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Meer. Wenig später legte sich der Sturm und als er sich umsah, war niemand mehr zu sehen, nur ein weißer Schleier über den kleinen Wellen, die friedlich an die Küste leckten – das ist seine Geschichte.«

       »Und was denken Sie dazu?« wollte Olivia wissen.

       »Was soll ich denken? Mein Kollege erzählte mir die Geschichte vor einigen Wochen und der ausgestandene Schrecken beutelte ihn erneut, obwohl das Erlebnis bereits Monate zurücklag. Ich weiß, dass er ein besonnener Mensch ist und ein guter Gärtner, der von den natürlichen Zusammenhängen allen Lebens weiß – hören Sie«, sie hob ihren linken Zeigefinger, »draußen ist es wieder ruhig geworden. Das sollte ich als Aufforderung annehmen, nach Hause zu gehen. Es war nett, dass Sie mir Gesellschaft geleistet haben. Ich bin sehr häufig abends hier, vielleicht habe ich noch einmal das Vergnügen, Sie zu einem Portwein einladen zu dürfen.«

       Mrs Bolton erhob sich und trat einige Schritte in den Raum. Im Aufstehen nahm Olivia Geräusche unter dem Tisch wahr. Zwei riesige dunkelgraue Doggen kamen unter der Eckbank hervor und stellten sich abwartend hinter ihre Herrin. Mrs Bolton, die schon im Sitzen nicht sehr groß gewirkt hatte, schien auf einmal noch kleiner. Das faltige Gesicht neigte sich noch einmal kurz vor Olivia, dann schritt die kleine Frau hinaus, nahezu lautlos gefolgt von den beiden gewaltigen Hunden. Noch in Olivias Gesichtsfeld griff sie in ihre Manteltasche, zog ein Schlüsselbund daraus hervor und eine Hundepfeife, die die Form eines glatten Metallröhrchens hatte. Dann fiel die Schwingtür des Speiseraumes hinter ihr mit leisem Rauschen in den Rahmen.

      Kapitel 6

      Entspannt von einem tiefen Schlaf schlüpfte Olivia am nächsten Morgen aus dem Bett und spähte zwischen den Vorhängen hinaus auf den Marktplatz. Die leuchtend gelben Bäume standen nahezu bewegungslos in dem fahlen Vormittagslicht, unter ihnen parkten mehr Autos als am Abend, doch viele waren es noch immer nicht. Ihrem Hotel gegenüber auf der anderen Seite des Platzes sah sie mehrere kleine Läden dicht gedrängt nebeneinander: Backwaren, Gemüse und Lebensmittel, weiter links folgten ein Pub und ein kleines Gasthaus mit einem großen Torbogen, an der linken Seite wurde die Aussicht von einem langen einstöckigen Haus abgeschlossen.

       Eine Stunde später stand sie in dem Bäckerladen und verlangte einige kleine Brotstangen und zwei Nussschnecken. Als sie sich mit ihren Tüten im Arm zum Ausgang wandte, stellte sie fest, dass sie genauso gut innen durch einen schmalen Gang mit Gemüsekonserven in den nächsten kleinen Laden gelangen konnte. Sie versorgte sich mit zwei Äpfeln und einer Birne und hatte derweil herausgefunden, dass sie auch hier durch einen Gang weiter in den Lebensmittelladen kam. Mit dunklen, sehr alt aussehenden Regalen an den Wänden entlang, enthielt er alles, was man für das tägliche Leben brauchen mochte bis hin zu einer umfangreichen Auswahl von Aromaölen für Potpourris. Die Engländer hatten eine Schwäche für diese Mischung aus getrockneten Blüten und Blättern, die sie in Schalen in ihren Häusern aufstellten. Wenn der ursprüngliche Duft nachließ, konnte man ihn mit den Aromaölen wiederbeleben. Olivia schaute sich begeistert um, sie liebte diese kleinen Vorratsinseln, die man in England immer wieder mal antreffen konnte. Im vierten der kleinen Läden ließ sie sich einige dicke Scheiben verschiedener Käse abschneiden, stellte zwei Tüten frischer Milch dazu und war für den Tag versorgt.

       »Ich komme mir fast wie im Schlaraffenland vor«, schaute sie die Verkäuferin munter an, »man findet immer noch einen schmalen Gang mit Regalen voll verführerischer Dinge, hinter dem sich ein weiterer Raum mit Essbarem auftut. Was von außen getrennt aussieht, gehört in Wahrheit zusammen?«

       Die etwas derbe Frau hinter der Theke hielt beim Käseschneiden inne: »Das war nicht immer so hier, wissen Sie. Früher waren das einzelne Läden und einzelne Häuser und kleine Kaufleute. Aber die Zeiten haben sich hier auch geändert. Die alte Mrs String war sehr tüchtig, Sie verstehen? Noch als ihre Tochter schon die Bäckerei und den Lebensmittelladen führte, hat sie von hinten mitgemischt. Heute gehört alles ihrer Tochter, auch die Häuser. Die Familie lebt sehr bequem da oben, stelle ich mir vor. Aber sie haben ja auch fünf Kinder, da kann man schon Platz gebrauchen, ist alles ganz in Ordnung. Nur war es halt schön, als dieser Milchladen noch meinen Großeltern gehörte.«

