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Ganz am Anfang machten wir einen ausgedehnten Spaziergang in Windermere Grove. Er zeigte mir, welches Land einst seiner oder unserer Familie gehörte und welches noch heute in ihrem Besitz ist, wenn auch verpachtet. Dabei lernte ich Farmer Culley kennen. Und zwei oder drei Mal habe ich allein große Spaziergänge durch die Gegend gemacht, wenn Onkel Jonathan sich doch mal ausruhen musste.«

       »Haben Sie viel miteinander geredet?«

       »Unterwegs nicht so sehr, da sprachen wir vor allem über das, was wir sahen und wenn es nichts zu sagen gab, schauten wir uns um. Gelegentlich fiel einem allerdings etwas ein und dann redeten wir natürlich. An den Abenden im Herrenhaus haben wir unausgesetzt geredet, hier in meiner stillen Umgebung habe ich mich gefragt, wie das möglich war, schließlich hatten wir uns ja nicht sehr gut gekannt. Aber er kann so ausgezeichnet Gespräche führen und interessante Fragen stellen, dass ich im Grunde schon in London zu vergessen begann, wie fremd er mir hätte sein sollen. Vielleicht lernen Sie ihn kennen, wenn Sie nach Norfolk fahren, es lohnt sich. Sicher kann er Ihnen auch Geschichten über die Gegend erzählen, die Sie sonst nirgends hören, so etwas suchen Sie doch, nicht wahr?«

       »Ja, richtig. Lady Gaynesford legte mir so etwas Ähnliches auch schon ans Herz.« Sie sah Laureen voll an. »Wenn Sie beide dasselbe meinen, versuche ich es am Ende wirklich – wie ist der Kontakt zwischen Ihrem Onkel und Ihrem Vater?«

       Pierre Hobart dachte nach, schließlich formulierte er: »Locker, aber konsequent – so weit ich zurückdenken kann, kam immer um den Jahreswechsel herum ein Brief mit den wichtigsten Nachrichten der vergangenen zwölf Monate. Mein Vater macht es genauso. Seit Onkel Jonathan Windermere Grove geerbt hat, kommen auch zwischendurch Nachrichten, die den Besitz betreffen. Er hat keine Kinder, was bedeutet, dass mit ihm die englische Familienlinie ausstirbt. Der Besitz fällt dann an meinen Vater oder seine Kinder. Ob die beiden Vettern in ihrer Korrespondenz konkretere Pläne entwickeln, habe ich nicht die leiseste Ahnung. Dieser ganze Bereich ist mir erst hier in dieser übertriebenen Ruhe in den Sinn gekommen.«

       »Sie haben in Norfolk nicht darüber geredet?« Es überraschte Olivia, ohne dass sie hätte sagen können warum.

       »Nein, darüber sprachen wir nicht.«

       »Wundert Sie das heute?«

       »Bisher nicht, aber wenn Sie weitermachen, tut es das am Ende noch.«

       »Dann lassen wir es lieber ruhen – haben Sie Geschwister?«

       »Das nennen Sie einen Themenwechsel?« fast hätte der junge Mann gelacht. »Ja, ich habe zwei jüngere Schwestern. Vielleicht wird eine in zwanzig Jahren Herrin von Windermere Grove, man kann es scheinbar nicht wissen. Auch darüber kann ich jetzt nachdenken.«

       »Ich dachte, Sie sind der Älteste?«

       »Ja und?«

       »Damit würden Sie, wenn Ihr Vater nach dem Tod von Jonathan Hobart auf seinem Weingut am Kap bleiben will, der Erbe von Windermere.«

       »Du meine Güte, Sie glauben doch nicht im Ernst, ich würde nach England kommen? Mir gefällt Norfolk, wirklich, aber ich bin am Kap zuhause! Sie produzieren wirklich die verrücktesten Probleme.«

       »Das ist schön, dann lasse ich wenigstens nicht nur Frustration zurück. Aber ich habe den Eindruck, ein wirklich anregendes Thema ist das für Sie auch nicht – kann ich Ihnen Bücher bringen? Über Obstanbau, über internationalen Handel – was weiß ich. Dann müssen Sie nicht ausschließlich in Ihren Gedanken spazieren gehen.«

       »Ist das Ihr Ernst?«

       »Sicher. Ich meine immer, was ich sage. Schicken Sie mir eine Liste, der Auftrag wird umgehend ausgeführt.« Olivia lächelte: »Hoffentlich kann Ihnen das wirklich helfen, ich fürchte, ich gehe zu sehr von mir aus, Bücher würden mir diese Lage allenfalls erträglich machen. Hier ist meine Adresse«, sie gab ihm ihre Karte, »auch zu benutzen, wenn Ihnen doch noch etwas Interessantes einfällt, man kann nie wissen.« Sie stand auf.

