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hatte sie dann immer zu Elisa gesagt, und Elisa hatte immer etwas merkwürdig reagiert. Elisa hatte sich noch viel schlechter mit ihren Eltern verstanden, hatte die Verbindung radikal abgebrochen, als sie es sich finanziell leisten konnte. Warum reagierte Elisa so seltsam, wenn Rebecca ihr sagte, dass sie keine Lust auf ihre Eltern hatte?

      Letztendlich war die junge Frau froh gewesen, als auch die Anrufe ihrer Eltern seltener wurden. Mittlerweile telefonierten sie alle paar Monate, und es war zu Rebeccas Routine geworden, ihren Eltern stets ihre neue Adresse mitzuteilen, wenn sie an eine andere Stelle versetzt worden war. Immer bekam sie dann in den nächsten Tagen einen Blumenstrauß zugestellt oder Konfekt, mit Grüßen von ihren Eltern. Irgendwie, dem konnte sich selbst Rebecca nicht entziehen, war das schon ein wenig rührend. Eine merkwürdige Konstante in ihrem Leben, und als einmal das Geschenk für mehrere Wochen ausblieb, war sie regelrecht verärgert. Und dann war dann plötzlich doch ein Blumenstrauß da, und sie bekam mit, dass sie ihren Eltern versehentlich eine falsche Adresse übermittelt hatte. Und so war das Geschenk ins Leere gelaufen, bis ihre Eltern aus eigener Kraft ihre Adresse herausfanden. Sie hatten sie nicht einmal gefragt.

      Rebecca hatte viel zu tun, war ständig beschäftigt, hatte nur wenig Zeit, über Belangloses nachzudenken. Sie liebte ihren Job, liebte ihr Leben. Es ging ihr gut, und sie vermisste nichts.

      Und dann kam die Nachricht, dass sie für ein Projekt nach Deutschland versetzt würde. Und dann auch noch in ihre Heimatstadt. Im nächsten Jahr würde sie für sechs Monate dort sein. Sie hatte lange gezögert, dies ihren Eltern mitzuteilen. Sie wäre nur einige Kilometer von ihnen entfernt, und sie hatte kein gutes Gefühl. Würde ihre Mutter ihr wieder erklären, wie sie sich zu verhalten hätte? Würde ihr Vater ihr wieder erläutern, dass es nicht gut sei, wenn sie unausgeschlafen in die Schule ging? Oder jetzt zur Arbeit? Es war nichts Bestimmtes, was Rebecca beschäftigte, es war einfach ein allgemeines Unwohlsein. Sie war eine erfolgreiche Frau, aber bei ihren Eltern, das fühlte sie, würde sie wieder zu einem hilflosen, dummen Kind mutieren. Bei Menschen, die sie kaum noch kannte.

      Am Ende hatte sie ihren Eltern doch eine Email geschrieben, dass sie zum Jahresende nach Deutschland ziehen würde, und am nächsten Tag hatte ihr Vater sie angerufen und gefragt, ob sie etwas dagegen haben würde, Weihnachten mit ihnen zu verbringen. Und bei ihnen zu übernachten.

      Weihnachten! Das war in ihrer Familie immer eine ziemlich große Sache gewesen, und solange ihre vielen größeren Cousins und Cousinen noch dabei gewesen waren, war das alles ganz nett gewesen. Aber als sie selbst fünfzehn oder sechzehn Jahre alt war, war sie als letztes Kind im Kreise der Erwachsenen verblieben, und nie hatte sie derartig langweilige Feiern erlebt. Dieses gezwungene Sitzen unter dem Weihnachtsbaum. Und vorher das nervige Schmücken. Das aufgesetzte „Frohe Weihnachten!“ Der scheinheilige Gang zur Kirche, mehr deshalb, weil man das halt so machte, nicht aber, weil man das auch wirklich tun wollte. Und Rebecca hatte sich dann erkämpft, mit Elisa und anderen Freunden und Freundinnen zu feiern. Auch das hatte natürlich einen Riesenstreit gegeben, und Rebecca hatte vor lauter Wut sogar ihren Vater geschubst. Es war das einzige Mal, dass sie handgreiflich geworden war, und nie hatten ihre Eltern sie jemals geschlagen, aber Rebecca war sich sicher, dass diese Situation das endgültige Zeichen gewesen war, dass ein längeres Zusammenleben einfach nicht mehr ging.

      Wie gut, dass die Trennung so positiv verlaufen war. Und so vollkommen schmerzlos.

      Aber nun saß sie in ihrem Auto und starrte auf das Haus. „Ihr“ Haus. Sie sah sich selbst durch den Garten springen, mit dem alten Hund ihrer Mutter spielen, als sie noch ganz klein gewesen war. Wie hatte er geheißen? Max? Sie wusste es nicht mehr genau, aber es war ein ziemlich großer schwarzer Hund gewesen. Oder braun? Auf jeden Fall aber war er sehr gutmütig gewesen, denn sie hatte ständig in sein Fell gegriffen, und der Hund hatte nie geklagt, sondern ihre Hände schwanzwedelnd abgeschleckt.

      Sie sah die Straßenlaterne vor dem Haus und erinnerte sich daran, dass sie einmal beim Fahrradfahren mehr nach hinten zu einem Schulfreund geschaut hatte als nach vorne auf den Weg. Und so war sie ungebremst in die Laterne gefahren. Das Rad war vollkommen verbogen, und sie hatte sich einen Arm gebrochen. Ihre Mutter hatte mit ihr geschimpft, dass sie mehr aufpassen solle, und ihr Vater hatte ihr ein neues Rad gekauft ...

