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Vielleicht hat beides zusammengespielt.«

       »Wissen Sie seinen Namen?«

       »Nein.«

       »Und seine Adresse hier in Norfolk natürlich auch nicht?«

       »Nein!«

       »Was für ein uninteressanter Mann das sein muss. Trotzdem war er so stark, sich in ein karges, wildes, einsames Land so dramatisch zu verlieben, dass er seiner Heimat den Rücken kehrte und seine Existenz am anderen Ende der Welt aufbaute.«

       Olivia bohrte ihren Blick in die Undurchdringlichkeit der grauen Welt den Weg voraus. Sie waren im Reden nicht sehr schnell gegangen und doch glaubte sie, das Meer zu riechen. Sie hörte Möwenschreie, hatte sie wohl die ganze Zeit schon gehört ohne ihnen Beachtung zu schenken, doch sie klangen, als hätten die Vögel ihre Schnäbel in Tondämpfer gesteckt. Ihre Instinkte wehrten sich gegen diese herabgedämpfte Einsamkeit. »Wie weit ist es noch bis ans Meer?« wandte sie sich an ihren Begleiter.

       »Ein paar hundert Meter. Bei klarerem Wetter hätten Sie es die ganze Zeit über gesehen.« Sie gingen weiter.

       »Haben Sie und Mr Hobart-Varham noch weitere Engländer aus Ihren Erinnerungen gegraben, die auf der Schaffarm seines Vaters vorbeikamen? Übrigens, gibt es diese Farm noch?«

       »Es gibt sie noch. Dicks älterer Bruder hat sie übernommen – ein Engländer ist uns im Zusammenhang mit Jonathan tatsächlich eingefallen. Jonathan hat ihn irgendwo in unserer Gegend getroffen und mitgebracht; ich war schon weg, Dick aber erinnert sich vage: John hieß er wohl, er war einige Jahre älter als Jonathan, kam aus der gleichen Gegend hier in Norfolk und war im Auftrag einer englischen Handelsgesellschaft seit zwei Jahren oder etwas mehr oder weniger in Südafrika tätig. Die zwei oder genauer die drei haben sich dann wohl in Johannesburg wiedergetroffen.«

       »Hat John auch einen Nachnamen?«

       »Keinen, den wir noch wüssten.«

       »Vielleicht erinnert sich Mr Hobart-Varhams Bruder genauer?«

       »Dazu kann ich nichts sagen.«

       »Warum ist er denn überhaupt im Gedächtnis hängengeblieben?«

       »Er hatte entscheidenden Einfluss auf den Lebensweg von Jonathan. Die beiden gingen von Südafrika gemeinsam nach Kanada, ohne Umweg über England. Dieser John wurde von seiner Firma dorthin versetzt, glaubt Dick sich zu erinnern. In Kanada blieben sie zusammen, Jonathan beendete sein Jurastudium und arbeitete als Jurist viele Jahre in Kanada, bevor er nach Schottland ging und schließlich nach Norfolk zurückkam. Dieser John ist wohl nach einigen Jahren in Kanada gestorben.«

       Sie standen am Meer. Der weiße Dunst, der kein Nebel war, begrenzte das Gesichtsfeld und schlich sich wie eine kalte Spinne Olivias Rücken hinauf. Die Möwen schwiegen gerade. Nur die kleinen Wellen kamen mit rhythmischer Gleichmäßigkeit unter den Schleiern hervor wie die Pfoten verspielter Katzen unter einem Vorhang. Beide schauten ihnen zu.

       Schließlich sprach Stanley Parnell in die Stille: »In Afrika, am Rand der Kalahari, ist es zwischen Mittag und Nachmittag so still, als würde sich alles Leben von den Anstrengungen des Daseins befreien. Für die Buschmänner sind das die Stunden des Todes, die Spanne, in der die Geister der Ahnen aus den Gräbern erstehen und als bleiche Schatten herumstreichen.«

       »Und wofür steht die Nacht…«

       »Sie ist die Zeit der Jagd, der Gefahr und der erhöhten Aufmerksamkeit. Die Nächte sind so schwarz, dass man fast nichts sieht. Man fühlt das Land, das man nicht sieht, um sich herum hingestreckt und begreift, dass man ein Weißer ist, ein Außenstehender, denn man hat vergessen, was man am Tage sah, weil man sich zu sehr auf die Augen verließ. Die inneren Augen und vor allem die Füße haben die kleinen Mulden, hervorstehende größere Steine, die einzelnen Sträucher nicht aufgezeichnet, die jetzt zur Orientierung nötig wären. Man hat kein Gefühl für Entfernungen, nicht einmal für die Richtung, aus der die einzelnen Geräusche der Nacht kommen. Das wirft einen vollständig auf sich selbst zurück und gleichzeitig empfindet man dieses Selbst als vollständig fremd – auch hier kann einem Ähnliches widerfahren. Nur ist dieses Land nicht gefährlich und auch nicht wirklich weit.«

