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einmal ein bisschen aufhalte, ne, denn ich bin ja dann im, wie sagt man so, verdienten Ruhestand, ne.“ Thomas lachte. „Und es heißt ja Ruhestand, ne, und nicht … äh … Lichtschalterweg oder so, ne.“

      Der Engel sah den Mann vor sich im Bett mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Wenn du meinst.“

      „Na klar, das ist doch unglaublich praktisch, ne, das kann man ja sehen. Ich musste mich keinen Zentimeter bewegen, ne, und trotzdem wechselt das Licht. Was das alles für Möglichkeiten freisetzt, ne.“

      Der Engel ließ die Feststellung unerwidert und reduzierte stattdessen wieder die Abspielgeschwindigkeit.

      „Oh, jetzt passiert etwas!“ Thomas beugte sich interessiert vor.

      Sein altes Ich griff nach der Fernbedienung und richtete sie auf den Fernseher. Auf dem Bildschirm erschienen zwei Moderatoren, die Sektgläser in die Kamera hielten. Sie zählten den Countdown mit, der als überdimensional große Zahlen eingeblendet wurde. Am Ende stießen sie gemeinsam an, und das Fernsehbild wechselte. Leuchtende Raketen schossen in den Himmel und bildeten immer neue glänzende Bilder. Der alte Mann nickte, stellte den Fernseher wieder aus und blickte in das flackernde Licht der Adventskerze.

      „Warum sitze ich an Silvester allein zu Hause“, wunderte sich Thomas. „Ich wollte doch immer verreisen, nach Neuseeland, oder durch Südamerika, oder Kanada. Natürlich nicht als Pauschaltourist, ne, da sieht man ja gar nichts vom Land und von den Leuten, wobei, ne, sicherer wäre es schon. Mir sieht man ja schon an, ne, wenn ich da so unterwegs bin, dass ich nicht ganz unvermögend bin, ne. Und da wäre eine Kreuzfahrt schon ungefährlicher.“

      „Du sitzt zu Hause, weil du dich kaum noch bewegen kannst.“ Nathanael zeigte auf zwei Griffe, die hinter der Sofalehne zu sehen waren. „Siehst du das? Das ist dein Rollator. Ohne dieses Hilfsmittel würdest du noch nicht einmal vom Sofa bis ins Bett gelangen. Das Schlafzimmer ist übrigens direkt neben dem Wohnzimmer, damit du nicht so weit laufen musst. Seit deinem Schlaganfall vor drei Jahren ist dein linkes Bein nur noch teilweise belastbar. Doch das kannst du dir nicht eingestehen. Deshalb steht der Rollator auch hinter dem Sofa. Du verrenkst dich lieber, um ihn hervorzuziehen, als dass er sichtbar im Zimmer steht. Natürlich, das Kochen, Putzen und Einkaufen übernimmt Frau Raikowitsch, die nette Dame, die du vorhin gesehen hast. Sie ist aber auch die einzige, die das Haus betreten darf. Der Gärtner bekommt immer von ihr die Aufträge und hat die Türschwelle noch nie übertreten.“

      Thomas grübelt. „Bekomme ich Besuch? Von meinen Arbeitskollegen zum Beispiel. Da ist doch der Martin, mit dem ich jeden Donnerstag zum Tennisspielen gehe.“

      „Ja, der Martin …“, Nathanael nickte und stoppte das Video. „Den gibt es ja auch noch. Möchtest du sehen, was er so in der Zukunft macht?“

      „Jetzt kommt bestimmt ne arme Familie ohne Geld zum Feiern“, spottete Thomas. „Kennen wir doch, ne? Und damit willst du mein Mitleid wecken, weil ich natürlich, ne, irgendwas in der Vergangenheit gemacht habe, ne, was sie arm gemacht hat. Bestimmt habe ich ihn vor die Tür setzen müssen, aber wenn es so gewesen sein sollte, ne, dass ne Kündigung notwendig wurde, denn das habe ich ja gemeint, falls du die Redewendung noch nicht kennst, wer weiß das schon, ne. Wenn ich jemanden entlasse, habe ich immer einen triftigen Grund dazu, das ist natürlich klar!“

      „Dann schauen wir doch mal, ob du recht behältst“, schmunzelte Nathanael, zoomte, ließ das alte Video verschwinden, tippte eine kryptische Zahlen-Buchstaben-Kombination ein und startete ein neues Video. „Martin mit seiner Familie. Am gleichen Silvesterabend in der Zukunft.“

      Ein blaues Haus erschien auf dem Bildschirm, davor ein Jägerzaun mit einem Rosenbogen über dem Gartentor. Schräg vor dem Haus stand eine große Tanne. An der anderen Seite des Hauses grenzte eine hohe Hecke das Grundstück zum Nachbarn ab. Im Erkerfenster im ersten Stock stand ein Windlicht mit einer flackernden Kerze, und der Carport wurde von einer Lichterkette eingefasst. Die Haustür, an der ein Adventskranz hing, schwang auf und führte die Betrachter durch den Flur in das Wohnzimmer. Im Kamin knisterte ein Feuer. Die Wärme war fast durch das Video spürbar. Auf dem Couchtisch stand ein halb aufgegessenes Käsefondue. Die Bewohner beachteten es nicht mehr. Drei von ihnen saßen auf dem Sofa und starrten auf den Hausherrn, der mit Gesten versuchte, einen Begriff verständlich zu machen. Was die anderen rieten, konnte Thomas nicht hören. Nathanael hatte den Ton ausgestellt.

