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»…und um ein weniges schneller ging…«

       »Möglich.«

       »In dem Fall wäre er zum richtigen Zeitpunkt an der Brücke gewesen.«

       »Stimmt.«

       »Wie ging die Geschichte weiter?«

       »Wenige Minuten nach zehn, wir haben uns zwei, maximal drei Minuten vorzustellen, bog Mr Walter Ellis, Farmer aus der Nachbargemeinde, von der Hauptstraße in unsere Straße ein und sah in der Furt, schätzungsweise hundertzwanzig Meter vor sich, einen Mann über einen anderen Menschen gebeugt, so seine Worte. Er vermutete einen Unfall und eilte zu Hilfe.«

       »Sprachen Sie vorhin von einer mehr als ruhigen Straße?« für einen kurzen Augenblick saß Olivia das Lachen in der Kehle.

       »Ja, das tat ich. Aber damit meinte ich natürlich nicht, dass sie überhaupt nicht benutzt wird. Farmer Ellis«, fuhr Laureen ruhig fort, »berichtete, dass Pierre Hobart halb im Wasser kniete, das Gesicht der Frau war ihm zugewandt, ihr Kopf und Oberkörper lehnten gegen sein anderes Bein. Während der Farmer heranfuhr und aus seinem Wagen sprang, schaffte es Pierre Hobart, den Körper richtig zu greifen und aufzustehen. Er legte ihn unmittelbar hinter der Furt auf der rechten Seite der Straße ins Gras, bat den hinzugekommenen Ellis, ohne ihn genauer anzuschauen, bei der Frau zu bleiben, und rannte die Straße hinauf. Sein Weg war kurz. Im nächsten Haus, verborgen hinter großen Hecken, wohnt der Arzt und Ehemann der toten Frau, den er holte – das nun folgende menschliche Drama können wir uns vorstellen.« Laureen schwieg.

       Olivia sah über Leonards Schulter hinweg in den Garten, vor ihrem inneren Auge allerdings stand die Szene aus Norfolk. »Mal angenommen, Pierre Hobart wäre der Täter, hätte er zwischen dem Mord und der Szene, die Mr Ellis vorfand, nur sehr wenig Zeit gehabt, sich vom Tatort zu entfernen. Fand die Polizei die Waffe?«

       »Nein, das tat sie nicht. Dem gleichen logischen Faden folgend wie Sie durchkämmte die Polizei dorfauswärts das Gebiet, welches man laufend in zehn Minuten erreichen kann plus fünfzig Meter geschätzter maximaler Wurfweite. Es ist ein erstaunlich weites Stück Landschaft, das nach dieser Berechnung durchkämmt werden musste. Zwischen Furt und Dorf suchte man den Anger auf der einen Straßenseite und das Grünland auf der anderen ab, dazu den Fluss und seine Ufer und schließlich das halbe Dorf. Mancher hübsche Vorgarten hat gelitten.«

       »Aus diesem negativen Ergebnis könnte man den Schluss ziehen, dass der Mörder samt seinem stumpfen Gegenstand vom Tatort verschwunden war, bevor unser Mann dort auftauchte.« Olivia sah fragend zu Laureen hinüber. Sie stimmte schweigend zu.

       »Fand die Polizei irgendwelche Spuren an der Leiche selber, die aufschlussreich sind?« forschte Olivia weiter.

       »Keine.«

       »Gibt es Fußspuren? Angenommen, Mrs Hewitt war nicht so entgegenkommend, selbst kopfüber in die Furt zu fallen, muss der Täter, indem er nachhalf, nasse Schuhe bekommen haben. Die müssten eigentlich auf der Straße oder im Gras daneben Spuren hinterlassen haben?«

       »Die Polizei fand wieder nichts. Diesen Tatbestand wertet der Staatsanwalt übrigens besonders schwer.«

       »Gibt es in Norfolk nicht lebendigere Gespenster als im übrigen England? Vielleicht suchen wir überhaupt in der falschen Richtung«, schlug Olivia trocken vor.

       »Gespenster sind vor englischen Gerichten als Täter nicht zugelassen.«

       »Schade«, kommentierte Olivia, »jedenfalls für dieses Mal. Die kläglichen Indizien überzeugen mich ganz und gar nicht. Vielleicht hat Mr Hobart-Varham wenigstens ein eindrucksvolles Motiv!«

       »Er hat überhaupt kein Motiv.«

       »Fabelhaft! Ist schon jemand auf die Idee gekommen, es könnte ein Unfall gewesen sein?«

       »Diese Möglichkeit ist aufgrund des medizinischen Gutachtens auszuschließen.« Laureen wirkte weiter abwartend.

