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dennoch setzte er noch einen der Bergkristall-Rohspitzen ab, sodass ihm nur noch eine letzte übrig blieb.

      Nach der Ladenschlusszeit blieb er noch lange in seinem kleinen Büro, einer Kammer, die kaum größer als die Toilette nebenan war, sitzen und schlief erschöpft über der Monatsabrechnung ein, ohne zu bemerken, dass sich die Welt um ihn herum zu verändern begann. Eine Verwandlung, die wahrscheinlich auch seinem Leben eine neue Richtung gegeben hätte, wenn er am nächsten Morgen vor das Geschäft getreten wäre und den neu angebrochenen Tag erlebt hätte. Doch er bekam unerwarteten Besuch.

      3 Die erste Nacht

      1.

      Lisa hatte den ganzen Nachmittag damit zugebracht, eine Erklärung für den Schlamassel zu finden, in dem sie sich befand. Doch je länger sie darüber grübelte, was mit ihr geschehen war, desto fantastischer wurden ihre Überlegungen. Keine kam ihr realistisch oder logisch genug vor, um sie akzeptieren zu können.

      Sie war knapp davor überzuschnappen. Einmal begann sie wie irre zu kichern, dann verfiel sie in Weinkrämpfe. Als sie sich wieder beruhigt hatte, nahm sie einen Block und einen Bleistift zur Hand und begann eine Liste zu schreiben.

      Sie hatte beschlossen mit ihrem Fahrrad - sie besaß weder ein Auto noch einen Führerschein - zu ihren Eltern nach Kärnten zu fahren, um die Lage in ihrer ehemaligen Heimatgemeinde zu peilen. Sollte sie dort auch keine Menschen antreffen, dann konnte sie immer noch überlegen, wie es weitergehen sollte. Ob sie nun hier in der Großstadt diese Katastrophe ausstand oder auf dem Land, erschien ihr nach längeren Überlegungen keinen großen Unterschied auszumachen. So würde sie sich wenigstens Gewissheit verschaffen, wie es um ihre Familie stand. Untätig herumzusitzen und zu warten, bis sich die Situation von allein verbessern würde, das kam für sie auf Dauer jedenfalls nicht in Frage.

      Die Fahrt, dessen war sie sich absolut bewusst, würde ziemlich beschwerlich werden, denn sie musste das halbe Land durchqueren. Und noch dazu bei dieser Affenhitze! Sie plante für die Reise drei Tage ein. Das war einigermaßen großzügig geschätzt, doch ihr Tagespensum hing nicht nur von ihrer Kondition allein, sondern auch von diversen anderen Begebenheiten ab, die sie im Vorhinein schwer abschätzen konnte. Immerhin hatte sie noch nie eine Strecke dieser Größenordnung, im Fahrradsattel sitzend, bewältigt.

      Gerade in dem Augenblick, als sie die Liste der Dinge fertiggestellt hatte, die sie auf ihre Reise mitnehmen wollte, begann der Krawall, der sich anhörte wie Schüsse, die von einer Waffe abgegeben wurden. Schüsse, ich bin nicht allein, hatte sie gedacht und sich gefreut - jedenfalls für einen kurzen Moment.

      Dann war sie unsicher geworden, ob dies als ein gutes oder weniger gutes Omen zu deuten wäre. Immerhin waren Schutz und Sicherheit, die die Großstadt normalerweise boten, im Augenblick nicht vorhanden. Wie es aussah, war Lisa auf sich allein gestellt und konnte unmöglich wissen, ob hinter diesem Lärm nicht auch Menschen mit üblem Ansinnen steckten. Wer garantierte ihr, dass es rechtschaffene Leute waren, die in der Gegend herumballerten? Obwohl sie zugeben musste, dass die Schüsse zu periodisch klangen, um bloß als wilde Schießerei abgetan werden zu können. Sie machten einen einigermaßen koordinierten Eindruck, sodass sie durchaus als Signal aufgefasst werden konnten.

      Dieses Lebenszeichen anderer Menschen hatte natürlich ihre Pläne, das Reiseziel betreffend, durchkreuzt. Lisa spekulierte nun mit der Möglichkeit, anstelle der beschwerlichen Landpartie die Stadt mit dem Rad zu erkunden, doch sie wollte nicht sofort und ohne Plan losfahren. Sie wollte erst in Ruhe darüber nachdenken, wie sie es am besten anstellen konnte, ohne Gefahr zu laufen, in eine Falle zu tappen. Besondere Zeiten erforderten eben besondere Vorsichts-Maßnahmen. Kurz vor fünf Uhr waren die Schüsse verklungen. Lisa war noch etwa zehn Minuten an einem der beiden Wohnzimmerfenster gesessen und hatte gelauscht, ob sie wieder beginnen würden.

      Sie trennte den Zettel mit den aufgelisteten Reiseutensilien vom Block ab und begann eine neue Liste mit Dingen, die sie für ihre Erkundungsfahrt durch die Stadt brauchen würde, anzufertigen. Die erste Version warf sie nicht in den Papierkorb, sondern heftete diese an die Pinnwand über ihrem Schreibtisch, denn sie konnte ja nicht wissen, ob sie die Auflistung nicht doch noch irgendwann benötigen würde. Aufgeschoben war bekanntlich nicht gleich aufgehoben.

