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Danach setzte sie sich auf eine Bank im Garten der kleinen St. Paul-Kirche neben Covent Garden. Die Spatzen taten es ihr gleich und wärmten sich in der Oktobersonne. Draußen hinter dem gusseisernen Gitter summte und lärmte die große Stadt. Olivia auf ihrer Insel sah den Vögeln zu und dachte nach. Eine ganze Weile, als sie jedoch die neugekauften Karten ausbreiten wollte, fand sie, dass man das doch besser in geschlossenen Räumen tat und stand auf, um nach Hause zu fahren.

      ⋆

      »Ringel, ringel Reihe, sind der Kinder zweie, tanzen unterm Hollerbusch…« sang Olivia gedankenverloren vor sich hin, während sie den Schlüssel aus dem Haustürschloss zog. Sie hielt ein, als Leonard die Treppe herunterkam: »Sind zwei nicht etwas wenig?« erkundigte er sich.

       »Wenig, wozu?«

       »Zum Ringelreihen tanzen. Ich stelle mir vor, dass sie sich leicht gegenseitig auf die Füße treten könnten.«

       »Schon möglich. Pierre Hobart sieht auch immer ganz viele um sich herumtanzen. Und einer von den vielen muss Charlotte Hewitt erschlagen haben, während die anderen sich gerade losgelassen hatten, um die eigene Achse zu wirbeln. Als alle sich erneut bei den Händen fassten, war er wieder dabei und tanzt seitdem weiter Ringelreihen wie sie alle.«

       »Ich sehe, der junge Mensch hat dich zum Detektivspielen verleitet. Leider ist es gefährlicher als Ringelreihen tanzen.«

       »Nicht unbedingt. Charlotte Hewitt kam beim Tanzen ums Leben.«

       »Wann willst du fahren?«

       »Morgen nach dem Lunch. Am Vormittag möchte ich mich noch mit Norfolk befassen, damit die Journalistin wenigstens Material für einige Essays in der Mappe trägt, wenn die Detektivin ergebnislos zurückkommt. Heute Abend würde ich gern mit dir vor dem Feuer sitzen und reden.« Und das taten sie dann auch.

      Kapitel 4

      Am späten Mittag des nächsten Tages rollte Olivias alter Saab aus der Garage und bald danach die Old Brompton Road hinauf. Über dem Hyde Park lag ein leichter Dunstschleier und die Blätter rieselten von den großen Bäumen auf die Reiterwege neben der Straße. Sie schluckten das Geräusch der Pferdehufe; und sogar die Rufe der spielenden Kinder wirkten leiser als im Sommer. Auch im Regent's Park fielen die Blätter an diesem windigen Tag reichlich und Olivia fuhr umstandslos am Gloucester Gate hinaus und durch Camden Town nach Nordosten. Auf der M 11 gab sie Gas und schoss hinaus in das freie Land, so schnell es ihr altes Auto fertigbrachte. Die Landschaft neben der Autobahn war flach und eintönig, alte Kirchtürme und einzelnstehende Baumriesen ragten wie Landmarken darüber auf. Dahinter gab es für die Augen kein Halten mehr in der weißschattierten Ebene, die kurz vor der Unendlichkeit mit dem wolkengrau gemusterten Himmel zusammenstieß. Diese Berührungslinie fesselte die Augen und drohte die Konzentration in etwas Diffuses aufzulösen, durch das gelegentlich ein fester Punkt sauste. Olivia zwang ihre Aufmerksamkeit auf die vorbeiwischenden Punkte zurück und war erleichtert, als rechts neben der Autobahn die bewaldete Hügelgruppe auftauchte, in die eingebettet Audley End lag. An ihr fand das wandernde Auge wieder Halt. Zum ersten Mal war sie als kleines Mädchen mit dem Kanu dort gewesen, mit ihrem Vater auf dem Flüsschen Cam hierher gepaddelt. Unter einer engen steinernen Brücke hindurch waren sie in den Park von Audley End geschossen. Ihr Vater hatte das Boot ans Ufer gesteuert und sie erinnerte sich an ein Picknick mit den Füßen im Wasser, an eine ausgedehnte leicht ansteigende Wiese am gegenüberliegenden Ufer und an ein goldenes Schloss, das zwischen Wiese und Himmel in dem beginnenden Abend geruht hatte. Seitdem sahen fast alle Schlösser in den Märchen, die Olivia hörte oder las, diesem elisabethanischen Landsitz in der untergehenden Sonne irgendwie ähnlich. Vor einigen Jahren war sie mit Leonard dort gewesen und hatte Fluss, Wiese und Schloss überraschend unverändert wiedergefunden. Die großen Fenster in der honiggelben Fassade schienen sich wie weit geöffnete Augen dem sich nähernden Besucher entgegen zu neigen und ihn willkommen zu heißen. Eine solche in Stein errichtete Empfangsbereitschaft spürte sie bei vielen Herrensitzen aus dieser Zeit.

