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doch nicht zugeben. Oder doch? Und wenn Ralf dann allen erzählen würde, dass Henry betrogen hätte? Nur, vielleicht tat er das gar nicht? Ralf war immerhin ein fairer Verlierer. Allerdings ein betrogener Verlierer. Also eigentlich kein wirklicher Verlierer.

      Und da formte sich ein neuer Gedanke in Henrys Kopf. Wie wäre es, Ralf etwas zu Weihnachten zu schenken? Bis dahin war es noch recht lange hin, und das würde bedeuten, der Murmelkönig könnte erst einmal einen Ehrenplatz bei Henry bekommen. Dann aber könnte er …

      Er atmete geradezu auf: Ja, der Murmelkönig als Geschenk! Das war kein wirkliches Zugeben eines Betruges. Eher eine freundschaftliche Geste. Wie sie alle es untereinander durchaus zu Weihnachten machten. Gut, es war nie etwas so Besonderes, vielleicht mal eine dem Freund fehlende Sammelkarte für das aktuelle Album oder ein besonders schön geformter Stein. Aber eigentlich war ja der Murmelkönig auch nur ein Haufen Glas. Und den konnte man doch auch wieder zurückschenken. Insbesondere wenn man sich gar nicht so wohl fühlte, wenn man ihn hatte. Oder?

      Henry nickte sich innerlich zu. Er hatte bis Weihnachten noch Zeit zum Nachdenken. Vielleicht war Ralf auch gar nicht so übel? Brigitte, die immer noch um ihn hüpfte und “toll, toll“ schrie, nervte gerade sogar ein bisschen. Schummeln war nicht cool. Und das würde er wiedergutmachen. Jawohl! Aber später. Irgendwann. Bestimmt! Auf jeden Fall!

Ein Bild, das Kerze enthält. Automatisch generierte Beschreibung

      Rebecca saß in ihrem Auto und schaute auf das Haus gegenüber. Sie kannte jeden Millimeter dieses Gebäudes, jeden kleinen Riss im Putz, jede Ecke, jede Fuge. Sie hatte hier die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens gewohnt, gelebt, gegessen, geschlafen, Hausaufgaben gemacht, mit ihren Freundinnen gespielt. Und auch das eine oder andere Mal mit ihren Eltern gestritten.

      Die junge Frau schloss die Augen. Nun war sie fast dreißig Jahre alt, und in den Jahren nach ihrem Auszug war sie nicht oft hier gewesen. Das letzte Mal war – sie wusste es gar nicht mehr so genau – sieben Jahre her. Oder waren es sogar schon acht? Oder doch neun? Eigentlich war es unwichtig.

      Erinnerungen zogen in ihr auf. Ein Streit mit ihrem Vater wegen einer Freundin, die ihr Vater nicht hatte leiden können. Oder ein Konflikt mit ihrer Mutter, die einfach nicht verstehen wollte, dass Rebecca kein kleines Kind mehr war und deshalb am Wochenende nicht ständig kontrolliert werden wollte. Andere Eltern taten das doch auch nicht! Und mit Sechzehn oder Siebzehn ist man sehr wohl in der Lage, selbst zu entscheiden, wo man hingeht. Und wann man nach Hause kommt.

      Rebecca hatten die permanenten Versuche ihrer Eltern, über ihr Leben zu entscheiden, wahnsinnig gemacht. Sie hatte es schon als kleines Kind nicht leiden können, wenn ihre Mutter etwas beschloss, was Rebecca nicht wollte. Gut, natürlich ging es hier nicht um den ersehnten Eisbecher oder ein Paar Schuhe, sondern um wichtigere Dinge...

      Tief einatmend lehnte sich die junge Frau in ihrem Fahrersitz zurück. Eigentlich wusste sie nicht mehr alle Details aus ihrer Kindheit, was damals wirklich echte Gründe für Streitigkeiten waren. Bis auf die Sache mit Elisa, ihrer Freundin. Die Freundin, die ihre Eltern nicht mochten. Elisa war cool, cooler als die anderen Mädchen. Sie waren dreizehn Jahre alt gewesen, und Elisa hatte schon einen Freund. Und sie rauchte. Eigentlich fand Rebecca das Rauchen ziemlich dumm, wie eigentlich alle anderen auch, aber dass Elisa sich das traute, das war der Punkt gewesen. Elisa scherte sich nicht um das, war ihr gesagt wurde. Sie machte ihr Ding. Und sie war ja trotzdem auch nicht unhöflich. Sie grüßte und machte ihre Hausaufgaben und störte den Unterricht nicht. Weshalb also diese ständigen Gespräche, in denen ihre Eltern ihr klarmachen wollten: Elisa ist keine gute Freundin für dich!

      Natürlich hatten sie sich weiter getroffen, und schließlich hatte auch Rebecca geraucht. Heimlich. So heimlich, dass es bis auf Elisa niemand wusste. Und eigentlich fand sie es ekelhaft. Aber aus Prinzip war es ihr wichtig. Sie entschied! Das hatte sie von Elisa gelernt.

