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und einengenden Vorschriften, die man bei der Herstellung einer Rede oder eines Textes zu beachten hätte. Die Schubladen und Schemata der rhetorischen Mittel und Techniken schienen die kreativen Einfälle eher abzuschrecken als aufzuwecken. Man braucht nur an die Rebellion des Sturm-und-Drang zu denken, als in einer antirhetorischen Kulturrevolution der traditionelle lateinische Rhetorikunterricht kulturpatriotisch abgewertet wurde, und zwar unter Berufung auf Natürlichkeit und Originalität (wie man dies in der gefälschten Ursprünglichkeit des Ossian zu erkennen glaubte). Dass der damals als naturwüchsiger Barde gepriesene Shakespeare schon bald als Rhetorikexperte entdeckt wurde, zeigt jedoch, dass Rhetorik und Originalität keine Gegenbegriffe sind. Die kurze antirhetorische Rebellion des 18. Jahrhunderts beruhte auf einem gravierenden Missverständnis. Man deutete das rhetorische System als einengendes System von Vorschriften, woran in vielen Fällen die Drill-Methoden des damaligen lateinischen Rhetorikunterrichts schuld gewesen sein könnten. Fragen wir also, wo im Rahmen der gegenwärtigen Rhetorik die damals geforderte ‚Originalität‘ bzw. die heute erforderliche ‚Kreativität‘ angesiedelt sein könnte, wobei es uns letztlich um die spezifische Kreativität beim Literaturübersetzen geht. Wo liegen die Möglichkeiten der Übersetzer‚ ‚Innovatives‘, ‚Neues‘, ‚Kreatives‘ zu produzieren?7

      2 Rhetorische Textproduktion und Kreativität

      Die Rhetorik ist vor allem ein System von Textproduktions-Möglichkeiten. Dass die Rhetorik Türe und Wege nicht verschließt, sondern Spielräume öffnet und offeriert, sieht man am leichtesten bei der Lehre von den fünf Stufen der Redeherstellung: inventio, dispositio, elocutio, memoria, actio/pronuntiatio. Auf jeder Stufe sind spezifische Möglichkeiten für Kreativität (im Sinne der Herstellung von ‚Neuem‘) gegeben. Freilich ist zu beachten, dass diese ‚Stufen‘ keineswegs dem zeitlichen Verlauf des Textproduktionsprozesses entsprechen müssen. Es sind vielmehr didaktisch-analytische Abstraktionen, die das ‚Bauen‘ eines Textes als räumliches Modell darstellen, das für den Textproduzenten in jedem Augenblick die Gleichzeitigkeit eines flexiblen Bauplans hat. Die tatsächliche zeitliche Ausarbeitung wird dem räumlichen Nacheinander niemals genau entsprechen, wie jeder erlebt, der einen wissenschaftlichen oder literarischen Text produziert. Selbst bei der Herstellung von Kriminalromanen weiß der Autor oft erst nach dem Schreiben mehrerer Kapitel, wem er das Verbrechen letzten Endes anlasten soll.1 Obwohl Vorüberlegungen über das Speichermedium und die geplante Performanz (Stufen 4 und 5) schon auf den ersten drei Stufen der Produktion eine enorme Rolle spielen können (z. B. bei Fragen wie: Vers oder Prosa, episch oder dramatisch, mono- oder dialogisch usw.), gehe ich bei der Suche nach den Spielräumen der Kreativität jetzt nur die ersten drei Stufen etwas genauer durch.

      2.1 Inventio

      Bei der ‚kreativen‘ (Er-)Findung des Stoffes entsteht ein neuer Plot mit neuen Figuren und neuen Situationen. Die Suchformeln der Rhetorik können als Aufforderungen zur kreativen Erfindung benutzt werden. Denn man braucht ja die Fragen „quis“ oder „quid“ usw. nur auf die eigene Person oder Gegenwart oder auf eine Zeitungsmeldung zu beziehen1 – und schon hat man den ersten Schritt zur Erfindung nie zuvor literarisierter Personen und Ereignisse getan. Beispiele für besonders neue und folgenreiche Plots sind etwa Goethes Werther oder Wedekinds Frühlings Erwachen. Dass sich Werther aus Liebe ausgerechnet an Weihnachten (dem Fest der Liebe) selbst tötet, war eine ungeheure literarische Tat – etwas radikal Neues, wozu Goethe anscheinend durch den Selbstmord eines juristischen Kollegen und seine eigene Liebe zu Lotte, deren Namen er sogar unverschlüsselt stehenließ, angeregt wurde. Wedekinds Frühlings Erwachen präsentierte sexuell erwachende Kinder als Opfer einer verknöcherten Gesellschaft, was als schockierend empfunden wurde; auch Wedekind verarbeitete unter anderem einen Selbstmord aus seiner Schulzeit.