      „Und, sieht so eine verhärmte, unglückliche, arme Familie aus?“

      Thomas schüttelte den Kopf und blickte nachdenklich auf das Tablet. Sein alter Freund ging gerade lachend zum Sofa zurück und klatschte sich mit seiner Frau ab. Ein jüngerer Mann stand auf und griff in eine Schale mit Zetteln. War das der Sohn? Thomas erinnerte sich vage, dass Martin einmal etwas von einem Kind erzählt hatte. Doch ob das ein Junge oder ein Mädchen gewesen war, konnte er nicht mehr mit Sicherheit sagen. Vielleicht war ja auch die Frau, die sich gerade von einem gähnenden Mädchen ein Bild zeigen ließ, die Tochter. Obwohl, die Ähnlichkeit war beim Mann eher vorhanden.

      „Ich wusste gar nicht, dass seine Frau noch lebt“, sprach Thomas den Gedanken aus, der ihm im Kopf herumspukte. „Sie war krank und irgendwie dachte ich immer …“

      „... dass sie gestorben ist, ich weiß“, ergänzte der Engel. „Thomas hat dir damals von seiner Verzweiflung erzählt. Von ihrer Krankheit, dass keine Therapie anschlagen wollte. Und weißt du noch, was du geantwortet hast?“

      Thomas schüttelte den Kopf.

      „Du hast gesagt: Wir sind hier beim Tennis. Und weißt du, was der Sinn hier ist, ne? Doch ganz bestimmt nicht, nach den Problemen in der Arbeit, für die wir nach langem Ringen wirklich erfolgreiche, ja geradezu bahnbrechende Lösungen gefunden haben, ne, wie schon bald auch der Letzte erkennen wird, jetzt hier die nächsten Probleme zu wälzen, für die es keine Lösung gibt. Wir sind hier, um den Kopf frei zu bekommen. Und wenn du mit dem Kopf ohnehin zu Hause bist, denn das scheinst du ja zu sein, wenn du die ganze Zeit von deiner Frau und ihren Therapien erzählst, ne, dann kannst du das nächste Mal auch deinem Kopf folgen und nach Hause gehen“, zitierte der Engel den etwas jüngeren Thomas. „Das war vor zwei Jahren. Danach seid ihr nie wieder gemeinsam beim Sport gewesen. Du hast dir andere Tennispartner gesucht, die weniger geredet haben und dir geduldiger zugehört haben. Martin hat nie wieder von seiner Frau erzählt. Und du hast nicht gefragt.“

      Nathanael schaute zu dem Mann, der zusammengesunken auf dem Bett hockte und das Standbild auf dem Tablet anstarrte. Es zeigte Martin und seine Frau. Beide lachten, weil das Mädchen eine Luftschlange auf sie pustete.

      „Ich habe niemanden?“, fragte er schließlich den Engel.

      „Niemanden“, bestätigte dieser. „Niemand kommt zu dir, ohne dafür bezahlt zu werden.“

      „Dann kann mich auch wenigstens keiner stören. Unterbrechungen in Gedanken sind, wie du sicherlich ja schon in deinen Vorbereitungen gemerkt hast, ne, denn man wird dich ja nicht ohne Briefing auf mich losgelassen haben und du hast ja schon von Kollegen erzählt, ne, die bei mir waren. Ich bin auf dem Weg zur Vollkommenheit. Und wenn ich dann so abends dasitze, mit Wasser oder mal auch mal einem Gläschen Wein, ne, bei Kerzenschein, ganz so, ne, wie man sich das vorstellt, dann ist das in Ordnung.“ Selbstzufrieden lehnte Thomas sich zurück.

      Nathanael sah ihn an. „Weißt du, wie alt du in dem Video bist?“

      Thomas zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Wenn ich jetzt mal bedenke, dass ich gute Erbanlagen habe, mein Großonkel, ne, der ist 102 geworden, und meine Tante, Tante Margot, ne, die lebt zwar in einem Pflegeheim, aber erst letzte Woche hat sie einen neuen Rekord aufgestellt, ne. Ihre bekannte Strecke, oben, der Gang, einmal um den Innenhof herum, ne. Ich sage dir, die Frau war besser unterwegs als in ihren besten Zeiten. Eine Minuten und 25 Sekunden, ne, für den ganzen Weg. Da war sie bisher nur ein Mal schneller, aber das ist schon Jahre her. Wenn ich das also mal für mich überdenke, ne, dann rechne ich schon damit, dass ich die nächsten dreißig oder vierzig Jahre noch aktiv unterwegs bin, Reisen, Bildung, ne, ...“

      „Ich will es dir sagen“, unterbrach Nathanael den Redefluss. „Im Video bist du 68 Jahre alt. Das, was ich dir vorhin gezeigt habe, erlebst

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