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nach kurzer Zeit am besten. Und natürlich liebte Henry dieses Spiel. Wer wollte nicht gerne der Erste sein im täglichen Kampf um den Besten, Schnellsten, Größten oder Stärksten? In den meisten Kategorien war Henry höchstens Mittelmaß, doch hier, beim Murmelspielen, hier hatte er seinen Platz an der Sonne gefunden.

      Natürlich gab es auch Neider: Olaf, den Hünen, den dumben Haudrauf, dessen Finger so gewaltig waren, dass er die kleinen Murmeln meistens viel zu weit stieß. Oder Lothar, den Schnellsten unter ihnen, der erst damit zurecht kommen musste, dass es auch andere Sieger neben ihm geben konnte. Doch die meisten Kinder hatten kein Problem damit, dass es ausgerechnet Henry war, der schon seit Tagen, wenn nicht seit Wochen, beim Murmeln dominierte. Warum auch? Spätestens nach den Sommerferien, die vor der Tür standen, würde es irgendein neues Spiel geben, das sie dann ausgiebig betreiben würden. Noch aber war es motivierend, eben Henry wenigstens ein, zwei Mal beim Murmeln zu schlagen, und einigen gelang dies recht gut. Beispielsweise Dirk, dem Fußballtorwart, der so nicht nur Geschick beim Fangen von Bällen zeigte, oder der altklugen Margot, die nicht nur einen viel zu unmodernen Namen trug, sondern stets so wirkte, als hätte sie schon deutlich mehr als nur ihre zwölf Lebensjahre erlebt.

      Eigentlich, so dachte Henry eines Tages, eigentlich war die Welt in Neuunteraudorf in Ordnung. Zumindest war sie es bis vor wenigen Tagen gewesen. Sicherlich war es nicht besonders lustig, wenn sich Olaf, dieses tapsige, aber leider sehr kräftige Riesenbaby auf einen warf, weil er es originell fand, wenn der unten Liegende Staub und Sand einatmen musste. Sicherlich war es auch nicht besonders lustig, wenn Lothar sich darüber amüsierte, dass er ja schon längst eine Limo trinken könne, während Henry sich noch über die letzten Meter der Rennstrecke quälen müsse. Und sicherlich waren auch Margots unerträgliche Ergüsse über alles und jeden schwer nervig. Nur, so war es eben. So war es schon immer, denn sie waren alle zusammen hier aufgewachsen.

      Jetzt allerdings, jetzt war dieses komplizierte Gefüge von eingespielter Rang- und Hackordnung in Gefahr, denn jetzt war Ralf da, und Ralf gehörte einfach nicht hierher, wie Henry fand.

      Ralfs Familie war vor ein paar Tagen nach Neuunteraudorf gezogen, mit unzähligen Umzugskartons und vielen Koffern, und Ralf brachte einfach alles durcheinander. Nicht nur, dass die hübsche blonde Brigitte, die Henry still verehrte, ohne ihr sagen zu können, dass er gerne mal mit ihr Eis essen gehen würde, nicht nur, dass eben diese hübsche blonde Brigitte kürzlich ausgerechnet zu Henry gesagt hatte: „Ralf ist, glaub‘ ich, ganz in Ordnung.“ Nicht nur, dass Dirk, der Fußballtorwart, ausgerechnet Ralf angeboten hatte, in seiner Mannschaft mitzuspielen. Nicht nur, dass Ralf auch mit dem Rad schneller am Waldrand gewesen war als Henry. Nein, viel schlimmer war, dass Ralf auch noch einfach gut Murmeln spielen konnte.

      Er spielte nicht nur gut Murmeln, er spielte sogar sehr gut. Er spielte so gut Murmeln, dass Henry nicht mehr der sichere Seriensieger war. Nein, Ralf gewann häufiger als Henry, und schon nach ein paar Tagen gewann Ralf fast immer.

      „Nicht schlecht“, lächelte die blonde Brigitte Ralf zu, als dieser wieder einmal die entscheidende Murmel in der Kuhle versenkte. Und dieses Lächeln versetzte Henry einen Stich ins Herz.

      „Wenigstens gewinnt jetzt mal ein anderer als immer nur Henry“, lachte der ruhige Ronny, der sich eigentlich aus allen Streitigkeiten heraushielt. Henry schluckte schwer.

      „Na ja“, machte Ralf und zuckte mit den Schultern, „ich habe eben meinen Glücksbringer.“

      „Einen Glücksbringer?“ Brigitte rückte neugierig näher und legte sogar ihre Hand auf Ralfs Schulter, so dass Henry sich nur mit Mühe zurückhalten konnte, seinem Gegenspieler nicht gleich vors Schienbein zu treten.

      „Ja, hier. Schaut mal.“ Ralf griff in seine Hosentasche und holte eine große Glasmurmel hervor. Sie war viel größer als die, mit denen sie spielten, und in ihrem Inneren waren einige bunte Bänder eingelassen, so dass sie in allen Farben der Welt schimmerte und im Tageslicht glitzerte wie eine kleine eigenständige Sonne.