      Die (Er-)Findung einer Geschichte, von Figuren und Situationen gehört zweifellos zum kreativen Kerngeschäft der Schriftsteller. Wer Literatur produzieren will, muss in einem ganz einfachen Sinn etwas Neues zu bieten haben, auch wenn das Muster der Fabel (Ödipus, Odyssee usw.) als Palimpsest mehr oder weniger deutlich erkennbar ist.2 Dass dabei selbst in der radikalsten Innovation immer auch Konventionelles und Traditionelles beibehalten und weitergegeben wird, ist selbstverständlich. Nicht alles kann neu sein, sondern nur bestimmte Züge des Werkes. Goethes Werther bleibt im konventionellen Rahmen des Briefromans; ebenso bleibt Wedekinds Kinder-Tragödie in mancherlei Hinsicht ein konventionell gebautes Drama. Man darf behaupten, dass man vom typischen Schriftsteller Innovatives auf der Ebene der inventio (Thematik, Plot, Raum, Zeit, Personen) erwartet. Vom typischen Übersetzer dagegen nicht. Das unterscheidet ihn vom Schriftsteller und vom Bearbeiter. Der Übersetzer braucht auch – trotz aller Empathie – nicht die Konflikte und Strapazen zu erleiden, die den biografischen Hinter- oder Untergrund vieler literarischer Werke bilden. Der Autor ‚übersetzt‘ Erlebtes und Erfundenes in Sprache, der Übersetzer übersetzt Gelesenes einfühlsam in eine andere Sprache.

      2.2 Dispositio

      Als kreativ würde man hier die Innovation der üblichen Gliederung/Struktur/Reihenfolge bezeichnen. Die erwartbare zeitliche Abfolge eines Genres oder eines Texttyps wird vom ‚kreativen‘ Innovator nicht befolgt, sondern die Reihenfolge wird auf überraschende Weise neu gestaltet. Ein gutes Beispiel für dispositorische Innovation ist Laurence Sternes Tristram Shandy. Der Ich-Erzähler ist als sympathischer, exzentrisch zerstreuter Plauderer angelegt, der die Reihenfolge der Zeit willkürlich und unwillkürlich durcheinanderwirbelt. Er schreibt angeblich eine Autobiografie, die aber nicht einmal über die früheste Kindheit des Helden hinauskommt. Oder Goethes Roman Wahlverwandtschaften: eine chemische Formel, über die am Anfang gesprochen wird, wird zum geheimen Bauplan der Schicksale der beteiligten Personen. Man kann auch hier getrost verallgemeinern: zur typischen literarischen Kreativität kann auch ein gewisses Maß an Innovation auf der Ebene der dispositio gehören. Vom typischen Übersetzer dagegen erwartet man die lineare Einhaltung der Reihenfolge des Originals. Auch darin unterscheidet er sich vom Schriftsteller und vom Bearbeiter.

      2.3 Elocutio

      Kreativität wird hier gesehen als Innovation der Sprech- oder Erzählweise. Dies ist wohl die wichtigste Baustelle der schriftstellerischen Kreativität. Erst durch die stilistisch gute oder innovative Schreibweise wird der Plot und seine jeweilige Struktur zu einem starken Text. Der eigene, womöglich unverwechselbare Stil ist nicht nur eine der Besonderheiten der großen Schriftsteller, sondern auch das Wunschziel aller literarisch Schreibenden. Dieser eigene Ton des Erzählers oder die präzise herausgearbeiteten Stimmen der Roman- oder Dramen-Figuren sind die Synthese des gesamten kreativen Schreibprozesses, weil hier auch schon die letzte Stufe des rhetorischen Produktionsprozesses – die actio und pronuntiatio des Lesens – möglichst vorauskalkuliert wird.1 Auf dieser Stufe der Ausarbeitung wird die eigentliche literarische Arbeit geleistet. Ein Plot ist relativ leicht zu finden; kann doch bereits ein aufwühlendes Ereignis oder eine Zeitungsnachricht die wichtigsten Anhaltspunkte liefern (wie oben bei Goethe, Wedekind, Dörrie angemerkt). Die Innovation der genretypischen Gliederung kommt vermutlich seltener vor, da die Gattungen hier oft recht starre Muster vorschreiben. Am schwersten ist es sicher, auf der synthetischen Stufe der elocutio den Erzähler oder die Figuren lebendig und unverwechselbar, d. h. auf dem literarischen Markt als neu erscheinen zu lassen, wie man aus Stoßseufzern von Schriftstellern weiß (siehe z. B. „nerve-wracking“ in Fußnote 8). Die Mühsal des Formulierens ist die Stufe, wo sich der eigentliche kreative Anspruch des Schriftstellers bewähren muss. Und hier ist auch die Stufe erreicht, wo man von übersetzerischer Kreativität sprechen kann, darf oder gar muss.

      Dagegen lassen sich mindestens zwei Einwände erheben. Einmal ist jede Übersetzung in einem trivial-materiellen Sinn ein neues Produkt, und absolut jeder Übersetzungsvorgang ist ein Beweis für die sprachliche Kreativität des Menschen.2 Ich bezweifle aber, dass man schon für jede sprachliche Transferleistung den Begriff ‚kreativ’ als positives Qualitätsmerkmal (als Werturteil im Sinne von gut/originell usw.) verwenden sollte, weil der Begriff damit auch auf banalste Routineformeln zuträfe, z. B. auf die Ersetzung von „Bonjour“

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