       »Ja, mir fällt noch etwas ein! Verrückt, dass ich erst jetzt darauf komme.« Pierre Hobart hielt inne und sein Gesicht überschattete sich erneut. »Es ist genauso wenig wichtig wie alles andere.« Als er nicht weitersprach, setzte Olivia sich wieder und schaute ihn abwartend an. Er riss sich zusammen und brachte ein kärgliches Lächeln zustande: »Jetzt schauen Sie wieder mit diesem vielversprechenden Blick. Nun denn, mir ist eingefallen, dass ich einen Tag bei einem alten Freund meines Vaters verbracht habe. Allein, Onkel Jonathan nutzte den Tag zur Erholung. Es ist Stanley Parnell, er lebt in Paston sehr nah am Meer. Mein Onkel überließ mir seinen Wagen, was ich sehr großzügig fand. Er ist überhaupt sehr großzügig.«

       Es entstand eine Pause. »Wer ist Stanley Parnell?« half Olivia nach.

       »Er ist der älteste Freund meines Vaters, sie wuchsen beide dort oben nördlich der Karoo auf. Stanley kämpfte für die Rechte der Buschmänner, ohne jeden persönlichen Rückhalt. Er hatte in der Zeit, in der ich mich an ihn erinnere, eine gute Position im South African Museum in Kapstadt, wo er einer der Spezialisten für die Buschmänner war. Von seinen Zielen habe ich keine genauen Vorstellungen, er bekam zunehmend Schwierigkeiten und verließ angesichts der ständig ausgepichteren Apartheidsgesetze Südafrika, ich denke 1981. Seitdem lebt er in Paston und kann aus dem Fenster wieder das Meer sehen. Mein Vater blieb mit ihm in gutem Kontakt und seit Mandela Präsident wurde, kommt Stanley regelmäßig zurück nach Kapstadt. Aus Freundschaft zu meinem Vater besucht er mich hier im Gefängnis immer, wenn er in London zu tun hat.«

       »Und das fällt Ihnen erst jetzt ein!« staunte Olivia.

       »Ist das so unbegreiflich? Er hat mit dem Mord gar nichts zu tun! Und darum drehte sich doch unser Gespräch.« Er sah sie fragend an.

       »Sie haben Recht. Trotzdem hätte ich gern seine Adresse, wenn es Ihnen nicht allzu indezent vorkommt. Ausgerechnet Paston will ich auf alle Fälle aufsuchen, Virginia Woolf schrieb einen fabelhaft anregenden Essay über die Familie Paston – damit sind mir meine Pflichten wieder eingefallen!« Olivia sprang auf. Sie hielt noch einmal inne, um die Adresse von Mr Parnell aufzuschreiben, dann verabschiedete sie sich von dem Gefangenen mit der Zusage, die Ohren offen halten zu wollen und eilte so schnell, wie das Aufschließen und Zusperren der Gefängnistüren es ihr erlaubte, hinaus in die Freiheit.

      Kapitel 3

      Die nächsten Stunden verbrachte Olivia über den Akten zum Mordfall Charlotte Hewitt in Laureens Kanzlei im Temple. Währenddessen ließ Lady Gaynesford ein Zimmer im Old Brewery House Hotel in Windermere Market buchen, ab morgen, Dienstag. Sie telefonierte mit Anwalt Hobart und avisierte nebenher Miss Lawrence, Übersetzerin und Journalistin aus London, eine Freundin ihrer Schwiegermutter. Beim verspäteten gemeinsamen Lunch besprachen die beiden technische Einzelheiten. Sie waren sich einig, in engem Kontakt bleiben zu wollen. Laureen bestand mit ernster Beharrlichkeit auf einem täglichen Telefonat: »Sie dürfen nie vergessen, dass Sie sich mit einem Mord befassen. Gehen Sie kein Risiko ein, wenn Sie Gefahr wittern, dafür haben wir die Polizei. Mit konkreten Fragen kann ich die Beamten wieder auf den Weg schicken. Ein Mensch, der einmal gemordet hat, wird es wiederholen, wenn er sich entdeckt fürchtet – ich habe eine leichte, einfach zu bedienende Damenpistole; könnten Sie damit umgehen?«

       »Oh, Sie meinen, mit Schirm, Charme und Pistole? Nein, ich habe nie eine Pistole in der Hand gehabt und könnte sicher nicht damit umgehen, wenn ich Angst habe. Und Angst bekomme ich, wenn ich Ihren ernsten Blick sehe.«

       »Ich werde froh sein, wenn Sie heil zurück sind! Wollen Sie meine Pistole bestimmt nicht? Auch ungeladen kann sie nützlich sein.«

       »Nein, wirklich nicht. Ich muss mich auf meine ureigenen Möglichkeiten verlassen, die mir auch unter Stress zur Verfügung stehen. Theater spiele ich schon genug, indem ich Ihren Detektivauftrag annehme. Mehr kann nicht vernünftig sein.« Erstmals kroch die Gefahr, die in der Umgebung der Furt von Windermere Grove wartete, als Kälte über Olivias Rücken und sie begann die Sicherheit zu schätzen, die regelmäßiges Telefonieren ihr bot. Damit musste Laureen sich zufriedengeben, die vorübergehend mehr Angst um ihre Mitstreiterin hatte, als ihr lieb war.

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