       Wieder auf der Straße schaute Olivia sich noch einmal um und fand sich wieder vor vier schmalen Häusern: Das erste eierschalenfarben gestrichen, das zweite hellblau, das dritte und schmalste, in dem man Gemüse und Obst bekam, war schwarz-weiß und das letzte und gewichtigste ziegelsteinrot. In ihm wurde noch immer Brot gebacken, wie ihr der Duft verriet. Er begleitete sie noch ein kleines Stück des Weges. Durch den Torbogen des Gasthauses, den sie aus ihrem Fenster gesehen hatte, gelangte man in eine schmale Straße mit Reihenhäusern aus dunklem Ziegelstein und zur Kirche. Langsam schritt sie an den Gedenktafeln im Innern entlang. Sie lasen sich wie eine Heldenchronik des Ortes, weit waren die Leute von hier aus in der Welt herumgekommen, auch wenn ihre Lebensgeschichte oftmals recht früh ihr Ende erreicht hatte. Nachdenklich ging Olivia weiter. Das einstöckige Haus, welches den Platz an dieser Seite abschloss, enthielt unter anderem die Gemeindebücherei, die konnte vielleicht noch nützlich sein. Neugierig las sie die Buchtitel hinter den beiden Fenstern und wurde tatsächlich überrascht: Dort stand eine Sammlung von Grimms Märchen, mit einem Nachwort herausgegeben von Charlotte Hewitt. Ob das dieselbe war, deren Leichnam Pierre Hobart in der Furt gefunden hatte? Sehr wahrscheinlich – so oft würde es denselben Namen doch nicht geben. Müßige Gedanken, sie müsste das fragen. Wann war die Bücherei das nächste Mal geöffnet? Mittwoch ab 16.00 Uhr, also heute Nachmittag. Damit konnte man etwas anfangen. Sie fühlte sich belebt, als hätte sie eine Entdeckung gemacht. Und der Anfang eines Anfangs konnte es immerhin sein. Entschlossen ging sie zu ihrem Auto, legte den Proviant auf den Rücksitz und zog die Karte von East Anglia aus der Tasche. Auf einmal war sie sicher, dass eine Fahrt nach Paston genau das Richtige für den heutigen Vormittag war, wenn man die Absicht hatte, mit dem Nachmittag noch etwas anderes anzufangen. Die längste Zeit konnte sie einer Straße mit einer vierstelligen Zahl folgen, so würde sie hoffentlich nicht all zu viele Probleme haben, ihren Weg zügig zu finden. ›Ich werde das Meer sehen,‹ prickelte es durch ihre Glieder, während sie den alten Saab über die gewundenen Straßen nach Nordosten steuerte.

       Die Landschaft wurde weiter und flacher. ›Wahrscheinlich könnte ich drei Tage vorausschauen,‹ sinnierte Olivia, ›wenn es nur nicht so verhangen wäre. Drei Tage voraus ist vielleicht schon das Nichts. Schließlich werden die Leute wissen, wovon sie sprechen, wenn sie sagen, Norfolk liege auf dem Weg nach nirgendwo. Was könnte das ›Nirgendwo‹ sein? Ein Loch auf dem Weg, groß genug, eine Kutsche zu verschlucken, wie es bei Virginia Woolf hieß… Doch der fragliche Weg führte vor mehr als fünfhundert Jahren durch das Moor, das war heute trockengelegt und die Straße asphaltiert. Ein Galgenbaum – so verwoben mit grauslichen Geschichten, dass sich niemand in seine Nähe wagt. Oder jener Raum zwischen Land und Himmel, den man nie erreicht, solange man auch unterwegs ist… Im Augenblick ist er gar nicht so weit weg, genau genommen dort hinten in der Kurve.‹ Olivia bremste. Hier war Knapton, sie musste durch den Ort hindurch und auf der anderen Seite weiter nach Paston, also bog sie nach rechts ab. ›…für einen Londoner könnte auch so ein abgelegener Ort das ›Nirgendwo‹ sein. Die John Paston, Vater und Sohn, hatten das vor fünfhundert Jahren schon so gesehen und den größten Teil ihres erwachsenen Lebens in der Hauptstadt verbracht. Sie konnten das tun, weil ihre Ehefrau und Mutter Margaret hier in Norfolk ausharrte und mit eiserner Hand und schwerem Herzen die Güter der Paston, nach denen heute noch der winzige Ort hieß, verwaltete. Das war zurzeit der Rosenkriege… die Woolf und die Pastons… Hoppla, da bin ich ja schon!‹

       Olivia hielt an. Klarer war die Fernsicht auf das Meer zu nicht geworden, für Paston allerdings reichte sie noch. Sie parkte ihr Auto in Sichtweite der Kirche und stieg aus. Der dicke Turm war aus Flintstein gebaut und hatte die alte Familie sicherlich gesehen, und umgekehrt. Sie strich um die Kirche herum, hinein kam sie nicht, leider, denn ihre Neugierde richtete sich auf die Grabplatten der Pastons im Innern. Nicht weit weg stand eine Scheune, die ebenfalls die Jahrhunderte und Nordseestürme überdauert hatte. Die Wände waren hoch hinauf gemauert und das Dachgestühl massiv gezimmert. Olivia schaute sich um, doch nicht sehr lange. Wachsende Unruhe mahnte sie an den eigentlichen Grund ihres Aufenthaltes in Norfolk. Sie war hier, um, vielleicht, Laureen zu helfen, und bisher unerkanntes Material über den Mord an Charlotte Hewitt zu finden, von dem diese Mauern überhaupt nichts wussten.

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