       »Lady Laureen!« Für einen Augenblick war Olivia ehrlich empört. »Man kann einen Menschen bei dieser Beweislage doch nicht verurteilen. Das ist völlig absurd!«

       Laureen blieb vollständig ruhig: »Der Angeklagte wurde mit der Leiche im Arm angetroffen. Ihr Tod war gewaltsam herbeigeführt worden und unmittelbar vor dem Auftauchen des einzigen Zeugen eingetreten. Der Angeklagte hat nach eigener Aussage niemanden gesehen, während er die Straße heraufkam, was mit der Tatsache übereinstimmt, dass die Polizei keine Fußspuren gefunden hat. Auch sonst gibt es keine einzige Spur von irgendwem, der mit Mrs Hewitt vor unserem Mann an der Furt zusammengetroffen sein könnte.«

       »Fand man Fußspuren von Mrs Hewitt und Mr Hobart-Varham, die auf die Furt zuführten?«

       »Ja, die fand man.«

       Olivia schüttelte so energisch den Kopf, dass ihre dunkelbraunen Haare mal wieder waagerecht in der Luft standen. Sie sah zu Leonard hinüber, der, entspannt zurückgelehnt, das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte. Ihr Blick hing kurzzeitig an den weiterhin murmelnden Flammen, bevor er zu dem Gast wanderte und ihn eindringlich musterte. Laureen erwiderte den Blick. Sie wartete ganz offensichtlich, dass Olivia das Gespräch wieder aufnahm. Endlich tat sie es dann auch.

       »Lady Laureen, warum sind Sie zu mir gekommen?«

       »Ich möchte Sie um Ihre Hilfe in meinem so rätselhaft-simplen Mordfall bitten!«

       »Du lieber Himmel, wie kommen Sie denn auf die Idee?«

       »Miss Lawrence, der Fall stellt sich vor Gericht so simpel da, wie ich ihn zusammengefasst habe, und es besteht die große Gefahr, dass er auf dieser ruhigen Schiene bis zur Verurteilung weiterfährt. Ich sehe es den Geschworenen an. Daran wird auch die schlichte Aussage von Pierre Hobart-Varham, er sei es nicht gewesen, nichts ändern. Ich bin seine Verteidigerin, ich muss entlastendes Material beibringen oder wenigstens überzeugende Argumente für seine Unschuld. Ich kann das aber nicht! Zum ersten Mal finde ich keinen einzigen Ansatzpunkt, um eine Gegenargumentation aufzubauen. Deshalb ist die scheinbare Tatsache des fehlenden Motivs ungefähr soviel wert, wie die Unschuldserklärung des Angeklagten. Nichts! Damit darf und kann ich nicht zufrieden sein.« Laureen rückte auf ihrem Sitz etwas vor und setzte sich sehr aufrecht, bevor sie fortfuhr: »Sie wissen so gut wie ich, dass Sie den Mord im Hause meiner Schwiegermutter aufgedeckt und ihr selbst damit das Leben gerettet haben. Oft haben wir über Ihre enorme Klarsicht gesprochen, über Ihre Unabhängigkeit, menschliche Beziehungen zu betrachten. Da ist es ganz natürlich, dass ich mich jetzt an Sie erinnere.«

       »London hat sicherlich viele hervorragende Privatdetektive.«

       »Richtig. Üblicherweise sind sie auch nützlich. Im vorliegenden Fall sprechen zwei Punkte dagegen. Wie Sie sich denken werden, habe ich mehrere Gespräche mit Anwalt Hobart geführt, gestern ein sehr eindringliches. Erstens sieht er keinen Ansatzpunkt für einen Privatdetektiv, weil wir keinen konkret zu formulierenden Auftrag haben. Zweitens will er nicht, dass der Fall wieder Dauergesprächsthema in Windermere Grove wird.«

       »Was ist das denn für ein Grund?«

       »Ernsthaft betrachtet, überhaupt keiner. Aber Sie kennen Anwalt Hobart nicht. Er ist konservativ in seiner Lebenshaltung, eng in seinem Blickwinkel und durchdrungen von der Vorbildfunktion des Adels; lebten wir hundert Jahre früher, wäre er Squire in seinem Dorf. Er hat mit dem Mord nicht mehr zu tun, als dass er mit dem Tatverdächtigen verwandt ist. Doch er hegt die Sorge, ihrem gemeinsamen Familiennamen könnte ein Makel angehängt werden.«

       »Aber daran ändert doch Totschweigen nichts.«

       »Nein! Er aber scheint zu hoffen, dass die Uhren in Norfolk anders gehen als in der übrigen Welt und die Leute diesen jungen Mann, der ja nur vorübergehend da war, einfach vergessen werden.«

       »Selbst wenn sie das täten, würden sie doch Charlotte Hewitt nicht vergessen!«

       »Das habe ich ihm auch begreiflich zu machen versucht, vergeblich. Wissen Sie, Mr Hobart ist sechsundsechzig Jahre alt, auf mich wirkt er um viele Jahre älter. Mein Vater kennt ihn beruflich, seit er 1989 zum ersten Mal einen Fall von ihm übernahm. Er hält ihn für sehr korrekt, aber etwas schwerfällig. Es ist denkbar, dass der Schock, seinen Verwandten und Namensträger in einen Mordfall,

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