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(!) eine Reihe von Änderungen durch, die Wollschlägers intimes Verständnis der sprechenden Figuren beweisen. Eine Notiz Novalis’ von Ende 1797 könnte als hermeneutisch-rhetorisches Motto guten/kreativen Literaturübersetzens von Schlegel bis heute gelten: „Nur dann zeig ich, daß ich einen Schriftsteller verstanden habe, wenn ich in seinem Geiste handeln kann, wenn ich ihn, ohne seine Individualitaet zu schmälern, übersetzen, und mannichfach verändern kann“ (Novalis 1976: 189).15

      4 Nachahmung als hermeneutischer Zwang zu rhetorischer Kreativität

      Inwiefern kann man im relativ engen Spielraum der elocutio bzw. der „schriftlichen Stimme“ von übersetzerischer Kreativität sprechen? Der Übersetzer hat zum einen nur das Spielfeld der elocutio, zum andern ist er aber gezwungen, in seiner eigenen Sprache eine performative Ähnlichkeit zu erzeugen. Rhetorische Ähnlichkeit bedeutet, dass man versucht, die dem Text suggestiv eingeschriebene Performanz in der anderen Sprache erneut zum Leben zu erwecken. Der berufliche Zwang zur approximativen rhetorischen Ähnlichkeit ist gleichzeitig ein Zwang zur sprachlichen Kreativität, weil die Sprachen, Kulturen, Figuren, Räume und Zeiten nun einmal weit auseinanderklaffen, worüber endlos räsoniert werden könnte. Um die zahlreichen Widerstände (Kohlmayer 2010a: 149f.; 2012: 131–138, 143f.) optimal zu überwinden, muss man sich sehr viel einfallen lassen. Literaturübersetzen ist ein ständiges Ausprobieren von Möglichkeiten im Rahmen von erzähler- oder figurensprachlichen Grenzen und Gegebenheiten.

      Der Übersetzer muss zunächst einmal die performative Gestaltung des Originals – „die schriftliche Stimme“ – erkennen, was ihm nur gelingt, wenn er den Hintergrund der Sprechweise möglichst deutlich durchschaut. Dies ist eine genuin hermeneutische Aufgabe; und die nötige Recherche bzw. das daraus resultierende Verständnis geht weit über das Spielfeld der elocutio hinaus und betrifft nicht nur den Bereich des Plots und der Figuren und ihrer Beziehungen, sondern den gesamten zeitlichen, sozialen und psychologischen Hintergrund des literarischen Textes. Es kommt zu Verstehens-Fragen wie: welche historische Gegebenheit, welcher soziale Status, welche Mentalität, welche Ideologie, welche Intelligenz, welche charakterliche Haltung, welches Selbstbild, welche Gefühlsregung, welche Einstellung zum Partner oder Leser usw. steckt hinter dieser Sprechweise? Mit diesen hermeneutischen Fragen, die das genaue Verständnis eines Wortes oder einer Passage mit der ganzen Welt eines Romans oder Dramas verknüpfen, begibt sich der Literaturübersetzer als recherchierender Leser eventuell auf einen sehr weiten Weg des Verständnisses. Frank Günthers ausführliche Kommentare zu seinen Shakespeare-Übersetzungen, Elisabeth Edls Kommentare zu ihrer Madame Bovary-Übersetzung (Hanser-Verlag 2012) zeigen die enorme Verstehensarbeit von literarischen Spitzenkräften, was aber von vielen weniger prominenten Literaturübersetzern ebenfalls geleistet wird, aber oft unerwähnt bleibt oder zu einem kurzen Nachwort zusammenschnurren muss. Für Literaturübersetzer gibt es im Grunde keine Grenze des Verstehens. Ein inhärentes ‚Problem‘ der Hermeneutik besteht nun einmal darin, dass hinter jedem Aha-Erlebnis neue Fragen und Hinterfragungen lauern. Wenn man beim Lesen einmal mit dem Befragen und Hinterfragen des Originals begonnen hat, wo soll man mit der Recherche aufhören? Das immer tiefere philologische oder gar philosophische Eintauchen in die Welt des Originals kann geradezu verhindern, dass eine literarische oder philosophische Übersetzung tatsächlich am Sprachufer gegenwärtiger Verständlichkeit landet, wie man bei Wilhelm von Humboldt und Schleiermacher oft genug sehen und hören kann (Kohlmayer 2015b: 119–121). Ich vermute, dass sowohl das Fehlen des mimetischen (künstlerischen) Einfühlungsvermögens, von dem Novalis spricht (siehe Fußnote 28), als auch der Überschuss des rein philosophisch-philologisch motivierten hermeneutischen Interesses zu einer erheblichen übersetzerisch-rhetorischen Lähmung und zu frustrierenden Unübersetzbarkeitserfahrungen führen kann.

