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Allein. Florian Wächter
Читать онлайн.Название Allein
Год выпуска 0
isbn 9783750232877
Автор произведения Florian Wächter
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Niemand nahm Notiz von dem kleinen Mädchen in den schwarzen Lackschuhen, das dort am Ende des Bahnsteiges waghalsige Gleichgewichtsübungen vollführte, obwohl die meisten in ihre Richtung blickten, denn beinahe jeder unterlag dem Phänomen, dass man seine Aufmerksamkeit unwillkürlich dorthin lenkt, woher man etwas - die U-Bahn in diesem Fall - erwartete. Vorausgesetzt man las nicht gerade eine Zeitung oder ein Buch, studierte den Fahrplan oder war mit sonst irgendwelchen wichtigen Dingen beschäftigt. Das Betrachten der schmutzigen Schuhe oder Reklametafeln etwa fiel in diese Kategorie.
Möglicherweise lag es auch daran, dass eine Dame in unmittelbarer Nähe stand, die in ein Taschenbuch vertieft war. Man konnte sie leicht für die Mutter des Kindes halten. Somit oblag es naturgemäß ihr dafür zu sorgen, dass dem Kind nichts zustieß. Nach dem Motto: „Das geht mich nichts an“, sah man einfach darüber hinweg. Man konnte sich heutzutage leicht die Finger verbrennen, wenn man es als Außenstehender wagte, sich in die Kindeserziehung einzumischen, denn manch einer nahm so etwas sehr persönlich. Da wurde man schnell als Nörgler oder Querulant bezeichnet. Ein Wort ergibt das andere, und eh man sich’s versieht, hängt man in einem Streit, der einem den ganzen Tag versaut oder zumindest Sodbrennen verursacht. Am besten war, sich rauszuhalten und zu hoffen, dass nichts passierte.
Ssss ... sss ... sss ... begannen die Schienen zu singen. Das Ohr hatte gewonnen! Doch jetzt warten wir noch auf das Licht!
Der Tunnel wurde heller und heller, doch die Pünktchen der Scheinwerfer konnte sie immer noch nicht sehen. Ein Windstoß von verdrängter Luft aus dem Tunnel erfasste Julias langes braunes Haar und wehte es spielerisch in alle Richtungen. Bei jeder anderen Gelegenheit wäre dies ein entzückender Anblick gewesen. Doch da war noch der...
Sie wischte sich mit einer Hand die Haare aus dem Gesicht und spürte, wie der Kristall in ihrem anderen Ärmel zu rutschen begann. Erschrocken tastete sie nach der Wölbung unter dem dünnen Stoff, schob ihn wieder in Position und klemmte ihn fest. Die herannahende U-Bahn war vergessen. Inmitten der Aufregung war Julia einen halben Schritt nach vorne gestiegen und stand nur noch einen Kinderschuh breit von der Kante des Bahnsteiges entfernt. Plötzlich tauchte die Fahrerkabine des Zuges wie ein Geschoss aus dem Zwielicht auf.
... der Zug! „Mein Gott, ... das Kind!“, gellte ein Schrei über den Bahnsteig.
Im selben Augenblick spürte Julia, wie sich eine Hand wie ein Schraubstock um ihre magere Schulter schloss. Nägel gruben sich in ihre Haut, und sie wurde mit einem kräftigen Ruck nach hinten gerissen - keine Sekunde zu früh! Die graue, metallische Masse floss haarscharf an dem Mädchen vorbei, wurde langsamer und kam schließlich zum Stehen. Julia wurde umgedreht und die Frau mit dem Buch - sie mochte ungefähr dreißig Jahre alt sein - starrte ihr mit weit geöffneten Augen ins Gesicht. Sie kniete auf am Boden und hatte ihre rechte Hand noch immer auf Julias Schulter liegen, in der Linken, die heftig zitterte, hielt sie ihr zusammengerolltes Taschenbuch wie einen Knüppel. Eine alte Dame hatte sich von hinten an die beiden vor Schreck starren Gestalten herangepirscht und begann lautstark zu zetern.
„Das hätte auch ins Auge gehen können, junge Frau“, meckerte sie mit zittriger Stimme, „Da müssen Sie besser aufpassen. Sie können das Kind doch da nicht spielen lassen. Ein Bahnsteig ist kein Spielplatz.“
Die junge Frau wandte sich zu der alten Dame um. „Das ist nicht mein ...“, wollte sie protestieren, doch die Alte war schon längst im Wagon verschwunden und hatte sich auf den nächsten Sitzplatz gestürzt und Platz genommen. Die restlichen Fahrgäste waren ebenfalls schon eingestiegen. Manche blickten in ihre Richtung und schüttelten erbost die Köpfe.
