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fehlte mir. Er fehlte mir. Ich hatte zu viel Liebe in mir, Liebe, die ich ihm geben wollte, aber ihm nicht geben konnte. All diese Liebe sammelte sich in mir, bereitete mir Kummer und drängte danach, meinen Körper, meinen Geist, endlich verlassen zu können. Ich war immer der Überzeugung gewesen, die Zeit würde alle Wunden heilen, mittlerweile jedoch glaubte ich eher daran, dass man nur lernte mit dem Schmerz zu leben. Ich gewöhnte mich allmählich daran, dass es für Logan und mich keine Chance zu geben schien, gewöhnte mich an die Leere, die dieser Gedanke in mir auslöste.

      Doch dies machte es mir in keinster Weise einfacher. Jedes Mal, wenn ich ihn in meiner Nähe wusste, schien mein Herz aufs Neue zu brechen.

      Ich wusste nicht, ob ich jemals wieder für eine andere Person auf diese Art und Weise empfinden konnte. Die alleinige Vorstellung daran erschien mir absurd.

      Was Logan wohl gerade machte? Instinktiv fragte ich mich, ob er Thanksgiving auch feierte? Wenn ja, mit wem? Mit seiner Schwester? Familie? Mir wurde wieder einmal schmerzlichst bewusst, wie wenig ich doch über Logan wusste. Ich hatte das Gefühl, dass seine Zurückgezogenheit und der Schmerz in seinen Augen etwas mit seiner Familie zu tun hatten. Ob ich es, so Gott wollte, irgendwann herausfinden würde?

      Seufzend drehte ich mich zur Seite und griff nach dem Roman auf meinem Nachttisch. Es hatte ohnehin keinen Sinn. Ich fand keinen Schlaf. Meine Gedanken waren zu laut. Sie holten mich immer wieder ein.

      Ich nahm das Buch in die Hände und starrte auf das Cover. Jane Austen, Stolz und Vorurteil. Es stammte aus Moms Jane Austen Sammlung. Daher handelte es sich auch um eine ältere Ausgabe. Die Seiten waren bereits völlig vergilbt und verrieten, dass das Buch bereits einige Mal gelesen wurde. Ich selbst kannte den Roman schon, allerdings musste ich ihn für Logans Englischunterricht noch einmal lesen. Unwillkürlich erinnerte ich mich an unsere erste Begegnung auf dem Schulflur.

      »Emily Brontë?«, seine Stimme war tief, melodisch und rau. Sie jagte mir einen gewaltigen Schauer über den Rücken. Erst jetzt bemerkte ich, dass er meinen Roman in den Händen hielt und diesen betrachtete. Dann hob er seinen Blick und sah mir direkt in die Augen. Mein Herz machte einen Satz.

      »Schullektüre?«, fragte er nochmals und sein rechter Mundwinkel verzog sich zu einem wunderschönen, schiefen Lächeln. Ich räusperte mich, da ich das Gefühl hatte, meine Stimme erst wieder finden zu müssen.

      »Ähm, nein. Ich lese es in meiner Freizeit«, ich richtete meinen Blick auf den Roman, um mich wieder einigermaßen zu sammeln.

      »Mein Lieblingsroman«, merkte ich an, in der Hoffnung, er würde mir das Buch endlich wieder zurückgeben, sodass ich von hier verschwinden konnte.

      Diese Begegnung verwirrte mich zutiefst.

      Im Augenwinkel sah ich, wie er die Brauen hob.

      »Ein solch düsterer Roman weckt Ihre Liebe zur Literatur?«, er wirkte erstaunt.

      »Scheint so«, erwiderte ich und sah wieder in seine stahlblauen Augen.

      »Was ist mit Jane Austen? Stolz und Vorurteil?«, neugierig musterte er mich. Leicht lächelnd blickte ich zu Boden. Natürlich hatte ich Stolz und Vorurteil gelesen - und geliebt. Doch das war, bevor ich all diese schweren Schicksalsschläge hatte erleiden müssen.

      »Ich schätze ich gehöre zu der anderen Sorte.«

      »Sie mögen kein Happy End?«, ein überraschter Ausdruck legte sich über sein Gesicht.

      »Doch«, flüsterte ich. »Ich glaube nur nicht mehr daran.«

      Es war das erste Mal, dass wir miteinander gesprochen hatten. Ein magischer Moment. Schon von der ersten Sekunde an hatte Logan mich in seinen Bann gezogen.

