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Geschichte von seiner letzten Expedition ins Salzkammergut, deren Wahrheitsgehalt Artur zwar bezweifelte, doch die Geschichte hatte wenigstens einen gewissen Unterhaltungswert gehabt. Immerhin handelte es sich um sehr schöne Exemplare von unglaublicher Reinheit, wie sie selten vorkam. Doch noch seltsamer erschien ihm die Tatsache, dass alle zwölf beinahe gleich groß waren. Er hatte sie abgemessen. Sie maßen zwischen neunzehn und einundzwanzig Zentimeter und hatten einen Durchmesser von etwa vier Zentimeter. Er konnte sich kaum vorstellen, dass ein einzelner so viel Glück haben konnte, einen einzigartigen Fund, wie diesen zu machen. Dennoch hatte Artur nach einigem Zögern dem Drängen des Jungen nachgegeben und ihm die Mineralsteine bis auf einen abgekauft. Den wollte der junge Mann selbst behalten.

      An und für sich war gegen den Handel zwischen den beiden nichts einzuwenden, doch Artur hatte beschlossen die Rohspitzen unter der Hand weiterzuverkaufen. Schnelles Geld - keine Steuern. Die wunderschönen Bergkristalle hatten wie erwartet rasch Abnehmer gefunden. Am Freitag hatte er vier Stück verkauft, zwei davon an weibliche Kundschaft, zwei an Männer. Eine Kundin, eine Rentnerin Namens Hermine Stöger, war heute in der Früh wiedergekommen und hatte ihm erzählt, dass ihr die Handtasche gestohlen worden war, unmittelbar nachdem sie das Geschäft verlassen hatte. Sie käme soeben von der Polizeidienststelle, wo sie Anzeige erstattet hatte. Die Handtasche wurde in der Nähe in einem Müllcontainer gefunden und sie hatte die Tasche samt Inhalt zurückbekommen, jedoch ohne Bargeld. Das war verschwunden. Auch der Kristall war nicht mehr aufgetaucht. Artur drückte sein Bedauern über diesen Vorfall aus und gab ihr 20 % Rabatt auf den zweiten Kristall, den sie kaufte, denn sie wollte unbedingt einen haben, und es war ihm ein Bedürfnis gewesen, ihr nach dem ganzen Ärger eine kleine Freude zu bereiten.

      Das war allerdings nicht der einzige, den er heute schon abgesetzt hatte. Zwei Teenager waren am Vormittag ins Geschäft gekommen und hatten ebenfalls einen mitgenommen. Er hatte sich noch gewundert, dass so junge Leute Geld für so etwas ausgaben. Schnelles Geld - keine Steuern, hatte er gedacht. Daher rührte auch das schlechte Gewissen, das er jetzt verspürte.

      „Hallo, haben Sie mich nicht verstanden?“ Die knarrende Stimme des Polizisten schnitt seine Gedanken entzwei. „Ich sagte, dass ich eine der Spitzen aus der Auslage möchte!“

      Artur verspürte plötzlich den Drang, das Geschäft zu verlassen und davonzulaufen. Die Richtung war ihm egal. Hauptsache raus aus dem Geschäft und weg von dem unheimlichen Kerl.

      „Entschuldigen Sie, ... selbstverständlich, ... einen Moment bitte“, stammelte Artur, umrundete den Ladentisch und steuerte auf die Auslage zu, „Ich hole sie, dann können Sie einen auswählen.“

       Ich mach’ einfach die Tür auf und renne los. Nach links oder rechts, wo wäre es wohl gescheiter? ... So ein Unsinn! Denk nach! Woher sollte die Polizei wissen, dass ich die Steine unversteuert verkaufe und mir so ein bisschen was nebenbei verdiene? Nur weil der alten Stöger die Tasche geklaut wurde, und der Kristall nicht mehr aufgetaucht war, heißt das noch lange nicht, dass sie einen Verdacht in dieser Richtung haben. Es weiß ja niemand davon. Nicht einmal Georg hat die geringste Ahnung, dass ich die Spitzen steuerfrei verscherble!

      „Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit, Opa“, ertönte es hinter seinem Rücken.

      Artur war schweißgebadet. Seine Nase juckte wie verrückt. „Ich mach’ ja schon, immer langsam mit den jungen Pferden“, erwiderte er, griff nach dem mit violettem Samt überzogenen Kissen, auf der die Bergkristalle lagen. Er trug seine kostbare Fracht vorsichtig mit beiden Händen und kehrte zu seinem Platz hinter dem Ladentisch zurück. Es lagen noch vier Rohspitzen darauf.

      Vier? Artur zählte sie nochmals, obwohl man auf einen Blick sehen konnte, dass es vier Stück waren.

      Ich dachte, es wären noch fünf da, dachte er verwirrt.