      Ihre Eltern hatten sie dann stets genervt, sie möge lernen für die Schule. Es sei ihre Zukunft. Und Rebecca hatte mit fünfzehn und sechzehn überaus gereizt reagiert. Hielten ihre Eltern sie für dumm? Vor ihrem geistigen Auge entstand eine Situation, wie sie nur allzu häufig vorgekommen war. Ihre Mutter, die sie daran erinnerte, dass sie vor dem Treffen mit ihrer Clique erst einmal die Hausaufgaben machen solle. Als ob sie eine schlechte Schülerin gewesen wäre! Im Gegenteil, sie lag immer im vorderen Drittel der Klasse. Auch beim Übergang auf die gymnasiale Oberstufe war sehr schnell klar: Das Abitur war nie in Gefahr. Es war einfach nur die Frage, mit welcher Note Rebecca bestehen würde.

      Rückwirkend betrachtet konnte die junge Frau natürlich verstehen, dass ihre Eltern nur das Beste für sie gewollt hatten, aber in ihrer Erinnerung war alles derart penetrant geschehen, dass sie sich eingeengt gefühlt hatte. Sie hatte Lust zu reisen, Leute zu treffen, ins Ausland zu gehen. Und sie hatte keine Lust auf ihr Zuhause, auf ihre nervenden Eltern.

      Was Rebecca immer irritiert hatte, war, dass ihre Freundinnen ihre Eltern eigentlich recht nett fanden. Selbst Elisa, obwohl sie ja von ihnen abgelehnt wurde. Rebecca hatte dann stets die Augen gerollt und gesagt: „Wir können ja mal tauschen!“ Dann hatten alle gelacht, und ihre Eltern waren vergessen. Nur Elisa hatte noch traurig und sehr ernst hinzugefügt: „Das willst Du nicht.“ Aber, und das stand fest, das Nerv-Potential ihrer Mutter und ihres Vaters hatten ihre Freundinnen ja nie persönlich erlebt. Rebecca war in jener Zeit zu der Überzeugung gelangt, nach dem Abitur so schnell wie möglich das elterliche Haus zu verlassen.

      Sie hatte ein gutes Abitur gemacht, kein glänzendes, aber ein gutes. Ihre Eltern hatten eine kleine Feier veranstaltet, und auch wenn die Note niemals erwähnt wurde, so war Rebecca sicher, dass sie ihre Eltern eigentlich enttäuscht hatte. Doch dann bot sich diese einzigartige Chance eines Auslandsjahres, eine Ausbildung, gekoppelt mit der Möglichkeit eines späteren Studiums. Wieder war es Elisa gewesen, die ihr den Tipp gegeben hatte.

      Zu Rebeccas Erstaunen hatten ihre Eltern dem Vorhaben sofort zugestimmt. Kein Meckern, dass es zu teuer sei. Nein, viel besser, ihre Eltern boten ihr eine monatliche Unterstützung, die sie in dieser Höhe niemals erwartet hatte. Sie war frei! Frei zu entscheiden, und sie nutzte ihre Chance!

      Sie und Elisa gingen ins Ausland, wohnten zunächst zusammen. Die Ausbildung machte Rebecca Spaß, und schon nach einem halben Jahr bot ihr die Firma, für die sie arbeitete, eine duale Fortbildung an. Sie konnte arbeiten und studieren! Rebeccas und Elisas Lebenswege trennten sich nach einiger Zeit, absolut freundschaftlich. Rebecca arbeitete und lernte, und Elisa fand nach der Ausbildung in einer anderen Stadt eine Stelle, die ihr gefiel. Da war nicht viel Zeit für die Freundschaft.

      Rebecca konnte nun auch reisen, nicht nur zu wunderschönen Urlaubszielen, sondern auch beruflich. Sie war gut, sie war erfolgreich. Sie ging auf Partys, sie lernte interessante Leute kennen, und wenn Menschen sie langweilten, dann lernte sie neue Leute kennen. Längst war sie nicht mehr auf das Geld ihrer Eltern angewiesen, hatte ihnen mitgeteilt, sie könnten die Zahlungen einstellen, was ihre Eltern erst nach mehrfacher Aufforderung auch wirklich taten.

      Und überhaupt, das Beste an der ganzen Sache war, dass ihre Eltern sie nicht mehr nerven konnten. Man telefonierte miteinander, und Rebecca spürte von Jahr zu Jahr, wie weit sie mittlerweile eigentlich von ihrem Elternhaus entfernt war. Es war einfach nur der Ort, an dem sie früher gelebt hatte. Es war auch nicht so, dass sie ungerne mit ihren Eltern telefonierte, aber irgendwie hatte man sich nichts zu sagen. Ihre Eltern lebten seit Ewigkeiten in ebendiesem Haus. Und sie, sie zog regelmäßig um, bekam in ihrem Job immer wieder eine neue berufliche Aufgabe in einer anderen Stadt, in einem anderen Land. Längst hatte sie auch ihr Studium beendet, war trotz ihrer jungen Jahre schon mit einer beeindruckenden Karriere versehen. Die Türen standen ihr offen. Headhunter umschwirrten sie. Und nicht nur Headhunter.

      Sie hatte viele Freunde, sie kannte viele Menschen, und sie hatte auch keine Probleme, wenn sie Lust auf etwas Intimeres hatte. Allerdings schätzte sie es auch, den Abstand wahren zu können, Distanz zu halten. Ihre Eltern hingegen, die waren schon weit über dreißig Jahre verheiratet. Das wäre nie etwas für sie, davon war Rebecca fest überzeugt.

      Als

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