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der Kuhle, eine andere wenigstens in der Nähe, doch die drei übrigen Murmeln waren so weit entfernt, dass sie kaum alle in einem Durchgang zu versenken waren. Ralfs andere Murmeln lagen besser. Eine in der Nähe der Kuhle, die anderen zumindest in Positionen, von denen aus die Kuhle zu treffen war.

      Na ja, dachte Henry, wenigstens würde es Ralf auch mit dem blöden Murmelkönig nicht gelingen, alle Murmeln in einem Rutsch in das Loch zu befördern. Aber Ralf war selbstsicher, begann nun, die außen liegenden Murmeln in die Kuhle zu schnippen. Zunächst die von Ralf, die direkt auf der Kante lag, dann eine von seinen, dann beugte er sich zur nächsten. Es sah so spielerisch aus.

      „Toll machst du das“, flötete Brigitte.

      Ralf war gerade dabei, diese Murmel zu schnippen. Er schaute aber gleichzeitig zu Brigitte, und so ging die Murmel knapp an der Kuhle vorbei.

      Ein Aufstöhnen ging durch die Menge. Haben die wirklich erwartet, dass dieser blöde Ralf alle Murmeln sofort versenkt? dachte Henry, als er sich nach der verschossenen Glaskugel bückte und sie die paar Zentimeter bis ins Loch schnippte. Noch habe ich nicht verloren, dachte er. Es geht nur darum, die letzte Kugel zu versenken. Die letzte Kugel entscheidet. Er blickte sich um. Noch waren fünf Kugeln nicht eingelocht. Und drei waren richtig schwer…

      „Na los, Henry!“, rief Margot.

      „Das schafft er nie!“, ergänzte Lothar.

      Na warte! Dir werd‘ ich’s zeigen! Wütend schnippte Henry die nächste Murmel, eine einfache Aufgabe, doch …

      Sie rollte am Loch vorbei! Aufstöhnen in der Menge. Olafs Lachen dröhnte in Henrys Ohren, und Ralf verzog siegesgewiss den Mund, während er sich zu dem Fehlläufer bückte, kaum hinschaute, und ihn endgültig in die Kuhle beförderte. Unwillkürlich griff Henry nach seinem Fahrtenmesser.

      „Ja“, zwinkerte ihm Ralf zu, „fass es noch mal an. Gleich ist es nämlich meins.“ Er suchte die nächste Murmel, blickte noch einmal zu Brigitte und …

      ... verschoss! Erneutes Aufstöhnen in der Menge. Henry konnte es kaum glauben. Viel zu sehr hatte er sich, so fühlte er, schon mit der drohenden Niederlage abgefunden. Und nun bekam er noch einmal eine Chance. Nur, die letzten Murmeln, sie waren so weit weg, und Ralf war einfach besser. Diese Erkenntnis schmerzte Henry, genauso wie das Verstehen, dass Brigitte vermutlich niemals ein Eis mit ihm essen würde, aber er wollte diese Erkenntnis gar nicht haben. Und er wollte auch sein Fahrtenmesser nicht hergeben.

      „Tja, egal“, lachte Ralf. „Soll er’s noch mal probieren.“ Er stand auf und machte Platz für Henry. „Ich habe schließlich den Murmelkönig, und der gewinnt immer!“ Ralf zauberte die Riesenmurmel erneut aus der Tasche und zeigte sie herum, so dass sich sofort wieder alle anderen um ihn versammelten.

      Henry bemerkte es erst, nachdem er die nächste Murmel in die Kuhle geschnippt hatte. Alle standen bei Ralf, keiner blickte zu ihm. Die einzige war Margot, die zumindest noch den letzten Treffer gesehen hatte, dann kurz zu den drei weit entfernten Murmeln sah und sich dann endgültig dem Murmelkönig zuwandte.

      Und jetzt? Henry starrte auf die drei letzten Kugeln. Es war unmöglich. Es wäre großes Glück. Aber immerhin, es schaute niemand. Keine blöden Bemerkungen. Henry kniete sich hinter die erste dieser drei Kugeln, zielte, schnippte und traute seinen Augen nicht. Die Murmel sprang, hüpfte, rollte direkt zur Kuhle und hinein! Am liebsten hätte er nun triumphierend aufgeschrien, nur – es hatte niemand gesehen! Ralf nicht, der Möchtegern-Sieger. Olaf nicht, der dumme Idiot. Brigitte nicht, mit ihren blonden Haaren, die so schön dufteten…

      Sein Herz schlug schneller. Er hatte Glück gehabt, nur er brauchte noch zweimal dieses Glück, und das war ausgeschlossen. In diesem Augenblick aber kam ihm die Idee. Er griff nach der ersten der verbliebenen Kugeln, beugte sich nach vorne, stützte sich ab und warf sie in das Loch. Schnell hatte er auch die zweite geschnappt, warf sie regelwidrig, sie fiel auf den Boden, rollte weiter, direkt zur Kuhle. Aus dieser Entfernung war es einfach, das Loch mit einem Wurf zu treffen, nicht aber mit einem Schnipsen.

