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Thelonius’ große Reise [Schade 2012]) auch das Verschwinden von Naturelementen wie Land (Polymeer [Klobouk 2012]), Bäumen (Als die Bäume davonflogen [Belli 2017]) und Meer (Der Tag, an dem das Meer verschwand [Haynes 2020]) imaginiert wird. Die erzählten Räume sind dabei durch das Fehlen vermeintlicher Selbstverständlichkeiten gekennzeichnet und fordern über Verfremdungseffekte und Irritationsmomente zur „kreativen Selbsterneuerung von Sprache, Wahrnehmung, Imagination und Kommunikation“ (Zapf 2015, 177) heraus. Das Eintauchen in solche explizit als defizitär gestalteten Welten macht die Vulnerabilität des Menschen innerhalb kollabierender Ökosysteme erlebbar und regt somit auch die kritische Auseinandersetzung mit der (Un-)Verzichtbarkeit der jeweils eliminierten Systembestandteile an.

      Einerseits eröffnen die Geschichten also emotionale Zugänge zu faktisch komplexen Zukunftsszenarien, andererseits kann der Transfer von einem fiktiven Weltentwurf in die eigene Lebenswelt aber nur gelingen, wenn Schüler*innen in der Lage sind, Figurenperspektiven nachzuvollziehen, die Kausalzusammenhänge der erzählten Welten reflexiv zu durchdringen, bewusst mit der sprachlichen Konstruktion von Fiktion umzugehen und symbolische Zuspitzungen zu decodieren. In diesem Sinne kommt Literaturunterricht nicht nur die Aufgabe, sondern auch die Bedeutung zu, z.B. über literarisch ausgestaltete ‚Mangelwelten‘ das Möglichkeitsdenken anzuregen, literarisches Verstehen mit nachhaltigkeitsbezogenem Verstehen zu verzahnen und damit transformative Bildungsprozesse in einem zentralen Fach kultureller Bildung zu verankern.

      2. Werkauswahl und methodisches Vorgehen

      Wie dies speziell für den Literaturunterricht der Primarstufe aussehen kann, wird im vorliegenden Beitrag exemplarisch an den Werken Der Tag, an dem das Meer verschwand (Haynes 2020) und Die Fabel von Fausto (Jeffers 2020) veranschaulicht. Beide Erzählungen folgen einer episodischen Grundstruktur und eignen sich dadurch besonders für die Kombination aus analytischen und produktiven Methoden des Literaturunterrichts. Zudem spielt in beiden Geschichten die Beziehung zwischen Mensch und Meer eine zentrale Rolle, die dabei aber so grundverschieden konnotiert wird, dass sich zentrale Zusammenhänge des Anthropozäns erkenntnisreich herausarbeiten lassen (vgl. Abb. 1). Da Jack in Der Tag, an dem das Meer verschwand durch positive Eigenschaften wie Empathiefähigkeit und Handlungsbereitschaft eher als Identifikationsfigur und Fausto in Die Fabel von Fausto durch negative Attribute wie Habgier und Allmachtsphantasien eher als Alteritätsfigur konzipiert ist, kann in einer aufeinander aufbauenden Auseinandersetzung mit den Protagonisten zudem der Schritt von der Identifikation zur Abgrenzung (vgl. Spinner 2006, 10) angeregt werden.

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      Abbildung 1: Verschwinden des Menschen (l.: Fausto) vs. Verschwinden des Meeres (r.: Der Tag, an dem das Meer verschwand)

      Das im Folgenden vorgestellte Unterrichtskonzept besteht – dieser Vielfalt möglicher Zugänge entsprechend – aus verschiedenen Bausteinen, die von einer vergleichenden Betrachtung der Werke ausgehen und punktuell auch für Einzelbetrachtungen kombinierbar sind. Die Bausteine orientieren sich an denjenigen Aspekten literarischen Lernens nach Spinner (vgl. Spinner 2006), die im Rahmen des Bochumer Modells literarischen Verstehens (BOLIVE) (vgl. Boelmann & Klossek 2016; Boelmann & König 2021) operationalisiert worden sind, greifen jedoch auf Kerngedanken beider Konzepte zurück. Diese literaturdidaktischen Zielsetzungen werden mit Teilkompetenzen der Gestaltungskompetenz nach de Haan (vgl. de Haan 2008) verknüpft, um mögliche Schnittmengen zwischen literarischer Bildung und Nachhaltigkeitsbildung (im Folgenden BNE, die Abkürzung von „Bildung für nachhaltige Entwicklung“) sichtbar zu machen. Das BOLIVE-Modell bietet für diese Verknüpfung auch im Vergleich mit anderen literaturdidaktischen Modellierungen den Vorteil, die Grundkompetenzen literarischen Verstehens so auszudifferenzieren, dass sie spiralcurricular „in Abhängigkeit von den Anforderungen, die ein literarischer Text an seinen Rezipienten stellt“ (Boelmann & Klossek 2016, 3), entwickelt werden können.