      Ich versuchte mich abzulenken und mich wieder auf den Roman zu konzentrieren. Er spielte im neunzehnten Jahrhundert, in der ländlichen Umgebung Londons. Es handelte von einer Liebesgeschichte zwischen Elizabeth Bennet und Mr Darcy, die erst nach Überwindung zahlreicher innerer Widerstände, allem voran Stolz und Vorurteilen, zueinander fanden. Zudem thematisierte und kritisierte der Roman zum Teil auch die englische Klassengesellschaft zur damaligen Zeit. Ich liebte das Buch. Man konnte nicht anders, als mit Elizabeth und Mr Darcy mitzufiebern. Im Grunde fühlten sie sich schon von Anfang an zueinander hingezogen. Allerdings ließen sie zu viele Missverständnisse aufkommen. Beide waren schlicht und ergreifend zu stur und zu dickköpfig.

      Ich schlug die erste Seite auf und schon war ich Jane Austens raffiniertem Schreibstil verfallen.

      Nach den ersten beiden Kapiteln spürte ich schließlich die Müdigkeit, die meine Augenlider schwer werden ließ. Es dauerte nicht lange und schon versank ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

      Am nächsten Morgen quälte ich mich etwas früher aus dem Bett, um für einen Test zu lernen. Zwischenzeitlich erledigte ich noch ein paar Putzarbeiten, ehe ich meine Nase wieder in die Bücher steckte. So verbrachte ich den ganzen Mittag.

      Nun war es bereits sechs Uhr am Abend und ich wärmte mir gerade das Abendessen auf, als mein Handy auf dem Küchentresen zu vibrieren begann. Poppys Bild erschien auf dem Bildschirm. Seit dem Vorfall gestern, hatten wir uns nicht mehr gesprochen. Sofort nahm ich den Anruf entgegen.

      »Hey, ich dachte schon du hättest vergessen anzurufen«, begrüßte ich meine beste Freundin.

      »Hallo«, Poppy klang niedergeschlagen. Keine Spur von der Heiterkeit, mit der sie mich stets begrüßte.

      »Tut mir leid, dass ich erst jetzt anrufe.«

      »Poppy, das macht doch nichts. Wie geht es dir?«, wollte ich wissen. Vom anderen Ende der Leitung war ein Seufzen zu hören.

      »Scheiße«, entgegnete sie. Okay, ihre Antwort war mehr als deutlich. Ich konnte sie nur zu gut verstehen. Sie war in einer Beziehung mit meinem Bruder und ihr bester Freund, den sie schon seit Jahren kannte, hatte sie geküsst. Selbstverständlich belastete Poppy das. Zu allem Überfluss sollte heute eigentlich ihr und Lukas‘ großer Tag sein. Doch ich war mir ziemlich sicher, dass Lukas über den Kuss nicht sauer sein würde. Schließlich war es ja nicht Poppys Schuld gewesen, dass Timmy versucht hatte sie zu küssen.

      »Poppy, du darfst dir jetzt keine Vorwürfe machen«, versuchte ich beruhigend auf sie einzureden. »Dich trifft keine Schuld. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass Lukas nicht böse sein wird. Immerhin hast du den Kuss ja nicht einmal erwidert. Lass dir davon deinen Abend nicht verderben.«

      Für ein paar Sekunden herrschte Totenstille in der Leitung.

      »Naja, was das angeht … der heutige Abend mit Lukas und mir ist geplatzt.«

      Verwirrt zog ich die Brauen zusammen. Gleichzeitig begann die Mikrowelle zu piepsen. Mein Essen war fertig. Ich klemmte mir den Hörer unters Ohr, während ich es herausnahm.

      »Was meinst du mit geplatzt?«

      Wieder hörte ich Poppy resigniert seufzen.

      »Was hältst du davon, wenn wir einen Kaffee trinken gehen, etwas quatschen und danach eine Black Friday Shoppingtour machen? Ich könnte wirklich etwas Ablenkung gebrauchen«, Poppy klang tatsächlich furchtbar bedrückt.

      Ich erinnerte mich noch zu gut daran, wie sie während der Sommerferien, unmittelbar nach dem Unfall meiner Mom, jeden Tag hier gewesen war. Sie stand mir bei und ging mit mir durch dick und dünn. Nun war es an der Zeit, dass ich dasselbe für sie tat, dass ich ihr mit einem offenen Ohr und Rat und Tat zur Seite stand. Eine Freundschaft war ein Geben und Nehmen. Nun war ich an der Reihe.

      »Ich bin in einer halben Stunde da.«

      ∞

      Kurze Zeit später parkte ich mein Auto vor Poppys Haus. Poppys Zuhause war ein recht außergewöhnliches Haus. Die schieferblaue Holzfassade stand in einem schönen Kontrast zu den dunklen Fensterläden und der weißen Eckverkleidung und fiel jedem sofort ins Auge. Poppys Eltern hatten schon immer ein Faible für extravagante Dinge besessen.

      Es dauerte

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