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fand einen in einem der Oberschränke. Er spießte die Kerze auf. Dann füllte er ein Glas mit Wasser, trank es in einem Zug aus und begab sich ins Wohnzimmer, wo er die Kerze samt Ständer auf dem Tisch abstellte. Er schlurfte zu einem der Wohnzimmerfenster, öffnete es und spähte in die Nacht hinaus.

      Die Häuser und Straßen zeichneten sich pechschwarz bis dunkelgrau ab, deren Konturen nur sehr schwer zu unterscheiden waren. Die Wasseroberfläche des Kanals und der Himmel zeigten sich in etwas helleren Grautönen, aber nur solange, bis die Wolken den Mond wieder freigaben, dann konnte er auch Einzelheiten wie Bäume, Büsche, Autos und die Fensterscheiben der gegenüberliegenden Häuser erkennen. Der Erdtrabant hing sichelförmig am Firmament, würde aber demnächst untergehen, was Robert jedoch nicht sehen konnte, denn das Fenster, an dem er stand, war nach Nordosten gerichtet. Die Luft, die er atmete, war so rein, dass es ihm vorkam, als ob er sich gar nicht in der Stadt, sondern irgendwo auf dem Land befände. Das betraf auch die unheimliche Stille, die ihn momentan umgab. Sie war beinahe perfekt, diese Stille. Robert schloss die Augen und lauschte. Sogar die Natur schweigt. Bis auf ein kleines Lüftchen steht alles still ...

      Er blickte auf seine Armbanduhr, wobei er das Ziffernblatt in Richtung Kerze drehte, damit er etwas erkennen konnte. Der kleine Zeiger stand zwischen zwei und drei, und der große kurz vor sechs. Der Sekundenzeiger überrundete gerade den Minutenzeiger und begann seinen Anstieg, um die Runde zu beenden.

       Wenn meine Uhr richtig eingestellt ist, dann ist es exakt vor vierundzwanzig Stunden geschehen. Nur noch eineinhalb Minuten ... was ist...

      Er hörte ein schwaches Rauschen, das ihm vorher nicht aufgefallen war. Das ist nicht der Wind, es ist zu ... konstant! Er konzentrierte sich voll und ganz darauf.

       Bilde ich mir das nur ein, oder wird es tatsächlich lauter? Es hat einen Ursprung, soviel steht fest. Das Rauschen kommt von Osten, es klingt wie ... wie das Rauschen aus meinem Kofferradio ... und dem Autoradio.

      Plötzlich war es draußen pechschwarz. Der Mond war binnen eines Sekundenbruchteils untergegangen. Das Rauschen schwoll immer noch an.

       Was auch immer das zu bedeuten hat, es nähert sich mit großer Geschwindigkeit!

      Zu dem Rauschen gesellten sich noch andere Geräusche. Ein extrem tiefer Basston, der ebenfalls konstanter Natur war. Außerdem ein feines kratzendes Sirren, das auf und ab wogte. Es klang wie das Zirpen von Millionen Grillen in einer lauen Sommernacht.

      Vielleicht ein Insektenschwarm? Robert konzentrierte seinen Blick in östlicher Richtung, doch dort war es stockdunkel, wie auch sonst überall. Wind setzte ein, zuerst ganz schwach, doch nach und nach wurde er stärker. Robert sah auf seine Armbanduhr. Es war wenige Sekunden vor halb drei.

      Plötzlich hellte sich der Horizont auf, als ob eine Tür in einem fensterlosen Raum langsam geöffnet würde, in den das Licht mit zunehmender Intensität ins Innere flutete. Der Himmel verwandelte sich wie bei einer Zeitrafferaufnahme. Einzelne Wolken zogen gigantischen Ufos gleich in atemberaubendem Tempo über Robert hinweg. Sie strömten auf den Horizont zu, der sich inzwischen rot gefärbt hatte. Es wirkte, als ob der Himmel im Osten in lodernden Flammen stünde und die Wolken ansaugte wie ein Schwarzes Loch die Materie eines ganzen Sonnensystems.

      Der Wind hatte sich erst eingependelt auf eine gleichbleibende Stärke und war ganz plötzlich wieder abgerissen. Im Moment war es windstill. Der Lärm jedoch war weiter angeschwollen. Das Rauschen war nun nicht mehr so konstant wie zu Beginn. Robert konnte hören, wie es durchzogen war mit einem Knistern und peitschendem Klatschen und Knacken. Ein Basston vibrierte einem australischen Didgeridoo ähnlich und komplettierte das Orchester. Das Grillenzirpen entpuppte sich als eine kaum erträgliche Flut von unzähligen Einzelgeräuschen im höchsten, für das menschliche Ohr gerade noch hörbaren, Frequenzbereich, die jeweils nur Bruchteile von Sekunden dauerten. Einzelne hielten ein wenig länger an und rissen mit einem Schnalzlaut abrupt wieder ab. Kaum merkbar war im Hintergrund außerdem ein leises Pfeifen zu hören, wie von einem unter Druck stehenden Kochtopf oder Teekessel. Das war neben dem dröhnenden Bass das einzige gleichbleibende Geräusch, das er im Augenblick wahrnehmen konnte.