      „Hier bitte, der Herr“, sagte er und deponierte die Unterlage mit den vier Bergkristallen auf der Theke. Der unfreundliche Kunde griff nach dem ersten Stein und begutachtete ihn.

      Ich hatte elf Stück, rechnete Artur, während er den Mann beobachtete. Gestern habe ich vier verkauft und heute waren es zwei. Das macht elf weniger sechs ... fünf! Es sollten noch fünf da sein, oder habe ich jemanden vergessen mitzuzählen?

      Der seltsame Kunde legte die erste Spitze wieder hin und nahm die nächste in die Hand. Er drehte sich zu dem Schaufenster, hielt den Kristall in Augenhöhe und blickte hindurch.

       Wahrscheinlich hat mich der Typ derartig durcheinandergebracht, dass ich mich glatt nicht mehr erinnern kann, an wen ich den fehlenden Stein verkauft habe.

      Der Typ legte Stein Nummer zwei auf das Tablett zurück und begann Nummer drei zu inspizieren. Er wog ihn zuerst in seiner Hand und führte ihn danach in Augenhöhe, um die Klarheit zu prüfen, wie bei den beiden Vorgängern. Artur kam es so vor, als würde die Narbe an der Wange seines Gegenüber zu glühen beginnen.

       Der Kerl hat eine Ausstrahlung wie ein Massenmörder. Was macht so einer mit einem Bergkristall. Was hat der Typ überhaupt mit Mineralien zu schaffen. Ich hoffe er verlässt bald mein Geschäft, sonst muss ich mich übergeben.

      Der Mann war so sehr in die Begutachtung der Bergkristallspitzen vertieft, dass er nicht merkte, wie er von Artur unter die Lupe genommen wurde. Er griff nach dem letzten Stein und unterzog diesen der gleichen Prüfung.

       Groß, kräftig, braungebrannt, ein richtiger Macho, der die Frauen mit seinen Muskeln beeindrucken möchte. Ein richtiger Fiesling. Grob, unfreundlich, äußerst unsympathisches Auftreten und eine Aura, die einem das Fürchten lehrt. Was veranlasst so einen Menschen einen Bergkristall zu kaufen?

      „Den hier nehme ich“, riss der Fiesling Artur abermals unsanft aus den Gedanken. „Was habe ich zu bezahlen?“ Der Kunde zeigte auf den allerersten Stein, den er betrachtet hatte.

      So ist es meistens! Artur hatte die Erfahrung gemacht, dass die Menschen instinktiv diejenigen Dinge zuerst in die Hand nahmen, für die sie sich schlussendlich entschieden. Artur nannte ihm den Preis, und der Mann zog, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Bündel mit Geldscheinen aus der Hosentasche, öffnete die Spange, die die Scheine zusammenhielt und knallte den abgezählten Betrag auf die Theke.

      „Ihre Preise sind ganz schön gepfeffert“, bemerkte der Kunde.

      Trotz des rhetorischen Protestes, was den Preis betraf, blieb die Stimme des unsympathischen Einkäufers ungewöhnlich sachlich, wodurch Artur zu der Überzeugung gelangte, dass durch den Erwerb des Kristalls der Druck, unter dem der Kunde gestanden hatte, offenbar nachgelassen hatte.

      Ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch! Artur erinnerte sich wieder daran, was er gedacht hatte, als der Mann sein Geschäft betreten hatte.

      „Auf Wiedersehen!“, verabschiedete sich dieser unerwartet höflich. „Und einen schönen Tag wünsch ich noch.“

      „Gleichfalls“, erwiderte Artur verdutzt, „Auf Wiedersehen!“

      Der Fiesling hatte tatsächlich gelächelt.

       Er hat gegrinst. Das war kein Lächeln!

      Das Glöckchen bimmelte. Der Mann zog von außen die Tür zu. Und Artur fiel ein Stein vom Herzen. Er war fort. Artur nahm das Geld von der Theke und verstaute es in der Kassa. Dann nahm er die Unterlage, auf der die verbliebenen drei Kristalle nebeneinander lagen wie neugeborene Drillinge und trug sie zum Schaufenster zurück. Er deponierte sie an der vorgesehenen Stelle und öffnete die Tür, um frische Luft herein zu lassen. Danach trat er hinaus auf den Gehweg, blieb vor der Eingangstüre stehen, schloss die Augen und spürte die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Zufrieden sog er die warme Sommerluft durch die Nase ein. Er versuchte die Erinnerung an den unangenehmen Käufer zu verdrängen. Auch an den verschollenen Stein verschwendete er keinen Gedanken mehr, wenngleich er noch am selben Tag einen weiteren verkaufte.

      4.

      Zu Mittag machte Artur seinen Laden dicht und startete ins Wochenende. Am Montagmorgen ließ er eine Stunde später als üblich, die rubinroten Rollläden zum allerletzten Mal in die

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