      Rebecca musste schlucken. Daran hatte sie schon lange nicht mehr gedacht. Sie hatte einfach ein neues Rad bekommen.

      Die junge Frau schaute auf das Geschenk neben ihr. Was schenkte man einem Paar, das seit gefühlten Ewigkeiten zusammen am selben Ort wohnte? Sie hatte sich entschieden, ihren Eltern ein Bild zu malen. Seit einigen Jahren malte sie zum Zeitvertreib, wenn sie mal ein wenig Freizeit hatte. Sie mochte das Spielen mit den Farben und mit verschiedenen Techniken, liebte das Abstrakte, das Gestalten mit Formen jedweder Art. Sie hatte ein Bild ausgewählt, das sie sehr mochte, mit Dreiecken und Quadraten, sehr geometrisch, in rötlichen und orangenen Tönen gehalten, die in sanftes Braun am Rand verliefen. Im Prinzip wirkte es wie ein wunderschöner Sonnenuntergang an einem Sandstrand, und soweit sie das Wohnzimmer ihrer Eltern noch in Erinnerung hatte, würde es dort gut hineinpassen. Sofern ihre Eltern, die bestimmt nichts verändert hatten, den Mut dazu aufbrachten.

      Wovor hatte sie nun also Angst? Ihre Eltern waren doch keine Monster! Oder war es die Angst vor der Sprachlosigkeit? Vor dem Nicht-Wissen, was man sagen sollte? Was man sich überhaupt zu sagen hatte? Rebecca biss die Zähne zusammen, stieg aus, strich ihren Rock zurecht, zupfte an ihrem Jäckchen, kontrollierte ihre hohen Schuhe. Alles war in bester Ordnung. Sie zog das Bild vom Beifahrersitz, hängte ihre Handtasche in die Armbeuge, holte die kleine Reisetasche vom Rücksitz, verschloss das Auto, atmete noch einmal tief durch und ging dann entschlossen über die Straße.

      Sie musste nicht klingeln. Die Gartenpforte summte, sie trat hindurch – und fühlte sich wie in eine Zeitkapsel versetzt. Die Rosenbeete, die ihr Vater so sehr pflegte, sie waren immer noch da. Es schienen teilweise andere Rosenstöcke zu sein, auch andere Rosenarten, aber ihr Vater zog sie immer noch. Der kleine Kiesweg, der um das Haus herum in den hinteren Bereich des Gartens führte, war wie immer penibel gepflegt und sauber wie eh und je. Was hatte sie ihre Eltern in den Wahnsinn getrieben, wenn sie die kleinen Kiesel heimlich einsammelte und zum Spielen auf die Straße oder zu Freunden schleppte!

      Auch der Baum, an dem ihre Schaukel gehangen hatte, war noch da. Natürlich war da längst keine Schaukel mehr. Die hatte ihr Vater schon abgehangen, als sie noch zu Hause gewohnt hatte. Aber am Ast waren immer noch die Einkerbungen zu sehen, wo einst die Seile tief in das Holz geschnitten hatten.

      Rebecca war eigenartig zumute. So hatte sie sich noch nie gefühlt. Auch nicht, als sie die letzten Male hier gewesen war. Aber das waren ja eben Pflichtbesuche gewesen. Nicht dass ihre Eltern sie hierher befohlen hätten, weil sie ihre Ausbildung, ihr Studium mit bezahlten. Aber dennoch war es für Rebecca eine Art Pflicht gewesen. Nun aber war sie aus freien Stücken hier ...

      Warum eigentlich?

      Sie hatte darüber nachgedacht. Weil sie ihre Eltern sehen wollte? Eher nicht. Oder doch? Oder weil sie sich doch irgendwie verpflichtet sah? Eher auch das nicht.

      „Rebecca?“ Die Stimme ihres Vaters drang an ihr Ohr.

      Sie hatte nicht bemerkt, dass sie stehengeblieben war und auf den kleinen Teich zu ihrer Rechten starrte. Der war neu, der war damals nicht hier gewesen. Und sie sah auch eine kleine Steinbank, die sie nicht kannte. Und dass der Putz erst vor kurzem erneuert worden war. Nichts war es mit all den Rissen, die sie noch gekannt hatte.

      Im Eingang stand ihr Vater auf der kleinen Treppe und blickte auf sie herab. Seine Haare waren etwas weißer und etwas dünner geworden, aber eigentlich hatte er sich nicht wirklich verändert. Natürlich trug er eine dunkle Hose, ein Hemd mit Manschetten und eine Krawatte. Wie immer zu Weihnachten. Oder zu anderen wichtigen Anlässen.

      Und nun trat auch ihre Mutter in die Eingangstür, während ihr Vater etwas zur Seite rückte. Sie hatte sich für einen Hosenanzug entschieden, den Rebecca nicht kannte. Er stand, so musste die junge Frau anerkennen, ihrer Mutter ausgezeichnet.

      „Möchtest du hereinkommen?“, fragte ihr Vater vorsichtig und versuchte ein etwas hilfloses Lächeln.

      Die junge Frau bemerkte erst jetzt, dass sie ihre Eltern mit offenem

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