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als Paar wirkten. Wären sie nicht ihre Eltern, dann ... Ja, was eigentlich „dann“? Ihre Eltern, sie wirkten auf sie so fremd. Und doch irgendwie auch vertraut. Es grummelte in ihrem Magen.

      „Natürlich“, schluckte Rebecca schließlich, stieg die Treppe empor und stand vor ihrer Mutter, die Handtasche in der linken Armbeuge, in der Hand die kleine Reisetasche, das etwas sperrige Geschenk unter dem rechten Arm. Und was nun? Wie begrüßt man Eltern, denen man eigentlich nichts zu sagen hat?

      Die großen hellblauen Augen ihrer Mutter blickten sie an, und es war wie eine Ewigkeit, bis ihre Mutter ihr vorsichtig über den Arm strich. Auch ihr Vater wusste offenbar nicht, wie er seine Tochter begrüßen sollte, und so traten sie erst einmal in den Flur.

      Rebecca erstarrte. Wohl erkannte sie noch das Haus, aber ansonsten war alles anders. Neue Möbel waren hier, eine neue Lampe, selbst das Treppengeländer in den oberen Stock war neu. Und als sie das Wohnzimmer betrat, fand sie auf Anhieb keinen einzigen Einrichtungsgegenstand, an den sie sich noch erinnern konnte.

      „Ihr ... habt euch neu eingerichtet?“ Ihr Hals zog sich zusammen. Es war geschmackvoll. Es war hell und gekonnt. Es gefiel ihr sogar. Es war besser als die Möbel, die sie noch in Erinnerung hatte. Und doch war ihr für einen winzigen Moment so, als ob sie eine leichte Trauer empfand, dass nichts so war wie früher. Selbst der große Weihnachtsbaum stand in einer anderen Ecke als früher.

      „Ja“, antwortete ihre Mutter. „Vor vier Jahren haben wir das endlich gemacht. Das wollten wir immer schon, aber irgendwie sind wir nie dazu gekommen. Gefällt es dir?“

      „Das ist sehr schön.“ Rebecca bemerkte kaum, dass ihr Vater ihr das Geschenk abnahm und unter den Weihnachtsbaum legte. Denn sie hatte etwas entdeckt, das sie doch kannte. Fotos von ihr selbst. Sie standen auf einem kleinen Board zwischen den beiden großen Glastüren, die auf die Terrasse führten, und sie kannte sie alle. Sie als Baby, als Kleinkind im Kinderwagen, bei der Einschulung ... Ein Bild von ihrer Abiturfeier war ebenfalls da. Und auch ein ganz aktuelles Foto aus ihrem letzten Urlaub, das sie ihren Eltern vom Telefon aus zugeschickt hatte. Es zeigte sie vor einem Brunnen. Sie hatte ein knappes, luftiges Oberteil an und einen fast durchsichtigen leichten Sommerrock. Eine Kellnerin hatte das Foto gemacht, und sie mochte es sehr. Irgendwie berührte es sie, dass ihre Eltern es ausgedruckt und aufgestellt hatten.

      „Das ist ein wunderschönes Foto, Rebecca“, sagte ihre Mutter neben ihr. Von irgendwoher hatte sie ein Glas gezaubert. „Einen Sherry? Du hast uns geschrieben, dass du Sherry magst? Wollen wir anstoßen?“

      „Äh, ja.“ Rebecca griff nach dem Glas und blickte sich um. „Wer kommt denn noch?“

      „Niemand“, gab ihr Vater zurück. „Wir wissen doch, dass dich die großen Runden mit allen alten Verwandten nie begeistert haben. Ich hoffe, du bist einverstanden, wenn wir nur zu dritt sind?“

      „Natürlich.“ Was sollte sie auch sagen? Sie wusste ja selbst nicht, was sie sich eigentlich wünschte. Nervös nahm sie einen Schluck. Der Sherry war ausgezeichnet.

      „Auf dich, Rebecca.“ Ihr Vater hob sein Glas und lächelte ihr zu. Es war ein schönes Lächeln. Ein stolzes Lächeln. Und da war noch etwas ... Etwas, das Rebecca ins Herz traf, ohne dass sie zunächst wusste, was es war.

      „Auf dich.“ Die Augen ihrer Mutter waren feucht, aber auch sie lächelte.

      Rebecca war plötzlich wieder klein. Sie sah sich heimlich im Flur herumschleichen, während ihre Eltern die Geschenke einpackten. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater sie getröstet hatte, als sie die Treppe hinuntergestürzt war. Sie erinnerte sich daran, wie sie unglücklich verliebt gewesen war und wie ihre Mutter sie in ihren Armen gehalten hatte. Sie erinnerte sich an den Duft der Bettwäsche, an den angenehmen Geruch von Mandelöl, das immer im Badezimmer bereitstand. Sie sah sich stolz mit ihrer Schultasche in der Haustür stehen, bereit für die Einschulung. So viele wunderschöne Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf, längst vergessen geglaubte Erinnerungen, die so ewig von diesen längst völlig nichtigen Problemen, wann man als Teenager zu Hause zu sein hatte, überlagert worden waren. Wieso hatte sie all das Schöne vergessen? Wieso hatte sie sich so in diese Ablehnung verbissen? War das eine Notwendigkeit der Abnabelung? Vielleicht war es so. Aber jetzt, nach fast einem Dutzend Jahren?

