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Dabei darf er sich allerdings nicht genau an seine Vorlage halten, wie ein gewissenhafter Übersetzer, und auch als Nachahmer darf er keine Scheu vor eigenwilligen Abweichungen zeigen.

      4 Rückblick und Ausblick

      Kehren wir nochmals zu Todorovs seconde rhétorique zurück, die eng mit dem Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit verbunden ist. Unser Jubilar hat sich Gedanken dazu gemacht. Er stellt einen Bezug zur Übersetzung her, der bisher noch nicht behandelt wurde:

      Die rhetorische Leistung der öffentlichen Rede erfährt durch ihre schriftliche Ausformulierung eine weitere künstlerische Verarbeitung, der die Intention zugrunde liegen dürfte, mit den Mitteln der Schrift die mündliche Wirkung zu evozieren und sogar zu erhöhen. Diese doppelte Steigerung des Künstlerischen stellt den translatorischen Prozess vor besondere Zwänge, die vornehmlich mit der Wiedergabe ausgefeilter rhetorischer Mittel in einer anderen Sprachkultur zu tun haben. Insbesondere interessiert also die Frage, welche sprachlichen Kunstgriffe sich eher übertragen lassen, weil sie als allgemein rhetorisch einzustufen sind, und welche translatorische Barrieren bilden, die es zu überwinden gilt. (Gil 2012: 153f.)

      Hier geht es weder um die Übersetzung im Dienste der Rhetorik noch um die Rhetorik als Lehrmeisterin der Übersetzung, sondern um den rhetorisch ausgefeilten Text als Gegenstand der Übersetzung, als Übersetzungsproblem. Alberto Gil interessiert sich weniger für die Fälle, in denen aufgrund einer langen gemeinsamen Tradition unter dem Dach der Latinität zumindest in den meisten europäischen Sprachen Äquivalente gewissermaßen gebrauchsfertig zur Hand sind, sondern für diejenigen, in denen „translatorische Barrieren“ auf einer höheren Ebene der Äquivalenz als der rein sprachlich-textlichen zu überwinden sind. Dieser Frage kann hier nicht weiter nachgegangen werden; sie gibt jedoch Anlass, zum Beginn dieses kurzen Beitrags zurückzufinden.

      In dem Moment, in dem die Rhetorik Gegenstand der Übersetzung wird, ist sie endgültig in der Poetik aufgegangen und zur Stilistik mutiert. Der Verfasser des Romans, der die Einleitung ins Thema geliefert hat, trägt diesem Umstand spielerisch Rechnung, vermutlich ohne damit eine gezielte Absicht zu verfolgen. Die „erste Rhetorik“, bei der es tatsächlich um etwas geht, bei der die Rede in erster Linie überzeugend zu sein hat, spielt dort eine große Rolle, aber nur noch als eine Art von Spiel, genauer, eine Art von sadistischem Gesellschaftsspiel. In einem geheimnisvollen Logos Club, der ähnlich wie die Freimaurerlogen über ganz Europa verteilt ist, disputieren zwei Kontrahenten über ein vorgegebenes Thema. Dabei geht es unter anderem auch, im Rahmen von Platons Schriftkritik, um Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit (cf. Binet 2015: 195–200). Der Gewinner erntet Ruhm und Ansehen, der Unterlegene verliert augenblicklich coram publico einen Finger. Nur dem, der es wagt, gegen den Grand Protagoras anzutreten, hinter dessen venezianischer Maske sich kein Geringerer als Umberto Eco verbirgt, und der dabei den Kürzeren zieht, nur dem widerfährt Schlimmeres: „Alors là, c’est plus cher“ bemerkt ein Eingeweihter sarkastisch (cf. Binet 2015: 439).

      Alberto Gil hätte im Logos Club sicherlich eine glänzende Figur abgegeben und wäre mühelos als Nachfolger Ecos in den Rang des Grand Protagoras aufgestiegen; doch dürfen wir alle froh darüber sein, dass er sich längst von der agonalen Kunst der Überredung ab- und der friedlichen Kunst des Verstehens zugewandt hat. Wer in seinen zahlreichen Arbeiten blättert wird feststellen, dass es da noch viel weiterzuführen und auszuarbeiten gibt.

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      Schneiders,

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