      Dennoch würde ich den hermeneutischen Explorationen von Schleiermachers Vorworten bis zu Frank Günthers Kommentaren keine spezifische Kreativiät (‚originell/kreativ recherchiert‘?) zubilligen. Die intelligente Suche nach Quellen und Dokumenten und nach hintergründigen Zusammenhängen ist, im Gegensatz zu den Suchbewegungen der Naturwissenschaft, weniger abhängig von technisch-kreativem Erfindungsgeist und raffinierten Entdeckungs-Methoden: Es ist normale Routineforschung, auch wenn das eigene Denken dadurch schöpferisch angeregt werden kann, wie etwa Derrida durch seine Husserl-Übersetzung. Man kann beim Verstehenwollen Bedeutungen und Zusammenhänge entdecken, aber man kreiert sie nicht. Ich bin mir aber bewusst, dass man darüber streiten kann.1 In jedem Fall gibt aber das hermeneutisch recherchierte Wissen ein Niveau vor, das dann beim Übersetzen in die Muttersprache nicht leichtfertig unterschritten werden kann. Das ausgangssprachlich angesammelte Wissen ist eine Art hermeneutisches Gewissen des Übersetzers. Noch genauer auf den Punkt gebracht: die Hermeneutik übt einen permanenten Druck aus, beim Übersetzen kreative rhetorische Lösungen zu finden, weil das hermeneutische Wissen das rhetorische Können herausfordert.

      Die eigentlich kreative Arbeit des literarischen Übersetzers beginnt (meiner Meinung nach) erst bei der zielsprachlichen Neuformulierung – also bei der neuerlichen Stimmgebung. Und hier empfiehlt die rhetorische Tradition als Maßstab, Spielraum und Grenze der Kreativität seit Herder die Nachahmung der poetischen oder rhetorischen Form der Vorlage. Literarische Übersetzer haben dafür verschiedene Metaphern gewählt, die aber meistens dieselbe Art des mimetischen Engagements bezeichnen.2 Die Suche nach der mimetischen Entsprechung hat gewisse Ähnlichkeiten mit der Arbeit des Schauspielers, wenn er nach einer Möglichkeit sucht, einen Text stimmlich, gestisch, kinetisch optimal lebendig werden zu lassen.3 Das kontrollierende laute Lesen ist für den Übersetzer der ultimative Test, ob die neue „Stimme“ die angestrebte Originalnähe und ästhetische Qualität erreicht.

      Wenn auch die subjektiv vernommene und reproduzierte „schriftliche Stimme“ als Kompassnadel oder Navigationsgerät des literarischen Übersetzers gelten kann, so bleibt die ständige Suche nach Aufhebung der sprachlichen und kulturellen Unterschiede dennoch eine außerordentlich vielfältige und schwierige Aufgabe. Die Übertragung von Wortspielen (vgl. Heibert 2015), von Dialekten (vgl. Kopetzki 2015: 81–84) und Soziolekten, von fremdsprachlichen Einsprengseln (vgl. Wright 2016: 136–156), von Komik (vgl. Kohlmayer 1996) usw. usf. gehören zu den vielen kreativen Routineaufgaben (!) von Literaturübersetzern, die immer nur in Kohärenz mit den schriftlichen Stimmprofilen der Erzähler- oder Figurensprache gelöst werden können. Eine zukünftige Poetik des Literaturübersetzens hätte u. a. die Aufgabe, die guten Lösungen bedeutender Übersetzer zu sammeln und zu analysieren. Ich will hier keinen Versuch einer solchen gewaltigen und höchst nützlichen Arbeit unternehmen, sondern zum Schluss nur noch ein weiteres praktisches Beispiel vorlegen, um zu zeigen, wie ein sprachmimischer Künstler ein schwieriges soziolektales Übersetzungsproblem kohärent gelöst hat.

      Robert Gover veröffentlichte 1961 den Roman One Hundred Dollar Misunderstanding, der 1965 von Hans Wollschläger als Ein Hundertdollar Missverständnis ins Deutsche übersetzt wurde. In Govers Roman sprechen ein neunzehnjähriger amerikanischer College-Student aus bestem Haus und eine vierzehnjährige schwarze Prostituierte monologisch über das Missverständnis ihres Zusammentreffens, und zwar kapitelweise abwechselnd, sodass der Leser das pikante Ereignis zeitlupenhaft und aus doppelter sprachlicher Perspektive zu hören bekommt. Die Herausforderung für den deutschen Übersetzer bestand in der kohärenten Wiedergabe der kontrastierenden Stimmen und gegensätzlichen Welten des Romans. Der reichlich weltfremde Schnösel, ein Muster an sozialer Arroganz, beginnt das erste Kapitel so:

      Immediately, right off the bat, without further ado, here and now, I wish to say that much of what happened to me that fateful weekend is completely unprintable, since it happened with a lady (colored) of ill repute. So all pornography-seekers are warned to seek elsewhere. I wish to make that point quite clear before proceeding further. (Gover 2005: 23)

      Dieser Sprachduktus setzt einer analogen Wiedergabe im Deutschen keinen besonderen Widerstand entgegen; er ist gekennzeichnet durch elaborierte, tautologische Sprache, durch Bildungs- und Oberschichtwortschatz, durch emphatische Zurückweisung jeder Kritik an der eigenen Person und puritanisch-snobistische Distanzierung von der Welt der schwarzen Prostituierten, die ja am anderen, nämlich unteren Ende der Gesellschaft lebt. Wollschläger setzt die entsprechenden soziolingualen und rhetorischen

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