      Und sie erinnerte sich an den letzten Blick ihres Vaters, als sie ausgezogen war. Als er ihr hinterherblickte und ihr zuwinkte, als sie endgültig das Haus verlassen hatte. Es war der gleiche Blick, wie sie ihn jetzt sah. Nie hatte sie darüber nachgedacht, was das für ein Blick war. Doch jetzt, in diesem Moment, da war ihr alles klar.

      Sie sah, wie ihre Eltern sich an den Händen hielten, vereint wie immer. Wie sie unsicher zu ihr schauten, auch nicht wussten, was sie sagen, was sie tun sollten.

      Gott, dachte Rebecca, was bin ich dumm, was bin ich blind! Ja, ich lebe anders als meine Eltern, und ich will das auch so. Aber hier, hier finde ich bedingungslose Liebe. Einfach weil ich ich bin! Egal wann. Egal wie ich mich aufführe. Hier bin ich immer willkommen! Ohne jede Vorbedingung. Und ich war zu blind, das zu erkennen. Elisa aber, sie hatte das schon damals bemerkt und mich darum still beneidet. Niemals werde ich wieder so viel Zeit vergehen lassen.

      Tränen des Glücks schossen ihr in die Augen. Sie stellte ihr Glas ab, ging auf ihre Eltern zu und konnte nicht anders, als sie zu umarmen. Und es war ein so herrliches Gefühl, bei ihnen zu sein. Es würde ein wunderschönes Weihnachtsfest werden. Und sie würden sich alle ganz, ganz viel erzählen, weil es so viel zu erzählen gab. Das stand jetzt schon fest.

Ein Bild, das Text enthält. Automatisch generierte Beschreibung

      Sie liebte die Ruhe, die von diesem Ort ausging, dem Ort, der ihr so viel bedeutete. Natürlich, die Holzbank war längst erneuert worden und der Baum hatte etliche Jahresringe hinzugewonnen, und doch sah sie sich noch als junge Frau unter seinen Zweigen sitzen. Damals war sie glücklich gewesen. Damals und die letzten Jahrzehnte ebenfalls, auch wenn es nicht immer einfach gewesen war. Doch sie hatten es geschafft. Gemeinsam. So, wie sie immer gemeinsam eine Lösung gefunden hatten. Aber jetzt war sie allein. Und sie fühlte sich alt. Deutlich älter, als sie es eigentlich war.

      Der Pfarrer ging mit einem Mitarbeiter über den Hof und grüßte zu ihr herüber. Sie nickte ihm zu und nahm ihn doch kaum wahr.

      Es wurde kälter. Die Sonne ging in diesen Monaten schon früh unter und konnte auch tagsüber kaum wärmen. Dabei hätte sie die Wärme gut gebrauchen können. In den Häusern wurden Laternen angezündet und leuchteten aus den Fenstern auf die Straße. Sie sahen hübsch aus, liebevoll gestaltete Windlichter, die dennoch nicht ihr Herz erreichten. Eigentlich hatte sie auch eine Laterne basteln wollen, zusammen mit ihrer kleinen Enkeltochter. Doch sie hatte keine Kraft dafür gehabt. Jetzt hatte ihre Schwiegertochter sich darum gekümmert, damit sie nicht ohne Licht zum Umzug gehen mussten.

      Sie zog den Schal fester um den Hals und richtete sich auf. Als sie nach dem kleinen Kissen greifen wollte, das sie sich seit der Blasenentzündung mitnahm, weshalb sie zwei Wochen nicht zu ihrem Baum gehen konnte, zögerte sie. War da etwas in dem Astloch? Ein Stift? Ein Geschenk? Oder ein Schlüssel? Vom Boden aus konnte sie es nicht erkennen. Mühsam kniete sie sich auf die Sitzfläche, hielt sich mit beiden Händen an der Lehne fest, stellte einen Fuß auf und stemmte sich hoch. Mit einer Hand stützte sie sich am Stamm ab und schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, konnte sie erkennen, dass sich das Astloch jetzt fast auf Kopfhöhe befand.

      Sie beugte sich vor und zog eine längliche Metallbox heraus. Als sie den Deckel öffnete, sah sie einen vergilbten Zettel. Er war zerknittert und mit einer gelben Schleife zusammengebunden. Im ersten Impuls wollte sie an einem Ende des Bandes ziehen, doch dann zögerte sie. Sorgfältig klopfte sie den Dreck ab und steckte die Box mit dem Zettel in ihre große Manteltasche.

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      „Habt ihr es schon gehört?“, fragte Christian und kickte einen Stein weg.

      „Was denn?“ Michael sah zu seinem Freund. Wie kam es

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