„Zug fährt ab!“, verkündete eine blecherne Stimme aus den Lautsprechern. Die Türen schlossen sich und der Zug verließ die Station. Julia und die Frau sahen der U-Bahn nach, wie die roten Rücklichter vom Schlund am anderen Ende verschluckt wurden, dann war es wieder ruhig. Die letzten Fahrgäste, die ausgestiegen waren, fuhren gerade mit der Rolltreppe hoch. Die Frau stand auf und löste die Hand von Julias Schulter. Ihr Blick fiel auf die Hand, mit der Julia den Ellenbogen und den Bergkristall unter dem dünnen Stoff krampfhaft festhielt.
„Hast du dir weh getan?“, wollte sie wissen. Sie dachte, sie hätte zu fest zugepackt. Julia schüttelte den Kopf. „Komm, zeig mal her“, blieb die Lebensretterin hartnäckig.
Julia wich einen Schritt von der Frau zurück und schüttelte erneut den Kopf. „Nein, mir ist nichts passiert“, trotzte sie.
„Aber dein Ellenbogen,... was ist damit?“, versuchte es die Frau nochmals, die nicht wissen konnte, was das Mädchen tatsächlich beschäftigte.
Panik machte sich in Julia breit. Wenn die Frau den Stein entdecken sollte, dann würde sie sicher wissen wollen, woher sie ihn hatte. Man würde ihn ihr wegnehmen … ihren einzigen Besitz!
Die Frau fixierte Julia und bemerkte, dass irgendetwas mit diesem kleinen Mädchen nicht stimmte. „Wo sind denn deine Eltern?“, fragte sie.
Julia machte wortlos auf dem Absatz kehrt und begann in Richtung Rolltreppe zu laufen. Die Frau rief ihr nach: „Wenigstens bedanken hättest du dich können, wer weiß was geschehen wäre, wenn ich ...“
Den Rest hörte Julia nicht mehr. Sie wollte nur weg von hier, so schnell und weit sie ihre kleinen Füße trugen. Egal wohin, ... nur nicht ins Heim zurück.
3.
Etwa zum gleichen Zeitpunkt, als der Kristall in Julias Ärmel zu rutschen begann und sie dadurch in diese lebensgefährliche Situation manövriert hatte, bimmelte das Glöckchen über der Geschäftstüre von Arturs Laden zum wiederholten Male an diesem Tag.
Er blickte zum Eingang und beobachtete, wie ein junger, breitschultriger Mann hereinkam. Dieser sah eigentlich sehr gepflegt und wirklich gut aus, wenn man die dicke Narbe an seiner linken Wange ignorierte, doch irgendetwas an seinem Verhalten kam ihm merkwürdig vor. Seine Bewegungen wirkten äußerst kontrolliert und Artur bemerkte sofort, dass er sich verstellte.
Ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.
Er hatte keine Ahnung, warum ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging. Während der Kunde auf ihn zukam, schweifte dessen Blick durchs Geschäftslokal, als wäre er auf der Suche nach etwas Bestimmten. Diese suchende Geste, die nicht länger dauerte als ein, zwei Sekunden, erinnerte Artur an eine Szene, die in amerikanischen Kriminalfilmen häufig vorkam, wenn ein Polizist einen Ort betrat, an dem ein Verdächtiger oder ein Zeuge befragt wurde. Derselbe Blick, die gleiche Körperhaltung, sogar der billige Konfektions-Anzug passte ins Bild. Nur der obligate Griff zur Polizeimarke fehlte noch.
„Grüß Gott, was kann ich für Sie tun?“, begrüßte Artur den merkwürdigen Kunden, der sich absolut nicht in die Reihen seiner sonstigen Kundschaft eingliedern ließ.
„Tag!“, erwiderte der Angesprochene einsilbig und musterte Artur von Kopf bis Gürtel. Mehr war von ihm nicht zu sehen. Der Rest verbarg sich hinter dem Verkaufstisch. Artur fühlte sich plötzlich unbehaglich. Seine Nase fing an zu jucken. Das tat sie immer, wenn er sich in seiner Haut nicht wohl fühlte, doch er unterdrückte das dringende Bedürfnis sich zu kratzen.
„Ich interessiere mich für einen ihrer Bergkristalle.“ Sein Blick war starr auf Arturs Augen gerichtet, während er sprach.
„Aber gerne, der Herr“, entgegnete Artur. „Wie hätten Sie ihn denn gern? Als Handstein, Pyramide oder vielleicht als Kette oder Anhänger, ich habe auch noch ...“
„Einen dieser Exemplare aus der Auslage“, unterbrach ihn der Fremde unfreundlich.
Ein Bulle, ich hab’s gewusst!
Das mit den Bergkristall-Rohspitzen war eine heikle Geschichte. Sollte es sich bei seinem Gegenüber wirklich um einen Polizisten handeln - und alle Indizien sprachen dafür -, dann war Artur geliefert.
Vor zwei Tagen, am Donnerstagnachmittag, war ein Geologie Student, Namens Georg Bäumler - den er allerdings nur flüchtig kannte -, zu ihm ins Geschäft gekommen und hatte