      Als Lisa die neue Liste fertiggestellt hatte, las sie diese nochmals durch und fügte hier und dort etwas hinzu. Dann erhob sie sich von ihrem Schreibtisch, um die Dinge zusammenzutragen. Sie ordnete die Sachen auf dem Esstisch an, der innerhalb kürzester Zeit vollständig bedeckt war.

      Dort reihten sich folgende Sachen aneinander: Ein Ersatzschlauch für die Fahrradreifen, Flickzeug für dieselben, ein Schraubenzieherset, eine verstellbare Zange, eine Stabtaschenlampe mit zwei Batterien, die sie selbstverständlich auf ihre Funktionstüchtigkeit kontrolliert hatte, eine Straßenkarte von Wien, ein Kompass, Schreibzeug, bestehend aus einem Block im Format A5 und zwei Kugelschreibern, ein dünner Regenponcho, der zusammengeknüllt in einem Kunststoffsack steckte und nicht mehr Platz brauchte als drei Paar Socken, ein dünner Pullover, falls es abends abkühlen sollte und ein Schweizer Taschenmesser. Des weiteren lagen auf dem Tisch noch eine Rolle Spagat, eine Trinkwasserflasche, ein Feuerzeug, Streichhölzer, eine Trillerpfeife, Sonnencreme, ihre Sonnenbrille, ein Schweißband für die Stirn, ein mit Brot, Käse, Obst und Gemüse gefülltes Tupperware, eine Packung Taschentücher, Verbandszeug in einem Necessaire und zuletzt ein langes Fleischmesser, für das sie eine Scheide aus Zeitungspapier und Klebestreifen bastelte. Sie hoffte, dass ihre Waffe nie zum Einsatz kommen würde, doch Vorsicht war bekanntlich schon immer besser als Nachsicht gewesen.

      Lisa fühlte sich für kurze Zeit in ihre Kindheit zurückversetzt, in der sie einige Jahre bei den Pfadfindern war. Damals hatte sie auch, mit einer Liste und einer Packordnung ausgestattet, die diversen Utensilien zusammengetragen, auf dem Zettel abgehakt und danach in den Rucksack gestopft. ... Von wegen Packordnung!

      Der Rucksack war kaum zugegangen, da sie stets viel zu viel mitnehmen wollte. Dann wurde sie immer vor die Entscheidung gestellt, auf irgendetwas zu verzichten. Den dicken Pullover? Niemals, denn sie gehörte zu der Kategorie, der stets Erfrorenen! Wenn die Pfadfindergruppe bis spät in der Nacht um das Lagerfeuer herumsaß und Lieder trällerte, oder wenn Lisa in der Früh aufstand, und die Wiese noch feucht vom Morgentau war, dann war die Zeit des dicken Pullovers gekommen. Auch von den Naschereien wollte sie sich nicht trennen, denn wenn man fast zwei Wochen in einem Sommerlager verbrachte, dann waren Süßigkeiten überlebensnotwendig. Da ließ sie schon eher das eine oder andere Paar Socken oder ein T-Shirt zuhause.

      Im Vergleich zum Pfadfinderrucksack, der damals beinahe so groß gewesen war wie sie selbst, war ihr gewöhnlicher Alltagsrucksack, den sie nun mitzunehmen gedachte, ein Zwerg. Er war aus blau weiß-kariertem Stoff und bestand aus einem Hauptfach und zwei kleinen Außentaschen, in die nicht gerade viel hineinpasste, aber er erfüllte wenigstens den Zweck, dass sie ihn auf dem Rücken tragen konnte, und dass alle Dinge, die sie vorbereitet hatte, hineinpassten.

      Sie hatte ihn so gepackt, dass der dünne Pullover eine weiche Polsterung für ihr Rückgrat bildete und der Griff des Fleischmessers knapp hinter ihrem rechten Ohr herausragte, sodass sie im Verteidigungsfall leichten Zugriff auf die Waffe hatte, ohne erst umständlich den Rucksack vom Rücken nehmen und aufbinden zu müssen.

       Komm her, Kleine, ich dreh’ dir deinen hübschen kleinen Hals um und reiß dir den Schädel ab! ... Moment, Herr Gewaltverbrecher, ich hole nur mal schnell mein Messer aus dem Rucksack! … Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir so ein Spinner die nötige Zeit nicht gibt, um Maßnahmen zur Selbstverteidigung zu treffen.

      Lisa betrachtete zufrieden den Rucksack und stellte ihn auf den Vorzimmerboden neben die Wohnungstür. Die Sonnenbrille, das Stirnband, die Trillerpfeife und die Taschenlampe, sowie das Schweizer Armeemesser reihte sie neben den Schlüsselbund auf das Vorzimmerschränkchen. Diese Sachen wollte sie in die Hosentasche stecken oder an sich tragen. Die Taschenlampe brauchte sie am nächsten Tag in der Früh als erstes, wenn sie den finsteren Gang durchqueren und das Stiegenhaus hinabsteigen würde. Die Trinkwasserflasche trug Lisa in die Küche und stellte sie neben das Abwaschbecken. Sie würde diese erst kurz vor dem Aufbruch mit frischem

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