      Erstaunt verfolgte er die Bahn der Sonne, die in der ersten halben Minute seit ihrer Geburt, die unglaubliche Strecke bis zu ihrem Höchststand zurückgelegt hatte. Das konnte er durch das Fenster zu seiner Rechten beobachten, denn das Wohnzimmer war ein Eckzimmer, mit vier Fenstern, von denen zwei nach Nordosten und die restlichen zwei nach Südosten gerichtet waren. Dann machte Robert eine andere, in gleichem Maße erstaunliche Entdeckung. Nachdem er seinen Blick vom Himmel gelöst hatte, entdeckte er dass die Straße vor seinem Haus sich in einen bunten, durchschimmernden und sich windenden Wurm verwandelt hatte, der in den verschiedensten Farben schillerte, wie die Oberfläche eines Opals.

      Die Straße ... kein Wurm ... das sind Autos, stammelte sein Verstand. ... Menschen ... aber wieso ... so schnell ... die Zeit?

      Er sah auf seine Uhr. Es waren kaum drei Minuten vergangen, seit er dieses Phänomen beobachtete. Mit einem Mal verdunkelte sich der Himmel, der in der Zwischenzeit von Gewitterwolken bedeckt worden war. Die Windrichtung hatte sich scheinbar auch geändert, denn die Wolken flogen nun geradewegs auf Robert zu. Die Welt außerhalb Roberts Wohnung verwandelte sich in ein verschleiertes Grau.

      Es regnet! Er streckte die Hand aus dem Fenster, doch er wurde nicht nass. Wenige Sekunden, nachdem das Gewitter ausgebrochen war, riss der Himmel auf, die Wolken wurden auseinandergefegt und die Umgebung hellte sich wieder auf. Robert konnte sehen, wie der Asphalt in kürzester Zeit trocknete. Der Wurm wälzte sich noch immer entlang der Straße, am Fuß seines Hauses und genauso am gegenüberliegenden Ufer.

      Es muss jetzt früher Nachmittag sein. Seine Gedanken begannen wieder koordiniert durch seine Gehirnwindungen zu fließen. Der Überraschungseffekt war vorüber. Seit seinen ersten außergewöhnlichen Wahrnehmungen waren fünf Minuten vergangen.

      Der Tag läuft, jedenfalls wettermäßig, so ab wie der, den ich gestern selbst durchlebt habe. Nur im Zeitraffertempo ... und wie es aussieht mit anderen Menschen! Robert betrachtete fasziniert das Treiben unter und über ihm. Die Wolken überquerten noch immer mit schwindelerregender Geschwindigkeit den Himmel, auch wenn sie nur mehr vereinzelt vorüberzogen.

      So sehr er sich auch anstrengte, konnte er keine einzelnen Fahrzeuge in dem Wurm ausmachen. Aber er bemerkte wohl, dass die vor dem Haus parkenden Autos sprunghaft wechselten. Erst stand hinter seinem Colt ein weißer Volkswagen, dann entstand für zwei Sekunden eine Lücke. Plötzlich parkte in derselben ein dunkelblauer BMW. Das gleiche Schauspiel ereignete sich vor seinem Wagen. Ein grauer Mercedes wechselte übergangslos in einen roten Wagen, dessen Marke Robert von oben nicht erkannte. Die ganze Zeit wurden Fahrzeuge getauscht, verschwanden, tauchten aus dem Nichts auf. Nur der schwarze Colt stand unbewegt auf seinem Platz.

      Der Tag neigte sich dem Ende zu, erst ganz langsam, dann nach und nach schneller. Robert sah die Schatten wachsen, von Sekunde zu Sekunde immer länger werden. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite begannen golden zu schimmern, die Fensterscheiben funkelten für wenige Augenblicke wie Sprühkerzen, als sich die untergehende Sonne in ihnen spiegelte, und erloschen wenig später wieder. Alles verwandelte sich allmählich in eine graue Masse. Nur die Autoschlangen auf den Straßen begannen rotorange und weiß zu leuchten. Auch die Straßenbeleuchtung konnte Robert eindeutig sehen. In den Häusern gingen nach und nach die Lichter an. Manche gingen auch gleich wieder aus. Die Welt vor seinem Fenster hatte sich in einen riesengroßen Flipper verwandelt, dessen Lämpchen wie verrückt flimmerten.

      Robert hatte zuerst gar nichts bemerkt, doch als er sich - inspiriert durch die anderen erhellten Fenster - umdrehte, erstrahlte sein eigenes Wohnzimmer im künstlichen Licht. Der Strom war wieder da!

      Oh Gott, vielleicht ist dies der Wendepunkt. Jetzt wird alles wieder gut! Was auch immer mit mir geschehen ist... ich glaube, es ist vorbei! Robert fühlte sich in jenem Augenblick wie ein Kleinkind vor dem Weihnachtsbaum am Abend der Bescherung. Er tanzte durch das Wohnzimmer, kam wieder ans Fenster zurück und blickte erwartungsvoll in die Nacht hinaus. Die Autoschlange hatte sich praktisch aufgelöst. Einzelne Lichtpünktchen

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