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Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren. Группа авторов
Читать онлайн.Название Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren
Год выпуска 0
isbn 9783706561921
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия Pädagogik für Niederösterreich
Издательство Bookwire
Abbildung 10: Wenn ich eine Schneiderin wäre, würde ich schöne bunde Kleider nehen. Und dann würd ich sie mit dem farad zu Post bringen. Und die Post bringt die Kleider zu den amen Kindern. Und die Kinder würden mit den neuen Kleiden tanzen und lachen. (Mathilda)
Weil es „amen Kindern“ scheinbar vor allem an Kleidung fehlt, identifiziert sich Mathilda probeweise mit einer „Schneiderin“, um „schöne bunde Kleider“ zu „nehen“. Neben einer Hilfsbereitschaft insbesondere gegenüber Gleichaltrigen dokumentiert sich in ihrer Geschichte auch das implizite Wissen um die eingeschränkte kindliche Mobilität, der sie kurzerhand die Idee des Postversands entgegensetzt, indem sie die selbst hergestellten Artikel (umweltschonend) „mit dem farad zu Post bringt“, die sie wiederum umstandslos den Kindern zustellt. Es erweckt den Eindruck, als ob ihr Bild die Erzählung chronologisch wiedergibt: Auf der linken Seite ist eine Schneiderin zu erkennen, die einen Faden und ein Stück Stoff in der Hand hält, neben ihr hängt an einer Garderobe bereits ein kleines, mit rosafarbenen Herzen verziertes Kleid und auf dem Boden liegen Schere, Bügeleisen und Stoff. In der Mitte stehen das Postamt und das abgestellte Fahrrad, während rechts zwei Mädchen in bunten Kleidern einen Freudentanz neben dem erhaltenen, schon geöffneten Paket im Sonnenschein veranstalten.
Ein homologes Muster lässt sich in Linus’ Erzählung herausarbeiten, der Armut ebenfalls aus der Entfernung bekämpfen will und dessen Unterstützung primär Kindern zugutekommen soll:
Abbildung 11: Wenn ich ein Miljoner wäre, würde ich den amen kindern helfen. Ich würde essen drinken und spielzeug und stifte nach afrika schicken. (Linus)
Als „Miljoner“ wäre Linus in der Lage, „essen drinken und spielzeug und stifte“ zu finanzieren und den „amen kindern“ in „afrika“ zu schicken, damit Ernährung, Spiel und Bildung sichergestellt sind. Sein Bild macht die Spannung zwischen der Armut eines Entwicklungslandes wie „afrika“ und dem Reichtum einer hochentwickelten Industriegesellschaft auch optisch sichtbar, weil das überdimensionierte gelbe Postauto, das mit seiner Antenne und seiner Größe die Überwindung jeder Distanz signalisiert, an den bescheidenen Zelten hält, vor denen sich die Kinder fröhlich winkend und lautstark („Ju Hu“, „danke Hej“) für die kostbaren Geschenke bedanken.
4. Resümee
Der Beitrag beruht auf mit Zeichnungen angereicherten Kindertexten, die in einer Unterrichtseinheit zum kreativen Schreiben in einer zweiten Grundschulklasse entstanden sind. Als Impulsgeber diente das literarästhetische Bilderbuch Wenn ich eine Katze wäre…, dessen Gehalt und Form alle Schüler*innen zu eigenen kreativen Adaptionen animiert. Wie die komparative, fallübergreifende Analyse des Datenmaterials belegt, beschäftigen sich einige Zweitklässler*innen auch mit globalen Krisen im Anthropozän. Hierzu zählen exemplarisch Umweltverschmutzung, Urbanisierung, Klimawandel und Armut, ohne dass die Lehrperson eine Auseinandersetzung mit ihnen intendiert hätte. Unzweifelhaft dokumentiert sich darin, dass von diesen Sujets eine große Anziehungskraft auf die Kinder ausgeht und sie in ihrer Lebenswelt durchaus präsent sind. Ihre Texte und Bilder sind als kritische Reflexe auf diese weltweiten Entwicklungen zu interpretieren, deren vollständige Durchdringung aktuell vermutlich noch weit außerhalb ihres aktuellen Verstehenshorizonts liegt. Trotzdem lassen sich die Schüler*innen von ihnen nicht einschüchtern, sondern sie bearbeiten die Probleme und entwickeln originelle Lösungsvorschläge, die ihrer kindlichen Gedankenund Gefühlswelt entsprechen und bereits komplexe Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur erfassen.