       Sie schauten den Wellen noch eine Weile zu, schließlich wandte Olivia ihren Blick zu ihrem Begleiter. Der verstand: »Wir sollten uns wieder bewegen, bevor die Kälte unsere Beine bewegungsunfähig macht, nicht wahr? Leider müssen wird denselben Weg zurückgehen, den wir gekommen sind.«

       »Bei dieser eindrücklichen Nicht-Aussicht ist das kein großer Verlust.« Olivia kehrte zögernd dem Meer den Rücken. Die kleinen Wellen schienen ihr mit einem Male wie Verbündete in Feindesland. Am liebsten hätte sie laut geschrien oder wäre den Strand entlang gerannt. Vielleicht würde das wenigstens die Möwen aus ihrer Ruhe schrecken. Stattdessen passte sie ihren Schritt dem von Stanley Parnell an und nahm den biographischen Faden der Hobartschen Familie wieder auf: »Anwalt Hobart ging also von hier nach Südafrika, direkt weiter nach Kanada und Schottland, bevor er schließlich heimkehrte, sozusagen. Haben Sie eine Vorstellung, wann das gewesen sein könnte?«

       »Ich bin 1981 hierhergekommen, er dürfte sechs bis acht Jahre später gekommen sein.«

       »Was war der Grund?«

       »Warum fragen Sie mich das? Ich glaube, sein Vater war gestorben und er trat sein Erbe an.«

       »Sie haben ihn nie aufgesucht, obwohl er der Vetter ihres besten Freundes ist und noch fast in der Nachbarschaft wohnt?«

       »Nein, ich sah nie eine Veranlassung dazu. Ich persönlich kannte ihn ja nicht.«

       »Und Sie wollten nicht mit jemandem über Afrika reden?«

       »Warum sollte ich mich ihm aufdrängen.«

       »Warum kamen Sie denn ausgerechnet nach Norfolk?«

       Mr Parnell warf ihr einen leicht belustigten Blick zu: »Sie wollen mir aber nicht erklären, dass auch das noch mit Pierre zu tun hat, oder?« Als Olivia ihn abwartend anschaute, gab er sich geschlagen: »Norfolk ist landschaftlich relativ weit und menschenleer…«

       »Das kann man wohl sagen«, murmelte sie vor sich hin.

       »…das Leben hier ist nicht allzu kostspielig und London liegt gerade noch in Reichweite.«

       »Es spielte keine Rolle, dass es das Land der Vorfahren ihres Freundes war?«

       »Nicht dass ich wüsste. In dem Fall hätte ich Jonathan wahrscheinlich auch heimgesucht. Glauben Sie nicht?« Seine Belustigung hielt an.

       »Was machen Sie denn den ganzen Tag in dieser Einöde?«

       »Ich arbeite für die Buschmänner. Das ist mein Beruf geblieben.«

       »Ist ja toll! Und wie sieht das aus?«

       »Nun, es gibt einige Organisationen, die sich für die Rechte der Buschmänner stark machen oder nach Kompromissen zwischen deren Lebensform und der ihnen fremden Welt suchen, die mit Bergwerken und Gruppen sesshafter Viehzüchter auch in die Kalahari vorrückt. Noch sind die meisten Buschmann-Gruppen Nomaden, die sich bei jedem Auftauchen fremder Gruppen erneut in unbewohnte Gebiete zurückziehen. Doch irgendwann wird das nicht mehr möglich sein, außerdem ist diese Verdrängung alles andere als eine gute Lösung. Einige der Organisationen sitzen in London und nehmen meinen wissenschaftlichen Beistand in Anspruch. Ich bin an der aktuellen Diskussion beteiligt geblieben, es gibt also Forschungsaufträge und Kongresse. Sie kennen diesen Betrieb?« Als Antwort erfolgte ein Nicken und er ergänzte: »Ich fahre in der letzten Zeit hin und wieder zu Gesprächen mit der Regierung nach Botswana, wo man in der Folge des Diamantenreichtums auch soziale Projekte wie eine Schule und eine Gesundheitsstation für Buschmänner einrichten will. Wie man die freien Menschen an solche festen Stationen binden kann, ist mir äußerst unklar, aber diese Fragen führen uns hier endgültig ins Abseits.«

       »Ja, leider.« Olivia sah Parnells Zaun im Dunst auftauchen: »Eine andere abseitige Frage: Wie komme ich in die Kirche von Paston?«

       »Hoffen Sie, dass der Mörder dort ins Gebet versunken ist?«

       »Nein, ich interessiere mich auch noch für andere Dinge.«

      

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