       Bei der nächsten Ausfahrt wechselte sie auf die Landstraße und rollte ziemlich geradewegs auf ihr Ziel zu. Sie fuhr am Rand von Thetford Forest entlang. Im Gegensatz zu dem Wald um Audley End, der auf sie wie ein Einsprengsel deutscher Romantik in die karge Weite von Cambridgeshire wirkte, streckte sich dieses Waldgebiet über eine ausgedehnte, sandige Ebene licht dahin. Hinter Thetford bog sie nach Norden ab, hinter Dereham wurde die Landschaft hügeliger, die Straßen kurvenreicher, Baumreihen schlossen sich über ihr und gaben hinter der nächsten Kurve den Himmel wieder frei. Hecken rahmten die Felder und unerwartet sah sie von einer Kuppe in der Ferne das Meer. Die schmale Straße senkte sich erneut zwischen die Hecken, beschrieb so viele Kurven, dass man schließlich die Orientierung verlor, und führte zu einer Gabelung, die Olivia vor die überraschende Alternative stellte, nach Windermere Grove oder Windermere Market einzubiegen. Es war Ende Oktober, die Dämmerung hatte seit einer Weile eingesetzt, deshalb entschied Olivia sich für die erste Möglichkeit und bog in die linke Straße ein. Bevor das beklemmende Gefühl, das der Wegweiser in ihr ausgelöst hatte, die Oberhand gewinnen konnte, parkte sie neben dem Gemeindehaus und stieg aus.

       Die Hauptstraße beschrieb hier einen Bogen, so dass sie sich auf beiden Seiten ziemlich rasch dem Überblick entzog. Direkt ihrem abgestellten Auto gegenüber führte eine schmale Straße scheinbar aus dem Dorf hinaus, dabei querte sie den Fluss. Das musste die Stelle sein, an der Charlotte Hewitt ermordet worden war. Olivia ging darauf zu. Rechts neben der Straße, einen kühnen Sprung höher, lag eine gepflegte Rasenfläche mit zwei Bäumen, einer Bank und einer alten roten Telefonzelle, dahinter reihte sich eine Folge kleiner Häuser mit Gärten und Zäunen davor; linkerhand lag ungenutztes Grünland. Am diesseitigen Flussufer reihten sich Holunderbüsche, gegenüber standen große Laubbäume. Die Straße senkte sich zum Fluss und unter die Bäume, die letzte Laterne stand oben an der Hauptstraße und ließ die Furt noch finsterer wirken, als sie war. Olivia trat auf die Holzbrücke, sie war schmal, keinen Meter breit und doch fiel der Flusslauf unter ihr deutlich wahrnehmbar ab und das Wasser gewann so viel Schwung, dass es gleich danach eine Steilwand ausgewaschen hatte. An diesem verborgenen Platz hockten zwei Buben, jeder mit einem langen dünnen Stock in der Hand, den sie wie Angelruten ins Wasser hielten. Als Olivia stehen blieb, standen sie auf, grüßten höflich und trollten sich über die Brücke und quer über den Rasen davon. Die Detektivin wider Willen ging schließlich weiter, denselben Weg, den Pierre Hobart genommen hatte, um Hilfe zu holen. Da in dieser Gegend alle Wege krumm waren, konnte sie von der Pforte des Arzthauses die Furt bereits nicht mehr sehen. Sie lernte die Sprechstundenzeiten auswendig, warf einen Blick über Haus und Garten, der einen inneren Zusammenhang mit ihrer Generalstabskarte herstellte und drehte sich um. Gegenüber führte eine einigermaßen steile Straße zur Kirche hinauf. Olivia folgte ihr. Von der Pforte in der Kirchhofsmauer konnte man das Arzthaus noch sehen, vom Eingang zum Pfarrhaus, das sich etwas zurückgesetzt anschloss, schon nicht mehr. An der anderen Straßenseite führte eine gepflegte Weißdornhecke entlang, die gewaltigen Rhododen-dronbüsche dahinter konnte sie in der wachsenden Dämmerung gerade noch erkennen. Auf dem kurzgeschnittenen Streifen Rasen zwischen Hecke und Asphalt eilte Olivia bis zur Einfahrt des Herrenhauses: Die kiesbestreute Auffahrt wurde auf beiden Seiten von einem schmalen Streifen Rasen begleitet, seinerseits abgeschlossen von der fortlaufenden Weißdornhecke, hinter ihr standen in regelmäßigen Abständen große Ulmen. Auch die Einfahrt beschrieb sehr bald eine Kurve und das neugierige Auge wurde vom Weißdorn gebremst. Für den Augenblick gab sie sich geschlagen, ging die wenigen Meter zurück bis zur Landstraße und blieb noch einmal stehen. Dorfauswärts lag in einiger Entfernung auf der linken Seite eine Farm, die sich in der Dunkelheit zu verlieren begann, davor am Straßenrand parkte ein alter Landrover mit einer grünen Plane über der Ladefläche. War sie grün oder eher grau? Ganz sicher war es inzwischen ziemlich finster geworden. Olivia sah hinunter zur Furt, die Mordstelle lag im Schatten mehrerer Bäume. ›Wie hell war es Mitte Juli um zehn Uhr abends?‹ überlegte sie, während sie darauf zuschritt. Vielleicht um ein weniges heller als jetzt, vielleicht aber auch nicht. Sie trat auf die Brücke, als sie hinter sich ein Auto kommen hörte. ›Das ist das erste, seit ich ausgestiegen bin,‹ ging es ihr durch den Kopf, ›soweit hat Laureen Recht.‹ Es war der alte Landrover, er rollte sehr langsam durch das Wasser und der Fahrer musterte Olivia sehr genau, sie konnte von ihm nur vage Umrisse erkennen.

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