Den hierfür notwendigen „Erprobungsraum“ (Ette 2010, 26) eröffnet ihnen das kreative Schreiben: Wie in einem ‚Spiel‘ experimentieren die Schüler*innen mit phantastischen Identitäten, mit denen sie das ‚Hier und Jetzt‘ verlassen können, um mit einer Verbindung ihrer eigenen Fähigkeiten mit den besonderen, meist übermenschlichen Eigenschaften der übernommenen Rolle auf existenzielle Bedrohungen für Menschen, Pflanzen und Tieren zu reagieren. Die Imagination des „Wenn ich ein*e … wäre“ stellt also keine vollkommene Transformation des ‚Ich‘ in ein ‚Anderes‘ dar, sondern enthält Anteile des ‚Ich‘ als auch Anteile des ‚Anderen‘, was zu einer wechselseitigen Potenzierung der Fähigkeiten führt.6 Wenngleich sich die Kinder dabei im Raum des Als-ob bewegen, können sie sich im Gewand der erweiterten Identität als Individuen erleben, die sich nicht resignierend einem scheinbar unabwendbaren Schicksal ergeben, sondern dank der zusätzlich gewonnenen Stärke gleichermaßen verändernd und nachhaltig auf die Realität einwirken und sich gestaltend mit der Gegenwart und Zukunft der Welt und ihrer Bewohner beschäftigen. Parallel üben die Kinder bei dieser „ästhetisch-imaginativen Transformation von Wirklichkeit“ (Zapf 2019, 361) auch Literatur als eine kulturelle Praxis ein, die seit jeher der Verarbeitung kollektiver, mitunter krisenhafter Erfahrungen dient, den Raum für alternative Denk- und Handlungsoptionen öffnet und schließlich den Einzelnen ermutigt, mit eigenen Imaginationen und Utopien die Zukunft – die eigene und die der Welt – mitzugestalten.
Literatur
Primärliteratur
Rapino, Edoardo Bardella & Gubellini, Matteo (2008). Wenn ich eine Katze wäre … Übersetzt von Susanne Zeller. Zürich: bohem press.
Sekundärliteratur
Abraham, Ulf & Kupfer-Schreiner, Claudia (Hrsg.) (2007). Schreibaufgaben. Für die Klassen 1 bis 4. Berlin: Cornelsen-Scriptor.
Abraham, Ulf (1998). Übergänge. Literatur, Sozialisation und literarisches Lernen. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Abraham, Ulf (2000). Übergänge. Wie Heranwachsende zu kompetenten LeserInnen werden. ide, Jg.24, H.2, 20–34.
Baurmann, Jürgen & Pohl, Thorsten (2011). Schreiben – Texte verfassen. In Albert Bremerich-Vos, Dietlinde Granzer, Ulrike Behrens & Olaf Köller (Hrsg.), Bildungsstandards für die Grundschule: Deutsch konkret. Aufgabenbeispiele, Unterrichtsanregungen, Fortbildungsideen (S. 75–103). Berlin: Cornelsen Scriptor, 3. Auflage.
Bohnsack, Ralf (2001). Dokumentarische Methode. Theorie und Praxis wissenssoziologischer Interpretation. In Theo Hug (Hrsg.), Wie kommt Wissenschaft zu Wissen? Band 3 (S. 326–345). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Bohnsack, Ralf (2003). Dokumentarische Methode und sozialwissenschaftliche Hermeneutik. In Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg.6, H.4, 550–570.
Bohnsack, Ralf (2011). Dokumentarische Methode. In Ralf Bohnsack, Winfried Marotzki & Michael Meuser (Hrsg.), Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung (S. 40–44). Opladen, Farmington Hills: Barbara Budrich, 3., durchges. Auflage.
Bohnsack, Ralf (2014). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. Opladen, Toronto: Barbara Budrich, 9., überarb. und erw. Auflage.
Bohnsack, Ralf; Fritzsche, Bettina & Wagner-Willi, Monika (Hrsg.) (2014). Dokumentarische Video- und Filminterpretation. Methodologie und Forschungspraxis. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich.
Bohnsack, Ralf; Hoffmann, Nora Friederike & Nentwig-Gesemann, Iris (Hrsg.) (2018). Typenbildung und Dokumentarische Methode. Forschungspraxis und methodologische Grundlagen. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich.
Bohnsack, Ralf; Michel, Burkard & Przyborski, Aglaja (Hrsg.) (2015). Dokumentarische Bildinterpretation. Methodologie und Forschungspraxis. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich.
Ette, Ottmar (2010). Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften. In