich zu Angelina hinüber und griff nach einer ihrer Haarsträhnen. Während er ihr tief in die Augen sah, wickelte er die blonde Locke um seinen Zeigefinger und … Unwillkürlich hielt ich den Atem an.

      Ihre geöffneten, feucht glänzenden Lippen waren nur noch wenige Zentimeter von seinen entfernt und die Luft zwischen ihnen schien förmlich zu knistern. Die Sekunden verstrichen … Doch es geschah nicht das, was ich erwartet hatte. Kein heißer Kuss oder so. Beckett verzog einfach nur seinen Mund zu einem Lächeln und sagte etwas zu ihr und verblüfft beobachtete ich, wie sich ihre offensichtliche Erregung in Verwirrung verwandelte. Sie blinzelte einige Male, als wäre sie aus einem Traum erwacht, dann nickte sie. Einen Moment später zog sie trotz der kühlen Temperaturen ihre Strickjacke aus und legte sie auf ihrem Schoß ordentlich zusammen. Das ärmellose Top, das sie darunter trug, war kaum die richtige Bekleidung an einem so kühlen Herbsttag, aber ihr war offensichtlich richtig heiß geworden. Kein Wunder.

      Noch immer lächelnd, lehnte sich der Neue zurück und nahm erneut seine lässige Haltung ein.

      »Mann, habt ihr das gerade gesehen? Ich dachte, Beckett will sie gleich hier auf der Bank vernaschen«, schnaufte Tyler.

      »Was er wohl zu ihr gesagt hat?« Sandras Stimme klang ein wenig atemlos.

      »Bestimmt nichts Anständiges, so wie Angelina ihn angeguckt hat«, kicherte Kathy, während Abby nur ungläubig den Kopf schüttelte und Doug ein undefinierbares Grunzen hören ließ.

      Beckett hatte sich inzwischen wieder hinter seiner Brille verschanzt und seine Miene war so gelangweilt wie zuvor. Wieder konnte man nicht genau erkennen, wofür sich seine Augen interessierten, aber es war eindeutig nicht Angelinas üppiges Dekolleté. Wenn überhaupt, streifte sein Blick allenfalls kurz ihre nackten Schultern, bevor er ihn auf ein unbekanntes Ziel in der Ferne richtete.

      Eigenartigerweise verhielt sich auch Angelina, als hätte es die heiße Szene zwischen ihnen gar nicht gegeben. Sie hockte nur noch stumm da und betrachtete

Скачать книгу