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er irgendwie zu verarbeiten, dass seine Frau und die Kinder das gleiche Schicksal ereilt hatte wie der Rest der Welt.

      Er dachte schon, er hätte sich verhört, doch als der Knall, der wie ein Schuss klang, ein zweites Mal ertönte, sprang er, so rasch wie es sein Übergewicht erlaubte, vom Armsessel hoch und lief ans Fenster. Er spähte hinaus und wartete.

      Päng! Da war er wieder.

      Das ist kein Donner! ... Das ist ein Schuss! Päng.

      Die Signale klangen sehr schwach, als ob diese von weit entfernt abgegeben würden, doch aufgrund der fehlenden Hintergrundgeräusche waren sie gut zu hören. Karl war sicher, dass die Schüsse, oder was auch immer, von der anderen Seite des Hauses kamen.

       Ich wusste es! Ich bin nicht ganz allein! Wer auch immer ... Ich muss mich beeilen!

      Aufgeregt stürzte er aus der Wohnung, hinunter auf die Straße, wo er den Bus in zweiter Spur geparkt hatte.

      Päng. Karl drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der der Knall seiner Meinung nach gekommen war.

       Das kommt aus dem Zentrum! Wer auch immer diesen Krawall veranstaltet, befindet sich dort! Also, nichts wie los!

      Er setzte sich mit erstaunlicher Beweglichkeit in Bewegung, zwängte seinen hundertdrei Kilogramm schweren Körper in den Bus und startete denselben. Er fuhr los, obwohl er gar nicht wirklich wusste, woher genau dieses Signal abgegeben wurde. Intuitiv lenkte er das Fahrzeug in Richtung Stephansplatz.

      Karl beobachtete durch die Frontscheibe eine rote Leuchtkugel, die beim Dom kerzengerade in die Höhe stieg, bis die Aufwärtsbewegung hoch über den Dächern der umliegenden Häuser stoppte. Dann wurde der Feuerball von einer Windbö erfasst und nach Südosten in seine Richtung davongetragen, bis er schließlich erlosch. Karl kannte nun den Ursprung des Signals.

      Er lenkte den Bus weiter und drückte die Hupe, um zu signalisieren, dass er das Zeichen gesehen hatte und im Anmarsch war. Für kurze Zeit vergaß er seine momentane Situation völlig. Noch vor zehn Minuten, als er mit dem Foto seiner Familie in der Hand auf dem Bett gesessen war, hatte er mit dem Gedanken gespielt, seinem Leben ein Ende zu setzen, doch so schnell konnten Leid und Freud die Positionen wechseln. Es handelte sich nur um Signalpatronen, doch sie waren ein Zeichen. Zum richtigen Zeitpunkt! Einen besseren konnte er sich gar nicht vorstellen. Gab es überhaupt einen richtigen Zeitpunkt? Wenn ja, dann war dies definitiv einer.

      Beinahe trunken vor Freude bog er in die Rotenturmstraße ein, die ihn direkt zum Stephansdom führen würde. Er war zwar den ganzen Weg über schon verkehrswidrig unterwegs gewesen, doch wen kümmerte es? Ihn ganz sicher nicht!

      Er hupte wieder und wieder, betätigte das Signalhorn auch, als er von der Straße herunter in die Fußgängerzone vor der Kirche rollte. Er hatte die Geschwindigkeit ein wenig gedrosselt, um niemanden mit seinem Bus über den Haufen zu fahren. Irgendwie hatte er damit gerechnet, auf eine größere Ansammlung von Menschen zu stoßen, doch seine Hoffnungen schwanden, als der Platz vor der Kirche sich ihm in gähnender Leere präsentierte.

      12.

      Robert hatte die erste Schachtel Leuchtmunition aufgebraucht, als er dachte, er hätte ein anderes Geräusch gehört als den pfeifenden Wind, der um den Turm strich.

       Das hast du dir eingebildet, das war nur der Wind. Wenn man unbedingt etwas hören will, dann kann man sich alles Mögliche einbilden.

      Doch dann hörte er es wieder. Es klang wie ...

       ... eine Autohupe! Verdammt will ich sein, wenn das keine Hupe war.

      Er lehnte seinen Oberkörper weit aus dem Fenster, um besser hören zu können. Obwohl der Wind nun lauter pfiff, konnte er erneut das Signal vernehmen.

       Jaaa ...

      Aufgeregt nahm er seinen Oberkörper wieder zum Fenster herein, um nachzuladen. Dabei stieß er sich den Ellenbogen derart heftig am Fensterrahmen, dass ihm der lähmende Schmerz die Hand öffnete, in der er die Leuchtpistole festgehalten hatte. Den Rest tat die Schwerkraft. Mit vor Schmerzen tränenden Augen verfolgte er ungläubig die Flugbahn der Signalwaffe, die sie direkt auf den Stephansplatz hinunter beförderte, der sich tief unter ihm erstreckte.