      Henry war fasziniert. Und nicht nur er, denn alle anderen Kinder rückten näher an Ralf heran und wollten einen Blick auf diese Murmel erhaschen. Einige griffen nach ihr, doch Ralf hob sie in die Höhe und rief: „Nur anschauen! Nur anschauen!“

      Beinahe ehrfürchtig ging ein Raunen durch die Menge der Kinder, und Henry war angewidert. Wieso lagen diese Idioten diesem Aufschneider nur zu Füßen? Er sah nicht mal besonders aus. Er war auch nirgendwo herausragend, weder der Schnellste, noch der Klügste, noch der Stärkste. Nur beim Murmelspielen …

      „Gewinnst du deshalb immer gegen Henry?“, fragte Brigitte.

      Immer? Henry wollte protestieren, nur das hämische Gelächter von Olaf dem Hünen hielt ihn davon ab. Warum sagte Margot nichts? Sie war doch sonst immer zur Stelle, wenn es um Falsches ging. Sie korrigierte doch sonst immer jeden.

      „Ja klar“, brüstete sich Ralf und ballte theatralisch die Faust um die Riesenmurmel. „Das ist der König der Murmeln, das ist der Murmelkönig!“

      „Dann spiel doch um den Murmelkönig, verdammt noch mal!“

      Alles Gemurmel erstarb, und alle schauten verdutzt zu Henry. Er schluckte schwer. Hatte er das gerade tatsächlich gesagt? Hatte er Ralf, diese blasse Ratte, diesen Störenfried, tatsächlich soeben herausgefordert? Wie blöd war er nur? Ralf, dieser Schleimer, dieser Eindringling, hatte die letzten fünf Spiele gegen ihn gewonnen. Und heute, wenn er es recht bedachte, hatte es für ihn, Henry, nur zu einem einzigen Sieg gelangt. Selbst Dirk, der Torwart, hatte zweimal das Spiel für sich entschieden.

      „Du willst gegen mich antreten?“ Ralf verzog vergnügt das Gesicht. „Nun, du sollst ja mal gut gewesen sein, wie Brigitte sagt, aber jetzt? Du verlierst doch ständig.“

      Henry kochte vor Wut. Am liebsten hätte er Ralf eine Murmel an den Kopf geworfen, nur würde das Brigitte bestimmt nicht mögen, dachte er.

      „Na, was denn? Erst große Töne spucken und sich dann nicht trauen?“ Ralf setzte noch eins drauf.

      Alle schauten gespannt zu Henry, und der wusste: Er konnte nicht mehr zurück, ohne gänzlich das Gesicht zu verlieren. Schließlich stieß er hervor, wobei er sich bemühte, besonders selbstbewusst auszusehen: „Ich mich nicht trauen? Pah! Ich schlag‘ dich schon und deinen komischen Murmelkönig.“

      „Na schön“, grinste Ralf im Gefühl des sicheren Sieges. „Und was setzt du?“

      Was setze ich? Henry spürte, wie ihm Schweißtropfen auf der Stirn standen. Er hatte nichts, was auch nur annähernd so viel Wert hatte wie dieser verdammte Murmelkönig. „Ich…“

      „Dein Fahrtenmesser!“

      Henry schrak hoch: „Mein…?“ Er liebte sein Fahrtenmesser. Nicht jeder hatte eins, und seines war das schönste und auch das schärfste. Gestern hatten sie im Wald Äste abgeschnitten, und Henrys Messer war allen anderen überlegen gewesen. Außerdem hatte er es zum Heiligabend im vergangenen Jahr bekommen, und Weihnachtsgeschenke waren sowieso etwas Besonderes. Nein, er wollte nicht um das Fahrtenmesser spielen. Er wollte es nicht verlieren.

      „Traust dich wohl nicht, oder?“

      Brigitte kicherte albern, und Olaf nickte so stark, als ob er Ralf auch noch ganz besonders recht geben musste.

      „Natürlich traue ich mich!“, entfuhr es Henry. Mein Messer! Nur, er konnte nicht zurück. Es ging nicht. Warum hatte er nicht einfach seinen Mund gehalten?

      Ein Jubel ging durch die Gruppe der Kinder, und Dirk übernahm das Kommando: „Henry und Ralf spielen Der Letzte Gewinnt. Mit je fünf Murmeln. Um den Murmelkönig und um das Fahrtenmesser!“

      Einige applaudierten, Ralf reckte noch einmal seinen Murmelkönig in die Höhe, Brigitte schaffte es erneut, ihn wie zufällig zu berühren und ganz an seiner Seite zu stehen. Henry konnte nicht mehr hinsehen, tastete nach seinem Fahrtenmesser, das er immer an seinem Gürtel trug. Es war sein ganzer Stolz…

      „Los geht’s!“, befahl Dirk und hielt Henry zwei Fäuste entgegen.

      Henry wählte die linke Faust, und sie war leer. Ralf

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