      „Ja!“, hörte er sich schreien. „Ja!“

      Alle fuhren herum, gerade im richtigen Moment, als die kleine Glaskugel über den Rand lief und sich zu den neun anderen Murmeln gesellte.

      „Ja!“, schrie Henry und sprang auf. „Ich habe gewonnen! Ich! Ich!“ Jubelnd schüttelte er seine Arme.

      Fassungslos starrte Ralf in das Loch, griff hinein, zählte nach.

      „Los, her mit dem Murmelkönig!“, rief Henry triumphierend. „Her damit!“

      Unendlich langsam streckte Ralf ihm seine Faust entgegen und ließ seinen größten Schatz in Henrys Hand fallen. Der konnte sein Glück kaum fassen, griff nochmals nach seinem Fahrtenmesser. Nun besaß er die beiden größten Schätze. Den Murmelkönig und eben das Messer!

      „Wahnsinn!“, stöhnte der ruhige Ronny. Olaf keuchte, Lothar hatte es die Sprache verschlagen. Brigitte warf Henry einen Blick zu, der bedeutete, dass es vielleicht doch noch etwas mit dem Eisessen, von dem sie noch gar nichts wusste, werden könnte. Andere jubelten und schrien durcheinander, waren begeistert von diesem Duell.

      Und dann sah Henry Margots Blick. Ihre Mundwinkel zuckten nach unten, und ihre Stirn zog sich in Falten. Und auch Dirk schaute ihn skeptisch an. Ralf blickte todtraurig ein letztes Mal auf den Murmelkönig in Henrys Hand und schlurfte dann geschlagen davon.

      Der Triumph war plötzlich nicht mehr so triumphal. Er stieß in Henry sauer auf. Einerseits fühlte es sich unglaublich gut an, diesen Murmelkönig in der Hand zu halten, den vernichteten Störenfried von hinten zu sehen, von Brigitte wirklich und wahrhaftig kurz umarmt zu werden. Aber andererseits stieg in Henry die Angst empor, dass Margot oder Dirk gesehen hatten, wie er sich zum Sieg geschummelt hatte. Warum sagten sie nichts? Gottseidank sagten sie nichts. Aber würden sie schweigen?

      „Das war super!“, kreischte Brigitte, und sie bemühte sich, den Murmelkönig zu berühren.

      „Hätte ich nie geglaubt“, grummelte Olaf.

      „Ich auch nicht“, schüttelte Lothar ungläubig den Kopf. „Aus der Entfernung? Drei Murmeln? Nee…“

      Margots Stirn zog sich noch mehr zusammen, und Dirk sagte: „Ich hätt’s gerne gesehen.“

      Henrys Hand zitterte. Immer noch starrte er Ralf hinterher. Er hatte diesen Störenfried besiegt, diesen Angeber, diesen Aufschneider. Und das war gut! Andererseits hatte Ralf ihm sofort den Murmelkönig gegeben, obwohl niemand gesehen hatte, wie Henry die letzten Murmeln in die Kuhle befördert hatte. Ralf mochte ein Angeber sein, ein Schummler war er nicht. Und er zweifelte nicht einmal an, dass Henry dies über diese erstaunliche Entfernung vollbracht hatte.

      Der Murmelkönig in Henrys Hand schien immer schwerer zu werden. Doch sollte er zugeben, dass er geschummelt hatte? Vielleicht hatten Margot und Dirk wirklich nichts gesehen. Und er war schließlich der Sieger! Und Brigitte…

      Henry fühlte nach seinem Fahrtenmesser. Den Murmelkönig einfach zurückgeben? Kam nicht in Frage! Ralf eine Revanche bieten und sich danach anhören müssen, wie gut er – Ralf – doch war, weil er vermutlich gewinnen würde? Unerträglich.

      Irgendjemand schlug ihm anerkennend auf die Schulter, dass es krachte. Olaf, der Hüne, nicht zu fassen! Die Anerkennung tat gut.

      Noch einmal sah er Ralf hinterher, der traurigen Gestalt. Vermutlich weinte er jetzt, weil er seinen größten Schatz verloren hatte. Henry versuchte, sich darüber zu freuen, doch unwillkürlich wanderte seine Hand zum wiederholten Male zum Fahrtenmesser. Wie würde er reagieren, wenn er es verloren hätte? Und wenn Ralf vielleicht auch noch dabei geschummelt hätte?

      Triumph, Stolz, Schadenfreude und ein merkwürdiges Gefühl, das ihm Übelkeit in seinem Magen bereitete… Er schämte sich. Nur – wie kam er aus der Nummer wieder heraus? Henry wusste es nicht. Aber der Tag, soviel war sicher, war endgültig verdorben.

      Vielleicht hatte Ralf ja den Murmelkönig auch zu Weihnachten bekommen? Vielleicht war der Murmelkönig für ihn ein ebenso wertvolles Geschenk wie

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