       Neiiin ...

      Mit einem lauten Knacken, das er selbst so weit oben sehr deutlich vernehmen konnte, landete die Leuchtpistole auf dem Pflaster, zersprang in zwei Teile, wovon der eine nach dem Aufprall wieder einige Meter in die Höhe zurückkatapultiert wurde und der andere in waagrechter Linie am Boden entlang davonschlitterte. Sekundenbruchteile später registrierte er das Brummen eines Motors, das anschwoll und wieder abnahm. Tatenlos musste er mit ansehen, wie ein Reisebus im Schneckentempo den Platz zu seinen Füßen überquerte und schließlich mit dem Heck in seiner Richtung stehen blieb. Der Bus stand nun mit laufendem Motor direkt an der Stelle, wo der Graben vom Stephansplatz wegführend begann.

      Robert stand seinerseits an der Maueröffnung und beobachtete den Bus, der seine Hoffnungen bestätigte, dass er nicht allein auf der Welt zurückgeblieben war. Als sich seine Lähmung allmählich zu lösen begann, wusste er im ersten Augenblick gar nicht, ob er sich nun darüber freuen sollte, dass seine Aktion erfolgreich gewesen war, oder ob er das Schicksal verfluchen sollte, das ihm einen derart grausamen Streich spielte. Da hatte er es endlich geschafft, mit einem anderen menschlichen Wesen Kontakt aufzunehmen, doch ausgerechnet in dem Moment, in dem es am meisten darauf ankam, war er unfähig sich bemerkbar zu machen.

       Wenn ich runter laufe, dann ist er vermutlich weg, bevor ich ihn erreiche. Andererseits, wenn ich hier untätig herumstehe, dann ist das auch nicht gerade sinnvoll. Was soll ich machen? Nichts bringt mich wirklich weiter!

      Robert drehte sich um. Verzweifelt versuchte er etwas im Raum zu entdecken, das er aus dem Fenster werfen konnte. Der Gegenstand musste groß genug sein, um aufzufallen. Er drehte eine Ehrenrunde um den Verkaufsstand, doch das Turmstüberl war leergefegt von beweglichem Gut. So kam er mit leeren Händen wieder zum Fenster zurück und lehnte sich hinaus. Unten stand der Bus. Zum Greifen nahe und doch so weit entfernt! Immer noch mit laufendem Motor.

      „Hier bin ich!“, schrie er, „Hiiier oooben!“

      Er beobachtete, wie ein korpulenter Mann aus dem Gefährt stieg und nach links und rechts blickte. Offensichtlich war er auf der Suche nach ihm.

      „Hallooo, hiiier bin ich!“, rief er wieder, doch gegen den laufenden Motor des Busses hatte Robert nicht die geringste Chance. Zumal der Fahrer keine Anstalten machte sich vom Bus ein Stückchen zu entfernen.

       Wie kann man nur so dämlich sein und den Motor laufen lassen? ... Wie kann man nur so dämlich sein und diese gottverdammte Leuchtpistole fallen lassen!

      Der Mann, nicht größer als eine Ameise, verschwand hinter der Front des Miniatur - Busses.

      „Mach endlich den Motor aus und schau herauf!“

      Plötzlich hatte er eine Idee. Robert zog sein Hemd aus und stopfte, auf dem Boden kniend, die Schachteln mit der Leuchtmunition hinein. Die Hemdsärmel wickelte er rundherum und verknotete sie. Das Zippo von Fred rutschte aus der Hemdtasche und fiel polternd auf den Holzfußboden.

       Ja! Genau dich brauche ich jetzt! Ich veranstalte das größte Feuerwerk, das der Typ da unten jemals gesehen hat!

      Robert griff in die Brusttasche, zog die Packung Camel heraus, hob das Feuerzeug vom Boden auf und erhob sich wieder. Der Fahrer war immer noch nicht zu sehen.

       Wo ist er? ... Schon eingestiegen ... oder noch hinter dem Bus? Egal, das kann er nicht überhören.

      Robert kontrollierte den Knoten, zog ihn sicherheitshalber nochmals fest und klappte den Deckel des Feuerzeuges auf. Er hielt einen Zipfel des Hemdes darüber und setzte ihn in Brand. Zuerst wollte der Stoff nicht so richtig Feuer fangen, doch nach ein paar Sekunden züngelten die Flammen am Ärmel empor.

      Unten ertönte die Hupe des Busses.

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