      3. Kompetenzorientierte Ideensammlung

      Für die didaktische Arbeit mit den beiden Werken sind grundsätzlich drei unterschiedliche Settings denkbar: die Erschließung lediglich eines der beiden Werke ggf. mit punktueller Bezugnahme auf andere Szenarien des Verschwindens, die aufeinander folgende Erschließung beider Werke mit einem abschließenden Vergleich oder die parallele Erschließung beider Werke im direkten Vergleich einzelner Kategorien. Letztere steht hier im Fokus, das heißt, es wird davon ausgegangen, dass beide Werke mit oder von den Kindern rezipiert worden sind, bevor die einzelnen Bausteine zur Anwendung gebracht werden.

      3.1 Baustein Figuren: der Protagonist als Umweltretter oder Umweltherrscher

      Der Auseinandersetzung mit Figuren kommt im Literaturunterricht, aber auch im literaturdidaktischen Diskurs eine zentrale Bedeutung zu (vgl. Pissarek 2013, 135; vgl. Klossek 2015, 21). Während Spinner die damit verbundenen Fähigkeiten und Ziele von den Rezipierenden ausgehend definiert und die Stufen 1) Identifikation mit Figuren, 2) Abgrenzung von Figuren, 3) Herstellung von Zusammenhängen zwischen Figuren und 4) Einsicht in die erzählerische Konstruktion von Figuren skizziert (vgl. Spinner 2006, 10), schreiben Boelmann und Klossek in ihren Niveaustufen 1) das Benennen von Figuren und Konstellationen, 2) das Charakterisieren und Vergleichen von Figuren und 3) das Positionieren zu Figuren als gegenstandsorientierte Kompetenzziele fest (vgl. Boelmann & Klossek 2016, 11). Insbesondere in der Kombination dieser beiden Zielrichtungen ergeben sich je nach Werk interessante Korrelationen mit den BNE-Teilkompetenzen „weltoffen und neue Perspektiven integrierend Wissen aufbauen“, „die eigenen Leitbilder und die anderer reflektieren können“ sowie „Empathie für andere zeigen können“, da durch das Einfühlen in und die Analyse von Figuren unterschiedliche Perspektiven, Leitbilder und Gefühle erfahrbar gemacht werden. Die Gegensätzlichkeit der beiden Protagonisten Jack und Fausto bietet für eine solch facettenreiche Erschließung gute Voraussetzungen.

       3.1.1 Sachanalytische Zugänge

      Demgegenüber ist das – im englischsprachigen Original auch titelgebende – „Schicksal des Fausto“ von Anfang an durch Raffsucht, Maßlosigkeit und Jähzorn bestimmt. In seinem Bestreben, sich die Naturelemente zu eigen zu machen, geht Fausto mit zunehmendem Größenwahn durch die Welt, ordnet sich auf diese Weise Blume, Schaf, Baum, Feld und Wald unter und setzt seinen Besitzanspruch gegen den Widerstand von See und Berg mit trotzigen Attitüden wie Schreien und Stampfen durch. Die Argumente des Meeres, er würde es weder lieben noch verstehen, weist er ignorant zurück und erfährt die Grenzen seiner Macht bzw. die Übermacht der Natur somit erst, als sein Versuch auf dem Wasser aufzustampfen mit seinem Untergang in den Tiefen des Meeres endet. Dass die personifizierten Naturelemente nach Faustos Verschwinden seine neonrosafarbene Besitzmarkierung verlieren und wieder ihren „eigenen Angelegenheiten“ nachgehen, legt

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